Homemade in Germany
Walter Lübcke, Halle, Hanau. Immer öfter entlädt sich in Deutschland rechtsextremer Terror. Zeit für einen Besuch bei unseren verwundeten Nachbarn. Auftakt zur Reportageserie.
Von Solmaz Khorsand, 04.05.2020
«Ich möchte betonen, dass vom Rechtsextremismus die grösste Bedrohung in unserem Land ausgeht.»
Selten hat Deutschlands Innenminister Horst Seehofer diese grösste Bedrohung so klar beim Namen genannt. Kein Verharmlosen, kein Relativieren, kein Gegenüberstellen mit anderen Extremismen, die das Land heimsuchen. Es war an der Zeit. Zwei Tage zuvor, am 19. Februar, hatte ein Rechtsextremist in Hanau 9 Menschen getötet.
Fatih, Ferhat, Gökhan, Hamza, Kalojan, Mercedes, Said, Sedat und Vili kamen an diesem Abend in der hessischen Stadt ums Leben.
Es war der dritte rechtsextreme Anschlag in nur 9 Monaten. Nach der Ermordung des CDU-Politikers Walter Lübcke und dem Anschlag auf die Synagoge in Halle kommt selbst das offizielle Deutschland nicht mehr nach damit, sich hinter Lichterketten und Kondolenzbekundungen zu verstecken. Klartext ist das Gebot der Stunde, und der lautet: Deutschland hat ein Problem. Und dieses Problem tritt von Tag zu Tag gewalttätiger an die Oberfläche.
Etwa 200 Menschen wurden seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 Todesopfer rechtsextremer Gewalt. Der deutsche Verfassungsschutz spricht von 24’000 Rechtsextremen im Land, davon gelten 12’700 als gewalttätig, etwa 40 Personen trauen die Behörden gar Anschläge zu. 40 rechtsextreme Gefährder. 40 Mal potenziell Hanau.
Langsam beginnt die Politik die Ressourcen im Verfassungsschutz und der Polizei im Bereich Rechtsextremismus aufzustocken, stellt Expertinnen an, verspricht Dienststellen einzurichten, die sich den Umtrieben im öffentlichen Dienst widmen sollen.
Langsam.
Dabei berichten deutsche Medien Woche für Woche von rechtsextremen Netzwerken und Gruppen, die sich in Chats auf den ultimativen Systemsturz vorbereiten, die Todeslisten von Politikerinnen und Journalisten führen, die Anschläge auf Moscheen planen, die Kommunalpolitiker in Nacht-und-Nebel-Aktionen einschüchtern und angreifen.
Redaktionen wie jene der TAZ oder von «Zeit online» berichten akribisch und recherchieren Deutschlands braunen Sumpf, wie er virtuell und analog vor sich hingärt. Und sie stellen fest, dass sich in ihm nicht ausschliesslich Spinner und Wohlstandsverlierer verirrt haben, sondern auch Elitesoldaten, Polizisten, Ärzte und Anwälte – ein breites Spektrum der deutschen Gesellschaft, von ganz oben bis ganz unten.
Sie tummeln sich nicht nur in den Chats, sondern in den Amtsstuben, wo sie schon einmal Waffenscheine ausstellen, auf Polizeirevieren, wo sie schon einmal die Adresse einer türkischstämmigen Anwältin an Gesinnungsbrüder weitergeben, die mit der Ermordung der kleinen Tochter drohen, und nicht zuletzt im Herzen der Demokratie: im Parlament.
So sitzen ausgerechnet jene Leute, deren Mitgliedschaft in rechtsterroristischen Netzwerken wochenlang in den Schlagzeilen war, als Mitarbeiter von AfD-Abgeordneten exakt in jenen Gremien, die sich um die Untersuchung dieser Netzwerke kümmern. Doch nicht nur das. Sie haben auch absolut freien Zugang zu einer Institution, in der jene Personen Tür an Tür arbeiten, deren Namen sich auf den Todeslisten befinden, die sie mit ihren Kameraden in Chats noch bis vor kurzem diskutiert haben.
All das ist in Deutschland bekannt. Es ist auf dem Radar. Aber offenbar nur als ganz schwaches Signal. Die «Einzelfälle» beherrschen nur für kurze Zeit die Aufmerksamkeitsspanne der Behörden, der Medien und der Politik.
«Ich habe in den vergangenen 20 Jahren betont, dass der Rechtsextremismus und Neonazismus eine dramatische Gefahr für unser Land ist, aber man muss immer aufpassen, wenn man zu sehr in Hysterie fällt. Denn wenn man immerzu warnt, stumpft das irgendwann ab», sagt Stephan Kramer. Er ist Thüringens Verfassungsschutzchef und war davor 10 Jahre lang Generalsekretär des Zentralrats der Juden. «Wer zehn Mal Feuer ruft und wenn beim zehnten Mal trotzdem keines erkannt werden will …»
Dabei brennt es doch. Jedes Mal.
Das jüngste Attentat in Hanau hat die Republik zu einer Reise nach Deutschland veranlasst – unmittelbar vor Europas Lockdown als Antwort auf die Covid-Krise. Wir wollen den Puls fühlen bei unseren verwundeten Nachbarn und verstehen, ob dieses Mosaik an «Einzelfällen» genauso beunruhigend ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Oder tatsächlich bloss das schwache Warnlicht auf dem Radarmonitor der allgemeinen Aufmerksamkeit verdient. «Homemade in Germany»
Serien-Übersicht
Folge 1: «Du denkst, die stellen dich jetzt an die Wand» – Martina Angermann hat als Bürgermeisterin der sächsischen Gemeinde Arnsdorf aufgegeben. Der Druck von rechts war zu beängstigend.
Folge 2: Nazis jagen – Stephan Kramer ist Jude und Chef des Verfassungsschutzes in Thüringen. Wie räumt man die braunste Behörde Deutschlands auf?
Folge 3: Saufen, grillen, Ausländer kloppen – 15 Jahre lang war Manuel Bauer ein Neonazi. Bis er ausstieg. Heute versucht er zu erklären, was in den Köpfen jener vorgeht, die Menschen hinrichten.