Chaostage in Willisau
Der Onlinehandel ist der grosse Corona-Profiteur. Doch was zu Beginn des Lockdown bei Brack.ch passierte, stimmt den Firmengründer Roland Brack nachdenklich. Folge 1 der Serie «Betriebstemperatur».
Von Philipp Albrecht (Text) und Yves Bachmann (Bilder), 12.05.2020
Wir stehen zu dritt am Förderband und starren in die offenen Päckli, die langsam an uns vorbeiziehen. Der Chef, der Fotograf, der Journalist. Es ist aufregend zu sehen, was die Leute bestellen. Wir malen uns die Empfängerinnen aus: 12 Dosen Energydrink und ein Ventilator für den Rechner? Computer-Nerd! 10 Packungen Proteinmüsli? Muskelfrau! Das hat etwas Entspannendes. Wir könnten stundenlang so weitermachen.
Wir wollen von Roland Brack wissen, was die Corona-Krise mit seinem Unternehmen macht; dem grössten unabhängigen Onlinehändler im Land. Schliesslich waren hier Anfang März noch 250 Leute im Ein-Schicht-Betrieb tätig. Inzwischen sind es 400, die in zwei Schichten schuften.
Zur Serie «Betriebstemperatur»
Die Corona-Krise stellt die Wirtschaft auf den Kopf. Das ist auch eine Chance. Die Republik reist durch das Land und hört sich bei Unternehmen in verschiedenen Branchen um. Hier finden Sie die Übersicht aller Beiträge.
Das Unternehmen heisst Competec und besteht aus fünf Firmen. Brack.ch ist die bekannteste davon und beliefert Privatkundinnen mit Laptops, Sportsocken, Windeln oder Salzstängeli. Die grössten Konkurrenten heissen Amazon, Digitec, Galaxus und Microspot. Mit Ausnahme von Amazon sind die Mitstreiter gleichzeitig Kunden: Weil sie in ihren Lagern nicht genug Platz haben, bestellen sie Ware abseits der Bestsellerliste jeweils bei der Competec-Gruppe in Willisau.
Roland Brack (47) ist Gründer, Besitzer und Verwaltungsratspräsident der Competec-Gruppe. Das Handels- und Logistikunternehmen mit Hauptsitz in Mägenwil AG und dem Warenlager in der ehemaligen Lego-Fabrik in Willisau LU beschäftigt 780 Angestellte und erreichte 2019 einen Umsatz von 811 Millionen Franken. Knapp die Hälfte spült der Onlinehändler Brack.ch in die Kasse. Die Firma hat ihren Ursprung im Dachstock von Bracks Elternhaus im Fricktal. Dort baute der gelernte Elektromechaniker ab 1994 für Freunde und Verwandte Computerkomponenten zusammen. Unter anderem durch die Übernahme zahlreicher kleiner Logistik- und Handelsfirmen wuchs das Unternehmen zum sechstgrössten Onlinehändler in der Schweiz an. Nimmt man börsenkotierte (Zalando, Amazon, Aliexpress, Nespresso) und von Grossverteilern betriebene Händler (Digitec) weg, ist Brack.ch sogar die Nummer eins.
Phase eins: Die Welle kommt
Brack ist ein Profiteur der Krise. Ihm ist das allerdings unangenehm. Einen grossen Gewinn gebe es ohnehin nicht, meint er. Parallel zum Umsatz seien eben auch die Kosten gestiegen. Man stellt sich das vielleicht etwas zu einfach vor: Am 16. März müssen alle Läden schliessen, die keine Ware des täglichen Bedarfs führen, während die Onlineshops weitermachen dürfen. Also schiessen dort die Bestellungen in die Höhe, und die Onlinehändler zünden sich fortan die Zigarre mit der Hunderternote an.
Nicht ganz.
Das Lager in Willisau sei kurz vor dem Kollaps gestanden, sagt Roland Brack. In vielen Produktegruppen verdoppelten sich die Bestellungen innert weniger Tage. Die Abwicklung kam nicht mehr hinterher, in den Hallen wurde der Platz für die angelieferten Palette knapp, Gabelstapler kamen nicht mehr durch, der sogenannte Sammelplatz, auf dem die grossen und kleinen Pakete zusammenkommen, bevor sie von Hand verladen werden, war komplett überfüllt. Vor den Rampen standen sich die Sattelschlepper im Weg.
