Betriebstemperatur – Folge 3

Wer hinter sich die Walliser Berge weiss, dem kann nicht viel passieren: Andy Abgottspon, Start-up-Gründer.

Nur noch kurz die Welt retten

Für Andy Abgottspon ist die Krise die Gelegenheit zum Durchbruch: Sein Start-up stellt Software für virtuellen Schulunterricht her. Andere Firmengründer haben weniger Glück. Folge 3 der Serie «Betriebstemperatur».

Von Ronja Beck (Text) und Yves Bachmann (Bilder), 08.06.2020

Wir sitzen vor unserem Schweineschnitzel auf der Terrasse im Restaurant Alpenblick in Gspon, die Sonne brennt auf die Stirn ein, wie sich später herausstellen wird, pulsierendes Rot, und Andy Abgottspon will einfach nicht aufhören zu reden.

Der junge Mann redet so viel, dass ich die Frage, mit der ich ihn dazu gebracht hatte, vergesse. So viel redet er, dass uns sein Geschäfts­führer Peter Metzger, der mit uns am Tisch sitzt, immer wieder den Kopf zudreht und mir ein Grinsen zeigt, das mir sagen soll: Was für ein Kerl, nicht? So viel redet der Andy Abgottspon, dass die kräftigen Berge des Oberwallis, die uns umarmen, sich langsam bewegen, so scheint es. Hin zu einem Ort, wo sie ihre Stille wieder für sich haben.

«Du wirst sicher schreiben: Er redet wie ein Wasserfall!», sagt Abgottspon später. Dieser Mann, das ist klar, weiss so einiges, und ja, auch das mit dem Reden ist ihm offenbar bewusst. Aber es ist nicht so, als hätte er nichts zu sagen, denn das hat er. Seit Corona mehr denn je. Wenn man kitschig sein will, dann will er mit dem, was er sagt und tut, in der Tat so etwas wie die Berge bewegen.

Konkret: eine jahrhunderte­alte Staats­institution digitalisieren.

Zur Serie Betriebstemperatur

Die Corona-Krise stellt die Wirtschaft auf den Kopf. Das ist auch eine Chance. Die Republik reist durch das Land und hört sich bei Unter­nehmen in verschiedenen Branchen um. Hier finden Sie die Übersicht aller Beiträge.

Das Erstaunliche an diesem Bild: Andy Abgottspon redet nicht.

Andy Abgottspon stellt eine Software her, die es Lehrerinnen ermöglicht, von zu Hause aus zu unterrichten. Er bietet ein virtuelles Klassen­zimmer an, sozusagen – und mit den Schul­schliessungen Mitte März ist die Nachfrage nach seinem Produkt explodiert. Für Abgottspons Geschäft war die Pandemie, man muss es so sagen, ein Gewinn. Auch das gehört zur Realität einer Krise: dass sie für manche die grosse Chance ist.

Also fahre ich ins Wallis, zu Abgottspon, einem Jung­unternehmer, der die Welt besser machen will, wie er sagt. Der den Trieb eines Tech-Evangelisten zeigt, dem es nicht schnell genug vorwärtsgehen kann. Während die meisten Start-ups zurzeit bestenfalls im Leer­lauf drehen.

Ich wollte von Andy Abgottspon wissen, wie man ein über Nacht aufgeblitztes Momentum nutzt. Und was zu tun ist, wenn es über Nacht wieder entwischt.

So, wie es sein sollte

Bevor wir nach Gspon in die Höhe fahren, sitzen wir im Tal in Visp. In einem beengten Einzimmer­büro beim Bahnhof, drei weisse Tische, ein paar Stühle, ein Bildschirm, ein abgewetztes Leder­sofa. Das Nötigste halt. «So ist das bei einem Start-up», sagt Abgottspon, der in England studiert, im Silicon Valley als Software-Ingenieur gearbeitet und sechsstellig verdient hat, in fröhlichem Walliser­dütsch. Die Haare sympathisch strubbelig, das Hemd geglättet, und auf der Brust prangt: Hazu, ausgesprochen «Hasu». Das ist der Name seiner Firma. Er lässt wenig Zweifel am Anspruch des Unternehmens: «Hazu» ist japanisch und bedeutet «so, wie es sein sollte».

Alles so schön bunt hier …
… Eintauchen in die Welt …
… von Andy Abgottspons totaler Vernetztheit.

