König Mavi

Er weiss, wie es ist, als Frau durch diese Welt zu gehen – weil er es selber erlebt hat. Mit seinem Debütalbum hat sich der Wiener Rapper Mavi Phoenix eine neue Geschlechts­identität geschaffen. Bühne frei für Do-it-yourself mit Hit-Appeal.

Von Timo Posselt, 02.04.2020

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Revoluzzer in der Musikbranche: Mavi Phoenix. Elizaveta Porodina

Der liebe Gott hat einen Fehler gemacht: Naders erster Transgender-Gedanke stammt aus der frühesten Kindheit. Das Kind stellt sich vor: Es klingelt das Telefon. Gott ist am Apparat und erklärt den Eltern: «Da ist ein Fehler unterlaufen. Marlene ist eigentlich ein Junge.»

Aber Gott ruft nicht an.

Und so bleibt es bei der Geschlechts­zuweisung der Ärzte und der Namensgebung der Eltern, die ihr Kind Marlene nannten. Doch wenn Marlene die Augen schliesst und an sich selbst denkt, zeigt dieses Bild einen Buben. Marlon.

Marlon wächst im Körper eines Mädchens in Linz auf, geht in den englischsprachigen Kindergarten und die Volksschule. Die syrischen Wurzeln verstärken das Gefühl, nicht dazuzugehören. Marlon singt mit der alleinerziehenden Mutter Songs aus Disney-Musicals. An den Wochenenden reist Marlon zum Vater nach Wien, der dort ein Medien­unternehmen führt. Die Musik auf den Fahrten: Jonas Brothers, Rage Against the Machine, Queens of the Stone Age, Snoop Dogg und N.E.R.D., die Band von Pharrell Williams. Marlon rappt, singt mit und stellt sich vor, der Sänger zu sein.

Bis Marlon auffällt: Das sind alles Songs von Männern. Marlon versucht es mit Liedern von Künstlerinnen, aber sie passen nicht. «In der Musik verschwand ich in meiner eigenen Welt», sagt Marlon heute: «Da war ich ein junger Mann.» In der Kindheit war Musik Marlons Fluchtort, schnell war er süchtig nach ihr.

Teenie-Idol und Neuanfang

Als er elf Jahre alt ist, schenkt ihm der Vater einen Laptop zu Weihnachten. Statt zu zocken, tüftelt Marlon im Musik­programm Garageband an den ersten Tracks. Mit dreizehn veröffentlicht er sie auf der Musik­plattform Myspace. Künstlername: Mavi Phoenix. Es ist eine Hommage an den verstorbenen Schauspieler und das Teenie-Idol River Phoenix. Von nun an trägt Marlon den Neuanfang im Namen. Heute sagt er rückblickend:

«Ich glaube, ich habe Mavi Phoenix erschaffen, um Marlene zu entkommen.»

Noch im Gymnasium träumt Mavi Phoenix von einer Welttournee, einem Grammy und einem MTV-Award, wie ihn später sein Idol bekam, der Rapper «Tyler, the Creator». Alles ist möglich, denkt Marlon 2014 und schickt die erste EP «My Fault» an unzählige österreichische Medien. Dann passiert: nichts. Vorerst. Bis 2015 Maurice Ernst von Bilderbuch anruft. Marlon paukt gerade für die Matura-Prüfungen, als ihn der Sänger der österreichischen Popband als Gastrapper einladen will. Für ein Konzert am selben Abend. Vier Stunden vorm Auftritt.

Mavi sagt zu. Hinterher sind beide beeindruckt: Bilderbuch von Mavis Mut, Mavi vom Vertrauen der Band in ihn als Künstler. 2016 nimmt ihn die Band mit auf Tour. Inzwischen läuft sein Song «Quiet» im landesweiten Alternativ­radio FM4 rauf und runter: Downtempo-Beat, wattierte Lässigkeit und die vielfarbige Stimme von Phoenix gegen den Krach der Welt. Selbst das einflussreiche amerikanische Musikmagazin «The Fader» wird hellhörig und porträtiert ihn samt seinem Video «Love Longtime».

Darin lümmelt Mavi Phoenix mit dem Selfiestick in einem Hotelzimmer voller kitschigen Pomps. Ein tollpatschiges Piano-Sample irrt im Kreis, und Mavis Stimme schmachtet von der grossen Liebe – und zwar mithilfe der Software Auto-Tune, die Ende der 90er-Jahre entwickelt wurde, um Tonhöhen von Stimmen zu justieren. Auto-Tune zielte auf Diskretion, überzieht heute jedoch fast alle Popproduktionen mit ihrer perfekten Künstlichkeit: vom dezenten Gebrauch in Patent Ochsners «Für immer uf di» bis zur mutwilligen Übersteuerung in «Apeshit» von Beyoncé und Jay-Z.

Ich bin da! Dreharbeiten für das Video zu «Boys Toys» vom gleichnamigen Debütalbum. Elizaveta Porodina

Auch Mavi Phoenix zielt in «Love Longtime» auf den Verfremdungs­effekt der Software: Die Intimität des Selfie-Videos kontrastiert er mit einem scheppernden Auto-Tune-Refrain. In dieser Spannung zwischen Intimität und Verschrobenheit stehen die Songs von Mavi Phoenix immer wieder. «Erst wenn ein Song weird ist», sagt er, «fühlt er sich richtig an.» Denn weirdness bedeutet künstlerische Eigenständigkeit. Das eint Mavi Phoenix mit einer Welle junger Musikerinnen, die gerade in einem anderen Genre eine kleine Revolution in der Musikbranche losgetreten haben.