«Wir sahen, dass jeden Tag sehr viel mehr Bestellungen reinkamen, als wir überhaupt ausliefern können», sagt Brack. «Uns überkam eine Art Ohnmacht. Wir dachten: Das kann nicht gutgehen, das lässt sich nicht mehr verarbeiten.»
Brack ist Ingenieur, ein Tüftler. Er hat die effizienteste Lagerlogistik der Branche geschaffen. Obwohl er sich aus dem operativen Geschäft zurückgezogen hat (er ist noch Verwaltungsratspräsident, und ihm gehört das gesamte Unternehmen), feilt er weiterhin an den Logistikprozessen. Was im März hier im Lager passierte, brach ihm das Herz.
Was genau ist hier passiert, Herr Brack?
Wir sind ja bekannt dafür, verlässlich zu sein: heute bestellt, morgen geliefert. Zu sehen, wie wir alle rennen und der Rückstand trotzdem jeden Tag grösser wird, war nicht einfach. Die Bestellungen gingen rauf, die Leistung sank. Teilweise waren wir zehn Tage in Verzug. Weil es auf dem Sammelplatz chaotisch wurde und das System für so etwas Verrücktes nicht gedacht ist, haben sich gewisse Sachen verklemmt, und es kam praktisch zum Kollaps.
Wie muss man sich das vorstellen? War das ganze Lager vollgestellt?
Genau. Die Ware, die raussollte, ging nicht mehr schnell genug raus. Was reinkam, konnte fast nicht mehr abgeladen werden. Alle Gänge waren vollgestellt, weil überall die Verarbeitungen herumstanden, die noch nicht abgeschlossen waren. Man kam einfach nicht mehr durch.
Wie haben Sie reagiert?
Wir suchten den Befreiungsschlag mit der grossen Keule, indem wir versuchten, einfach megaviel Ware aufs Mal einzulagern. Das führte aber zu noch mehr Wellen. Es machte die Sache nur noch schlimmer. Man muss den ganzen Warenfluss kontinuierlich in Gang halten. Es gab viele Diskussionen. Dass jeder mitdenkt, ist Teil unserer Unternehmenskultur. Doch das führte nun dazu, dass es zu viele verschiedene Ideen gab, die nicht ganz zusammenpassten.
Phase zwei: Den Ansturm bändigen
Etwa zu dieser Zeit muss es gewesen sein, als Roland Brack in einem Instagram-Interview mit FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt an die Adresse der Kundinnen sagte: «Bestellt nicht so viel.» Die Newsportale von «Blick» und «20 Minuten» nahmen die Nachricht vom Händler, der die Leute auffordert, weniger zu kaufen, dankbar auf. Seine Aussage sei dabei etwas verdreht worden, meint Brack heute.
Aber wie kommen Sie überhaupt auf die Idee, so etwas zu sagen?
Ich habe ja mitgeholfen beim Einpacken und gesehen, was bestellt wird. Es gab Leute, die haben 50 verschiedene Positionen für 100 Franken eingegeben. Jemand hat von jedem Duschmittel, das wir im Sortiment haben, je ein Stück in den Warenkorb gelegt. Man muss sich mal vorstellen, wie viel Aufwand das in unserer Logistik auslöst. Das Duschmittel reicht wahrscheinlich für drei Jahre.
Was Sie eigentlich sagen wollten: Bestellt intelligenter?
Ja, genau. Bestellt, was ihr braucht, aber bitte nicht mehr. Ich will ja niemanden bevormunden. Es gab im Übrigen einige positive Reaktionen, etwa von der Post und anderen Onlinehändlern, die auch nicht wussten, wie sie der Sache Herr werden sollten.
Und wie hat sich in der Zwischenzeit die Situation im Lager verbessert?
Letztlich führte nichts daran vorbei, temporäre Arbeitskräfte einzustellen, die Arbeitszeiten zu verlängern und in mehreren Schichten zu arbeiten. Normalerweise arbeiten wir einschichtig fünf Tage die Woche. Jetzt, in der Spitzenzeit, haben wir sieben Tage in zweieinhalb Schichten gearbeitet. Mehr geht nicht.
Sie haben in wenigen Tagen 100 neue Leute eingeführt. Wie funktioniert so was?
Die Gruppenleiter hatten keine Chance, alle aufs Mal einzuarbeiten. Schliesslich müssen sie nebenbei noch das Business am Laufen halten. Also führten wir jeden Tag 10 neue Leute ein. Jeder neue Mitarbeiter erhielt einen Götti.
