«Die stellen dich jetzt an die Wand»
Kommunalpolitikerinnen in ganz Deutschland geben wegen der Rechtsextremen auf. Eine der ersten war Martina Angermann aus der sächsischen Gemeinde Arnsdorf. «Homemade in Germany», Folge 1.
Eine Reportage von Solmaz Khorsand (Text) und Anthony Gerace (Illustration), 04.05.2020
Manchmal schaffen es auch Bäume ins Rampenlicht. Wie jener in Sachsen, vor dem Netto-Discounter in Arnsdorf. Die Filialleiterin zeigt durch die Eingangstür auf den Parkplatz. Da stand er bis vor kurzem noch. «Den haben sie verpflanzt», sagt sie. Wohin, weiss sie nicht. Sie zuckt mit den Schultern. Aber es gibt ihn noch, beteuert die Frau.
Irgendwo wird es schon stehen, Arnsdorfs unrühmliches Denkmal.
Die Geschichte kennt das ganze Land. Am 21. Mai 2016 haben vier Deutsche einen psychisch kranken Iraker aus dem Supermarkt gezerrt und mit Kabelbindern an den Baum gefesselt, bis die Polizei kam. Auf einem verwackelten Handyvideo ist zu sehen, was sich vorher in der Filiale abgespielt hatte: wie der Mann, der zwei Weinflaschen hinter seinen Rücken hielt und mit der Verkäuferin diskutierte, mit einem Mal von den vier Einheimischen umringt und gepackt wird. Als er sich wehrt, prügeln sie auf ihn ein und schleppen ihn aus dem Geschäft. Eine Kundin hat den Vorfall gefilmt. «Es ist schon schade, dass man eine Bürgerwehr braucht», hört man sie am Ende des Videos sagen.
Walter Lübcke, Halle, Hanau: Immer öfter entlädt sich in Deutschland der rechtsextreme Terror. Zeit für einen Besuch bei unseren verwundeten Nachbarn. Die Übersicht über die dreiteilige Serie «Homemade in Germany».
Arnsdorf, 5000 Einwohner, eine halbe Autostunde östlich von Dresden, bekannt für sein psychiatrisches Fachkrankenhaus, war plötzlich die sächsische Gemeinde mit der Bürgerwehr. Ein Ort, wo man Ausländer schon einmal aus dem Supermarkt zerrt. Ein Ort, wo sie à la Ku-Klux-Klan an Bäume gefesselt werden.
In einschlägigen Foren wurde das Eingreifen der Männer als «Zivilcourage» gefeiert. Doch nicht nur dort. Auch auf der Strasse, vor den Fernsehkameras, in den Behörden. Selbst der Polizeipräsident aus dem benachbarten Görlitz, Conny Stiehl, liess wissen, dass das Handeln der Beteiligten «korrekt», «sinnvoll» und «notwendig» gewesen sei.
«Als mir das Video zum ersten Mal zugeschickt wurde, hat mir das so wehgetan, wie sie den auf den Packtisch schmeissen und anbrüllen: ‹Du Schwein!›», erzählt Martina Angermann. Selbst vier Jahre später hat sie jede Sequenz aus dem Video in Erinnerung. Etliche Male hat sie es sich angesehen. Sich jeden Blickwinkel eingeprägt. Für die 62-Jährige steht bis heute fest: Das war keine Zivilcourage, sondern Selbstjustiz. Mehrfach hat sie das angeprangert. Über Jahre.
Das hatte seinen Preis.
Martina Angermann war 18 Jahre lang Bürgermeisterin von Arnsdorf. Beliebt war sie, die SPD-Politikerin, zuletzt 2015 wiedergewählt mit 75 Prozent aller Stimmen. Das sah nach Zuspruch aus, auf dem Papier. In der Realität spürte sie davon nichts. Da spürte Angermann in den vergangenen Jahren vor allem eines: Angst. Sie war die Bürgermeisterin, die mit ihrer Kritik die Gemeinde in Verruf brachte, sie ins rechte Licht rückte, ihr in den Rücken fiel.
Im November 2019 gab sie ihren Rücktritt bekannt. «Bürgermeisterin gibt nach rechtsradikaler Hetze auf», titelten die Medien. Ihr Fall sorgte für Schlagzeilen, national wie international. Schon viele Medienvertreterinnen hatte Angermann bei sich zu Hause am Küchentisch sitzen, um den jahrelangen Zermürbungsprozess zu rekapitulieren. Detailliert erklärt sie jedem Einzelnen, was es damit auf sich hat, dass Kommunalpolitikerinnen wie sie in ganz Deutschland neuerdings aufgeben, weil sie Angst um Leib und Leben haben, wenn sie ihr Amt ausüben.