Der Hype aus dem Schlafzimmer

Sie heissen Clairo, Beabadoobee und Girl in Red, produzieren ihre Songs am eigenen Laptop und speisen sie auf Plattformen wie Bandcamp, Soundcloud oder Youtube. «Underground Bedroom Pop» wird dieses melodisch-verspielte Genre inzwischen genannt und markiert eine fundamentale Umwälzung im Markt: Ohne Studio­equipment, ohne Labelvertrag, ohne Radio-Airplay werden Songs zu Hits, die kurzweilig, eigenartig und intim Sexualität, Herzschmerz und Depressionen besingen. Auch Mavi Phoenix komponiert seine Songs am Laptop. Ein Instrument spielt er nicht, ausser dilettantisch Gitarre. Aber seit Beginn seiner Karriere schreibt er jeden Song selbst.

Was dabei entsteht, widerstrebt einer Einordnung in die Kategorien R’n’B, Crossover und Hip-Hop. Mavis Musik ist do it yourself mit Hit-Appeal, eingängig und verschroben. Die 90er-Jahre sind sein künstlerisches All-you-can-eat-Buffet, selbst erlebt hat er sie nur als Kleinkind. Das zeigt das Video «Fck It Up» von seinem Debütalbum: Gameboy, Pokémon-Karten, Spielzeug-Ferrari. Phoenix inszeniert sich inmitten der Warenwelt seiner Kindheit und besingt zu Eurotrash-Hupen und Kaugummi-Beat gleichzeitig die Emanzipation davon.

I see your eyes all over me
’cause I am not who I should be
I wanna be ugly
Not your PYT.

Aus: Mavi Phoenix, «Fck It Up».

PYT: Pretty Young Thing. Mit dem Outing als Trans-Mann widersetzt sich Mavi Phoenix den früheren Zuschreibungen als Frau, als Mädchen, von dem man – der Klassiker – vor allem erwartete, hübsch zu sein.

Natürlich hat Mavi Phoenix Sexismus erlebt. Nun als Trans-Mann fällt es ihm jedoch leichter, darüber zu reden: «Ich bin Feminist und weiss, wie es ist, als Frau durch diese Welt zu gehen, weil ich es selbst erlebt hab.» Die Diskriminierung endet nicht: Früher wollten Fotografen seinen Frauenkörper ablichten. Heute wenden sich die Bühnen­techniker immer noch selbstverständlich statt an ihn an andere Männer in seinem Tour-Tross. Gegen den Machismus der Branche lernte Mavi Phoenix, sich als Frau zu wehren. In seinem nun erscheinenden Debütalbum «Boys Toys» thematisiert er seine Transition.

Musik mit Widersprüchen

Gurgelndes Sample, antreibender U-Boot-Bass und die verstrahlte Stimme von Mavi Phoenix: Schon im ersten Song «Boys Toys» singt sich Mavi von der Rap-Szene frei. Darin ist er ein Aussenseiter, aber sein Erfolg macht ihn zum besungenen «Babysitter» für die jungen Künstlerinnen: Alle wollen seinen Segen. Ambivalent ist auch der zweite Song des Albums: «12 Inches». Darin pumpt sich Mavi mit den sogenannten «Flex-Lines» toxischer Rap-Männlichkeit auf: Schwanzlängen-Vergleich, Ich-ficke-deine-Mutter-Gebrabbel und sedativer Schwergewichts­beat.

Als Mavi Phoenix auf Instagram «I’m a trans guy» schrieb, bekam er Tausende Likes – und verlor 500 Follower. Elizaveta Porodina

Mavi sagt: «Es war sehr befremdend, diese Zeilen zu schreiben.» Und er schäme sich nicht dafür: «Das bin halt einfach ich.»

Doch macht es sich Mavi hier nicht zu einfach? Wenn er sich am sexistischen Rap-Esperanto bedient, ist das zwar subversiv, weil er es tut. Sexistisch bleibt es dennoch.

Das Widersprüchliche steht auf «Boys Toys» auch musikalisch nebeneinander: Da ist der Break-Beat der Party-Hymne «Choose Your Fighter». Und dann das zerbrechliche «Family» mit der akustischen Gitarre. Ein Song, mit dem Mavi nach der Ablösung vom Elternhaus schon mal die Planung der eigenen Regenbogen­familie verkündet.

Mit dem Song «Bullet in My Heart» machte Mavi letztes Jahr seine Geschlechts­identität öffentlich. Der Beat schlafwandelt gedämpft ins Kummerland, und Mavi Phoenix stellt mit weitschweifiger Stimme unbeantwortbare Fragen: Wohin gehst du, an wen wendest du dich, wenn ich fort bin? Bis in der Mitte des Tracks der Himmel aufreisst: doppeltes Tempo, weniger Todes­sehnsucht. Mavi will nicht mehr sterben, wie schwer es war, können wir immer noch erahnen. Im Video dazu sitzt er rappend auf einer Veranda und erklärt in schlichten Schrifttafeln den Fans seine Identität als Trans-Mann.

Diesen Januar schrieb Mavi auf Instagram: «I’m a trans guy», und erntete Tausende Likes, Hunderte Herzen. Gleichzeitig verlor er 500 Follower. Wenn er erst mal mit der Hormon­therapie beginne, werden weitere folgen, glaubt er. Einer der Online-Kommentare lautete: «Ob Marlene oder Marlon, Mensch ist Mensch.» Das klingt vielleicht tolerant. Aber für Mavi Phoenix hatte der Follower wenig verstanden.

«Für mich ist es überhaupt nicht egal, ob Marlene oder Marlon», sagt Mavi Phoenix. «Das ist alles, worum es geht.»