Zur Debatte: Wie geht es Ihnen, wirtschaftlich gesehen?
Mussten Sie als Inhaberin ein Unternehmen durch diese Krisenwochen steuern? Haben Sie Ihre Stelle verloren, mussten Sie umsatteln – ganz anders arbeiten als vorher? Was waren die grössten Hürden, die unerwarteten Lichtblicke? Wie erleben Sie die Arbeit der Behörden? Hilft der Staat, oder legt er Ihnen unnötige Steine in den Weg? Hier gehts zur Debatte.
Ein Blick auf die Branche. Auf der ganzen Welt leidet der Detailhandel. Vor allem der stationäre Bereich mit physischen Läden in Einkaufsstrassen und Shoppingcentern. Der Handel mit Unterhaltungselektronik, Pflegeprodukten, Sportartikeln und Kleidern wandert zu einem beträchtlichen Teil ins Internet. Es gibt deutlich mehr Schliessungen als Neueröffnungen. In den Jahren 2010 bis 2018 machten in der Schweiz über 6000 Läden dicht. Heute zählt der Retail Atlas Schweiz noch rund 20’000 Läden.
Mit dem Lockdown haben nun viele Regierungen diesen Wandel extrem beschleunigt: Innert weniger Wochen verlagerte sich das Shopping gezwungenermassen von der Einkaufsstrasse ins Internet. Die Analysten der Credit Suisse rechnen darum in diesem Jahr damit, dass der stationäre Detailhandel 20 Prozent an Umsatz verliert, während der Onlinehandel gleichzeitig um 30 Prozent zulegt. Das wären 3 Milliarden Franken mehr Umsatz für die Schweizer Onlinehändler.
Dieses Geld stammt nicht von Neulingen, die noch nie etwas im Internet gekauft haben – sondern von grösseren Einkäufen, wie Patrick Kessler sagt, Präsident des Versandhandelverbands. «Der Onlinehandel ist inzwischen sehr verbreitet. Wir gehen davon aus, dass die Zunahme vor allem von Leuten kam, die schon mehr als einmal online eingekauft haben. Ihre Einkaufskörbe wurden nun einfach deutlich grösser.»
Eigentlich freut sich darüber auch Roland Brack. Doch dass der Durchbruch nun wegen Corona so unvermittelt kam, macht ihm zu schaffen. Vor allem wegen der Hamsterkäufe, die sich teilweise ins Internet verlagerten. Angefangen hatte es mit dem Klassiker unter den Hamsterkäufen: «Plötzlich hatten wir gigantische Bestellungen von WC-Papier», erzählt Brack. Die Leute bestellten panikartig, weil es in den Läden keines mehr gab.» Und Blumenerde. Schliesslich hatten alle Gartencenter zu, und die Grossverteiler durften keinen Gartenbedarf verkaufen. Brack schon. Und er hatte alles bereits im Sortiment. Aber es gab ein Problem: Die Ware ist viel zu sperrig, um sie in grossen Mengen zu lagern, zu verpacken und zu verschicken. Also liess Brack WC-Papier und Blumenerde schweren Herzens aus dem Sortiment entfernen.
Phase drei: Die Jagd nach Masken beginnt
«Mein Gedanke war auch: Wir nutzen die Kapazitäten lieber, um Desinfektionsmittel und Schutzmasken verschicken zu können, als WC-Papier und Blumenerde», sagt Brack. Beides hatte er schon länger im Lager. Als sich abzeichnete, dass sich Covid-19 seinen Weg in die Schweiz bahnte, beschloss Brack, im grossen Stil Spitäler zu beliefern. Es hatte ihn erstaunt, dass dort Masken, Handschuhe und Desinfektionsmittel knapp wurden. Und dass selbst die etablierten Beschaffungskanäle im Gesundheitsbereich nicht vorbereitet waren.
Als Anfang Februar die Bestände im Lager schrumpften, suchten Bracks Einkäuferinnen nach neuen Herstellern von Masken. Weil die Ausfuhr aus China eingeschränkt war, wichen sie auf andere Länder aus. Sie fanden einen Hersteller in der Türkei. «Als bekannt wurde, dass gewisse Länder Lieferungen blockieren, war klar, dass der Strassentransport schwierig werden würde. Also liessen wir die Masken aus der Türkei einfliegen.»