Die Liste wird immer länger. Pia Findeiss, Zwickaus Oberbürgermeisterin aus Sachsen, der Unbekannte eines Abends einen Pflasterstein in die Wohnung geworfen haben; Arnd Focke, Estorfs Bürgermeister aus Niedersachsen, dessen Auto immer wieder mit Hakenkreuzen beschmiert wurde; Silvia Kugelmann, Bürgermeisterin aus dem bayrischen Kutzenhausen, der man einen Nagel in den Autoreifen gedrückt hatte, den sie erst auf der Autobahn bemerkte.
Sie alle haben sich nach und nach aus der Politik zurückgezogen.
Der erste Mord seit 1945
1241 politisch motivierte Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger wurden im Jahr 2019 erfasst. 440 der Übergriffe gingen von Rechtsextremen aus, 246 von Linksextremen, 538 konnten nicht zugeordnet werden.
Über Jahre hat Martina Angermann beobachtet, wer wo wieder zur Zielscheibe wurde, wem ein Messer in den Hals gerammt wurde, wessen Autositz man mit Säure verätzte, wessen Häuserwand wieder besprüht wurde, weil er sich mit den Falschen solidarisierte. Im Hinterkopf immer die zwei prominentesten Fälle der jüngsten deutschen Geschichte: Henriette Reker und Walter Lübcke. Reker, Kölns Oberbürgermeisterin, stach ein Mann bei einer Wahlveranstaltung auf einem Wochenmarkt im Oktober 2015 ein 40 Zentimeter langes Messer in den Hals. Der Rechtsextremist begründete seine Tat mit Rekers liberaler Flüchtlingspolitik. Sie überlebte das Attentat.
Walter Lübcke nicht.
Martina Angermann wird ganz still, wenn sie den Namen des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten hört. «Ich war schockiert», sagt sie leise, «aber es hat mich auch nicht verwundert.»
Zum ersten Mal seit 1945 haben Rechtsextreme in Deutschland einen Politiker umgebracht. Auf der Terrasse seines Hauses im nordhessischen Wolfhagen wurde Lübcke am 2. Juni 2019 mit einem Kopfschuss getötet. Seit Jahren stand der CDU-Politiker im Visier der Rechtsextremen, unter anderem auch auf einer Todesliste der Terrorzelle NSU. Sein mutmasslicher Mörder, Stephan E., ein vorbestrafter Neonazi, hatte in seinem ersten Geständnis, das er später widerrief, angegeben, dass es die Asylpolitik war, die ihn zu seiner Tat angestachelt hatte. Ausschlaggebend sollen Lübckes Aussagen bei einer Bürgerversammlung 2015 gewesen sein, an der auch Stephan E. teilgenommen hatte.
Der Kasseler Regierungspräsident stellte damals vor rund 800 Anwesenden im hessischen Lohfelden die Eckpunkte für eine Flüchtlingsunterkunft vor. Lübckes Pressesprecher erinnert sich im Nachrichtenmagazin «Spiegel», wie sich gewisse Personen im Publikum an verschiedenen Stellen verteilt hätten, um gezielt Stimmung zu machen. Mit «Scheiss-Staat» und «Scheiss-Regierung» versuchten sie, Lübcke zu provozieren und mit Zwischenrufen zu unterbrechen. Seine Reaktion wurde verkürzt im Netz verteilt: «Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.»
Sein mutmasslicher Mörder sass ganz hinten. Er buhte aus voller Brust.
Wenn die Luft brennt
Martina Angermann kennt solche Bürgerversammlungen. Noch immer läuft es ihr kalt den Rücken hinunter, wenn sie zurückdenkt an jene, wo sie es war, die im Mittelpunkt stand, wo sie es war, die man ausbuhte. «Da spüren Sie, wie die Luft brennt. Die zügeln sich nicht in ihren Äusserungen», sagt sie. «Da hat man manchmal Angst, die stellen dich jetzt an die Wand.»
2015 hat die Luft gebrannt. Auch sie wollte bei einer Bürgerversammlung ihre Gemeinde informieren, wie sie damit umgehen würden, wenn der Landkreis beschliessen sollte, Flüchtlinge in Arnsdorf unterzubringen. 200 Leute seien damals gekommen. Gesteckt voll war der Raum in der Mensa des Gemeindeamts, wo normalerweise solche Versammlungen stattfinden.
Angermann hatte sich umgesehen. Das war rückblickend der Moment, in dem ihr zum ersten Mal die Strategie der Rechten bewusst wurde. Wie gut sie vernetzt sind. Unter den Anwesenden waren nicht nur Bürger aus ihren Reihen. Ihre Leute kannte die Bürgermeisterin. Viele an diesem Abend hingegen nicht. Die kamen von aussen. «Da gab es einen Rechtstourismus. Darauf waren wir nicht gefasst», sagt sie.
Hätte sie das auf dem Radar gehabt, hätte sie am Eingang kontrollieren lassen. So hatte sie irgendwelche Männer und Frauen vor sich sitzen, die aufmischten. Und irgendwann stimmten auch die eigenen Leute mit ein und sprachen ständig von den gefährlichen «Kanaken» und von einer Polizei, die sie und ihre Kinder nicht ausreichend schützen könne.