Wie sollte es denn nun sein? Wir sitzen im Kreis vor einem PC-Bildschirm, Video­konferenz, und der elfjährige Gabriel zeigt es uns live aus seinem Kinder­zimmer. Der Schüler teilt seinen Bildschirm mit uns und klickt sich blitzschnell von Seite zu Seite. Plötzlich sind wir in einem Stunden­plan. Gabriels Schule nutzt Hazu seit Jahren. Andy Abgottspon gibt ihm für uns freundlich Anweisungen: «Geh doch mal auf deine Map, Gabriel.» Und eine Sonne tut sich auf, kleine farbige Felder, verbunden mit Strichen, eher ein ganzes Sonnen­system. Es sind Gabriels Schulfächer, visualisiert in einer Map. Jedes Feld führt auf eine neue Seite, und dieses wieder auf eine neue Seite. Auf ein spezifisches Projekt zum Beispiel, oder auf Gabriels Aufgaben für heute.

Ich fühle mich alt.

Hazu, gegründet 2016, ist eine Organisations­plattform, die das Beste der anderen kombinieren will. Whatsapp, Google Drive, Outlook, Skype – statt aufgesplittet in Dutzenden Apps und Programmen, alles vereint an einem Ort, bei Hazu. Aber es sind keine Google-Docs oder Word-Dokumente, sondern eben Hazus. Aber die eben flexibler sein sollen, fähig, sich an die individuellen Wünsche anzupassen, sagt Abgottspon, und grafisch aus einem Guss. Die Daten werden dabei in einem externen Speicher verstaut, in einer Schweizer Cloud.

Andy, ihr konkurrenziert mit milliarden­schweren Konzernen, die immens viel Geld und Ressourcen in ihre Programme stecken. Und ihr wollt es gleich gut machen?
Viel besser.

Viel besser! Das musst du jetzt erklären.
Die Dinge in deinem Kopf – der Fussball­verein oder die Arbeit – sind auf 15 verschiedene Inseln verteilt. Und jede Insel, dein Gmail, dein Whatsapp, bildet deine Welt nach ihrer Logik ab. Bei jedem Tool fängst du wieder bei null an. Das Problem bei Grössen wie Microsoft ist: Es gibt eine Milliarde Menschen, die den Umgang mit Office gelernt haben. Microsoft kann nicht von einem Tag auf den anderen mit einem komplett neuen Konzept aufkreuzen und seine Kunden zum Umdenken zwingen. Damit würde es sich selber kannibalisieren. Also haben wir heute moderne, digitale Programme, die aber auf der analogen Welt basieren und am Ende unser Leben nur komplexer machen. Hazu soll stattdessen dein Leben so abbilden, wie es ist. Das kann zuerst komplex erscheinen. Aber dann fliesst es.

Die Sprache von Start-up-Gründern, gerade aus der Tech-Ecke, ist selten von Bescheidenheit geprägt. Diese nackte Überzeugung, etwas zu können, eine ganze Branche, die Welt, am besten gleich noch den Planeten zu verändern, kann manchmal befremden. Doch wer jahrelang seine ganze Leidenschaft, seine Tage und Nächte, seine Ideen, sein Geld in ein Projekt steckt, der braucht das Feuer, um zu rennen.

Ein Zimmer reicht für grosse Ideen: Abgottspon mit Junior-Produktmanager David Zeiter im Büro in Visp.

Er braucht es auch, um Investoren davon zu überzeugen, gerade ihm ihr Geld anzuvertrauen statt hundert Konkurrenten. Von den drei Millionen Franken, die Abgottspon bisher reinholen konnte, stammt ein Drittel aus dem näheren Umfeld. Aus einer sogenannten F&F-Runde, die Investoren sind Freunde und Familie – nichts Ungewöhnliches im Säuglings­alter eines Start-ups. Zu weiteren zwei Millionen hat sich der Zermatter Unternehmer Mario Julen Ende letztes Jahr verpflichtet – gerade noch, bevor Corona kam.

Manches von dem, was Abgottspon erzählt, klingt nach klassischem Tech-Evangelismus. Er erklärt uns die Stufen der digitalen Transformation, die wir durchschreiten müssen, um wegzukommen von der einfachen Kopie der analogen Welt. Zum Beispiel Word, das Programm, das ein A4-Blatt kopierte, um unsere Welt einfacher zu machen – und sie am Ende eben oft: komplizierter wurde. Und genau so sollte es eben nicht sein, sagt Abgottspon.