Dann fuhr China die Produktion langsam wieder hoch. Brack zapfte seine Connections an, mit denen er schon seit Jahren Geschäfte pflegt. Zu diesem Zweck beschäftigt das Unternehmen am Hauptsitz im aargauischen Mägenwil eine chinesische Mitarbeiterin. Sie verhandelt mit den Lieferanten. «Wir hatten die Erfahrung gemacht, dass es besser ist, wenn wir jemanden haben, die die Sprache kann und für uns die Einkaufsverhandlungen auf Chinesisch führt», sagt Brack.
Ironischerweise hatte die Mitarbeiterin noch im Januar für ihre Verwandten, die in der Region Wuhan leben, Masken in der Schweiz eingekauft. Damals gab es hierzulande noch genug davon, und dort wurden sie rar. In den chinesischen Städten durfte niemand ohne Maske auf die Strasse. Zwei Monate später ging dann der Warentransfer in die andere Richtung. Und die Familie in Wuhan diente Brack gleich noch als Qualitätsprüferinnen für Masken: «Wir bestellten in chinesischen Fabriken Testsamples, die dann vor Ort von den Verwandten getestet wurden. So konnten wir das Risiko minimieren.»
Auf dem Weltmarkt wurde im März und im April sehr hart um die Masken gekämpft. Einige Staaten setzten zur Beschaffung die Geheimdienste ein, andere zahlten Fantasiepreise, die Qualität war oft fehlerhaft. Viele vorab bezahlte Bestellungen wurden nie geliefert, weil die Käuferinnen Betrügern auf den Leim gegangen waren oder weil die Lieferungen an Flughäfen blockiert wurden. Mittendrin Bracks Beschaffer. «Jeden Tag hatten wir wieder eine neue Ausgangslage mit geschlossenen Grenzen und blockierter Ware», erzählt Brack. «Einmal charterten wir mit einem anderen Händler sogar ein ganzes Flugzeug.»
Phase vier: Jetzt kommt der Roboter
Inzwischen ist es ruhiger geworden. Die Produktion in China läuft auf Hochtouren, und im Lager in Willisau liegt genug Material, damit jetzt auch Privatkundinnen Masken bestellen können.
Roland Brack hat wieder Zeit, über die Zukunft nachzudenken. Die Betreiber der grossen Onlinehändler rechnen damit, dass sie noch lange von der Stimmung der Konsumentinnen profitieren werden. Brack etwa glaubt, dass er die meisten der jüngst geschaffenen Stellen auch in einem Jahr noch brauchen wird. Darauf, dass die Leute nun nach der Öffnung wieder shoppen, als wäre nichts gewesen, setzt niemand. Wegen der unsicheren Perspektive am Arbeitsmarkt ist vielen nicht nach Shopping zumute. Und die weiterhin geltende Abstandsregel hält einen Teil der Kundschaft vom Besuch des Warenhauses ab.
Wir gehen aufs Dach, wo wir auf die Baustelle nebenan blicken. Dort verdoppelt Brack gerade seine Lagerkapazität. Weiter ins Hochregallager, wo die sperrige Ware steht. Zurück zum Sammelplatz, wo die Gabelstapler gerade zwei Dutzend gigantische Flachbildfernseher verschieben. Brack hat es eilig, er will heute noch einen Roboter kaufen. Davon gibt es zwar schon mehrere in Willisau, doch die bewegen sich bislang auf Schienen und verschieben lediglich Produkte von A nach B.
Inzwischen gibt es Roboter, die so wenig Kraft haben, dass sie gefahrlos mit einem Menschen zusammenarbeiten können. Bracks neue Anschaffung soll denn auch tun, was bislang nur der Mensch konnte: Produkte in Kartons einpacken. Kommissionieren heisst das im Jargon. Besonders ausgefeilt ist die Software: «Der Roboter ist lernfähig und weiss, welche Produkte er nehmen kann und welche nicht», sagt Brack. «Bei der Kommissionierung sind wir inzwischen an einem Punkt angelangt, wo das attraktiv wird.»
Es gehe ihm nicht darum, Arbeitskräfte einzusparen, sondern Randstunden abzudecken, schickt Brack nach. Er bereite sich auf eine längerfristig erhöhte Nachfrage vor: «Da wäre es schon ideal, wenn wir am Wochenende den Roboter die Aufträge vorbereiten lassen könnten.»
Ob der Roboter dann während der Sonntagsschicht auch in die offenen Päckli blickt und sich Gedanken über die Empfänger macht?