Zur Debatte: Wie geht es Ihnen, wirtschaftlich gesehen?

Mussten Sie als Inhaberin ein Unter­nehmen durch diese Krisen­wochen steuern? Haben Sie Ihre Stelle verloren, mussten Sie umsatteln – ganz anders arbeiten als vorher? Was waren die grössten Hürden, die unerwarteten Lichtblicke? Wie erleben Sie die Arbeit der Behörden? Hilft der Staat, oder legt er Ihnen unnötige Steine in den Weg? Hier gehts zur Debatte.

Wenn die Katastrophe zur Jahrhundert­chance wird

Es ist schon nach 12 Uhr mittags, und wir verlassen Visp. Die Gondel schaukelt uns in die Höhe. Dort angekommen, essen wir erst im Alpenblick und steigen dann noch etwas höher. Die Chalets stechen wie dunkle Felsbrocken aus dem hellgrünen Gras. Auch das des Grossvaters. Abgottspon will uns zeigen, wie er die ersten Tage nach dem Lockdown verbracht hat.

Die Tage, auf die es ankam.

Fährt man von Visp Richtung Himmel …
… endet der Weg pfeilgrad in Gspon, wo Abgottspons Grossvater ein Chalet hat.

Als der Bundesrat am 13. März die Schulen schloss, wussten Abgottspon und Geschäfts­führer Metzger, dass sie handeln mussten. Jetzt.

Auf einen Schlag würden alle Schulen im Land, digital meist schwach auf der Brust und kaum vorbereitet, die Kinder von zu Hause unterrichten müssen. Das war für die Lehrer und Schul­leiterinnen eine mittelschwere Katastrophe – und für Hazu eine Jahrhundert­chance. Anpassungen der Software, die für den Sommer vorgesehen waren, mussten jetzt sofort geschehen. Also reisten sie nach Gspon, in das Chalet, das Abgottspons Grossvater einst gebaut hatte und lange als Hotel führte. «Im Dorf nannten sie ihn einen Träumer», sagt der Enkel. «Für mich war er ein Pionier.»

Im Chalet drin hängt die Decke tief, und die Möbel wiegen schwer. Ein Gefühl von langen Abenden in der wattigen Stille einer Bergwelt. Hier, auf engstem Raum, arbeiteten sie vier Tage durch: Abgottspon, Metzger, ein Produktmanager und seine Schwester, die normalerweise als Übersetzerin arbeitete und die Texte in Handbüchern und Newslettern zurechtschliff. «Wir haben den Lockdown nicht mal wirklich gespürt hier oben», sagt Abgottspon, der häufig hier ist. Ich zweifle keinen Moment.

Investor Mario Julen (Mitte) setzt auf das Projekt Hazu von Abgottspon und Geschäftsführer Peter Metzger (rechts).

Am Ende der vier Tage war das, was erst in Monaten vorgesehen war, fertig. Inklusive Tutorials.

«Am Freitag wurde der Lockdown ausgerufen. Am Montag, um 5 Uhr in der Früh, ging unser Newsletter an alle Schulen raus», sagt Geschäfts­führer Peter Metzger. «Und um 8 Uhr konnten die Klassen mit Hazu arbeiten.»

Für eine Klasse kostet die Lizenz 300 Franken im Jahr. Auch Unternehmen sollen die Software nutzen können. Für sie beginnt der Preis bei 3000 Franken im Jahr. Andy Abgottspon sagt, inzwischen hätten über 650 Klassen eine Hazu-Probelizenz beantragt. Vor der Krise sollen es ungefähr zwei Dutzend gewesen sein. Macht ein Wachstum um fast 3000 Prozent.

Das ist nicht nur dem Bundesrat zu verdanken. Sondern auch einer schlichten Marketing­strategie: Hazu stellt, wie das viele Techfirmen getan haben, die Software bis Sommer 2020 für Schulen gratis zur Verfügung. Die finanzielle Ausbeute ist momentan entsprechend gering. Doch die Pandemie beschert ihm einen Zulauf an potenziellen Neukunden, der nicht zu erwarten war. Damit gehört Abgottspons Start-up, zumindest kurzfristig, zu den Profiteuren der Pandemie.

Einem exklusiven Club.

Schon der Grossvater war ein Pionier: Abgottspon (rechts) mit Metzger auf dem Balkon des Chalets.

Viele Start-ups sind, gleich den etablierten Unternehmen, mit der Pandemie ins Schleudern geraten. Mit einer inzwischen öfters prognostizierten globalen Rezession verdunkeln sich, mit einigen Ausnahmen, die Erfolgs­chancen für junge Unternehmen. Dann wird für viele Kapitalgeber das Risiko für eine Investition zu gross – oder anders herum: die Chance auf einen Gewinn zu klein. Die Portemonnaies schnappen zu, wie in der Finanzkrise 2008, als das investierte Risiko­kapital in den USA um 47 Prozent in die Tiefe fiel. In der Schweiz sah es unwesentlich besser aus.

Und was droht den Start-ups heute? Genau lässt sich das erst zeitversetzt sagen. Das Schweizer Start-up-Förder­programm Venturelab hat vorsorglich bei Investoren den Finger an die Adern gehalten. Fast alle der 42 Befragten prognostizieren einen Wert­verlust für junge Start-ups in naher Zukunft – ein Absturz irgendwo zwischen 10 und 50 Prozent.

Wer die Finanzierungs­runde bereits letztes Jahr durchgebracht hat, wie Hazu, hat Glück gehabt. Für die Unglücklichen hat der Bundesrat Ende April Bürgschaften spezifisch für «innovative Start-ups» von insgesamt 154 Millionen Franken gesprochen. Wann ein Unternehmen innovativ ist, darüber haben die Kantone und ein Experten­gremium zu entscheiden. Die Bürgschaften, also von Bund und Kanton gedeckte Kredite, müssen jedoch zurückgezahlt werden. Sie sind nichts weiter als ein Ersatz­fallschirm gegen den sofortigen Absturz: die Insolvenz.

Und so schreiben die Analysten der Firma Pitchbook schon Mitte April in ihrem Report zum europäischen Kapitalmarkt: «Erfolgreiche Start-ups werden in den nächsten Monaten Finanzierungs­probleme erleben, die sie noch nie zuvor erlebt haben.»

Über Hazu sagt Abgottspon: «Es wird sich zeigen, wie die Welt in zehn Jahren aussehen wird. Aber wir sind überzeugt: Sie wird in unsere Richtung gehen.»

In den vergangenen Wochen sind die Schulen überall im Land wieder aufgegangen. Damit ist auch der Ausnahme­zustand zu Ende. Und vor der Bühne, die Hazu nutzen konnte, schliesst sich der Vorhang.

Andy, jetzt, wo die meisten Schulen wieder geöffnet haben, da muss die Nachfrage doch eingebrochen sein.
Wir haben nicht mehr so viele Klassen, die neu dazukommen, das ist so. Wenn du dir bisher keine neue Lösung zugelegt hast, dann wirst du das jetzt auch nicht mehr tun. Aber wir erwarten aufs neue Schuljahr hin eine zweite Welle an Interesse. Wenn wir und die Lehrerinnen im Sommer das Fazit ziehen. Und sehen, was Hazu für einen Unterschied gemacht hat.

Kunstschüsse auf Kunstrasen, und die Berge schweigen dazu: Julen, Abgottspon und Metzger (v. l.).

Später am Tag reist auch Haupt­investor Julen mit der Seilbahn an. Investor, Gründer und Geschäfts­führer wollen noch zusammen­sitzen, wenn Journalistin und Fotograf weg sind. Jetzt nehmen sie sich erst mal einen Fussball und steigen noch etwas höher, zu einem eingezäunten Stück Kunstrasen, das uns Abgottspon unbedingt zeigen wollte. Das Feld ist von einem meterhohen Zaun eingeschlagen. Ochshorn, Galehorn und Böshorn geben uns Rücken­deckung. Fussballplatz Alpenblick, sozusagen.

Für ein paar Pässe reicht die Zeit gerade noch, dann müssen wir los. Als wir mit der Seilbahn ins Tal fahren, winken uns die drei wild.

Und die Berge, schier unerschütterlich, sitzen noch da. Vorerst.

Betriebstemperatur

Folge 2

Bio­bau­ern­hof Schönboden

Sie lesen: Folge 3

Tech-Start-up Hazu

Folge 4

Restaurant Les Menteurs

Folge 5

Mode­geschäft «Thema Selection»