Viele Gemeindemitglieder trauten sich dann nichts zu sagen, auch wenn sie anderer Meinung waren. Die schweigende Mitte. Sie wurde im Laufe der Jahre immer grösser. Irgendwann wusste Angermann nicht mehr, ob diese Mitte aus Angst schwieg oder aus Zustimmung. «Dann wird man ganz ruhig und ist so enttäuscht und denkt: Wo läuft das hin?», sagt sie.
Wie man Bürgermeister leicht entfernt
In ihrem letzten Wahlkampf 2015 hatte sich das mulmige Gefühl eingeschlichen. Es begann mit einer Facebookseite, «Arnsdorf 01477 Bürgerforum – überparteilich». Dort wurde Angermann in den Postings beschimpft, während für ihren Gegenkandidaten geworben wurde, den CDU-Gemeinderat Detlef Oelsner, der später zur AfD wechselte – und einer von den vier Männern sein sollte, die 2016 den irakischen Asylsuchenden an den Baum fesselten.
Hinter der Facebook-Seite steckte unter anderen Arvid Samtleben, ein ehemaliger Kreisvorsitzender der AfD aus Sachsen, dem mehrere Häuser in Arnsdorf gehören. Deren Fassaden versieht er gern mit Sprüchen wie: «Der beste Platz für einen Bürgermeister ist das Wahlplakat. Dort ist er tragbar, geräuschlos, erfolgreich und leicht zu entfernen.»
Anfangs kamen sie noch gut miteinander aus, er und Angermann, als er 2003 frisch nach Arnsdorf gezogen war und mit seiner Frau das alte Rittergut kaufte. Doch als die Gemeinde Umbau- und Investitionswünschen des Geschäftsmanns nicht nachkommen wollte oder konnte, verschlechterte sich das Verhältnis. Samtleben machte seinem Ärger zunehmend virtuell Luft.
2015 war das perfekte Jahr dafür. Knapp 900’000 Menschen suchten damals Zuflucht in Deutschland. Die Politik war überfordert, die Wähler verunsichert. Und die Facebookseite ein geeignetes Ventil, um Frust, Wut und Angst freien Lauf zu lassen. Mit einer Adressatin: Martina Angermann. Als dann immer wieder die Frage von Flüchtlingsunterbringungen im Raum stand, wurde der Ton immer schärfer:
Demnächst Demo bei Martina Angermann zuhause geplant. Auch Nachbarn sind Bürger die zu informieren sind. Die Demo melden wir selbstredend zu gegebener Zeit an.
«Das war das Härteste», erinnert sich Martina Angermann. Sie sitzt in ihrem Wohnzimmer, in ihrem Haus, einem alten Bauernhof, der ihren Urgrosseltern schon gehört hat. Durch die Terrassentür sieht sie auf grüne Wiesen. Ein idyllischer Ort, der wenige Kilometer entfernt liegt von Arnsdorf. Den Namen ihres Wohnorts schreibt man besser nicht, man weiss ja nie. Sie schliesst kurz die Augen. Die Vorstellung, dass sich vor ihrem Haus ein Mob wütender Bürger zu einer Demonstration versammelt, erfüllt sie, die Mutter und Grossmutter, noch heute mit Schrecken.
Sie wollten doch nur helfen
Es sollte nicht das letzte Posting auf der Seite bleiben, das Angermann beunruhigen sollte.
Soeben, um 13.25 Uhr rastete ein Asylwerber beim Netto-Discouter in 01477 Arnsdorf aus. Er wollte seine Handykarte geladen haben, was man ihm dort nicht bieten konnte. Alles natürlich ohne Deutschkenntnisse. (…) Liebe Frau Angermann, lieber Gemeindrat, Sie sollten für das Ende ihrer Obdachlosenunterkunft für Asylwerber kämpfen. Die Folgen, wenn etwas passiert, haben ihnen die Bürger bei einer der letzten Gemeinderatssitzungen in aller Öffentlichkeit sehr klar geschildert. Machen Sie das nicht. Sonst gründen wir eine Bürgerwehr und nehmen das Recht in die Hand, uns selber zu verteidigen, so wie es im Gesetz vorsieht und erlaubt ist! (…)
Fünf Stunden ist das mit «dem Ausländer» so gegangen, erinnert sich die Netto-Filialleiterin. Ihren Namen will sie nicht verraten. Sie hat ihre Erfahrungen mit der Presse. Sie hatte Dienst an diesem Samstagnachmittag. Schabas Saleh Al-Aziz, «der Ausländer», ein Kurde aus dem Irak, war ein Patient aus dem Arnsdorfer Krankenhaus. Er litt an Epilepsie, die unzureichend medikamentös behandelt wurde, wie die TAZ später recherchierte.
An diesem Samstag kam er insgesamt drei Mal in den Supermarkt. Da er kein Deutsch sprach, konnte er nicht verstehen, dass die Verkäuferin nichts dagegen machen konnte, dass seine Handy-Wertkarte aufgebraucht war. Er wurde laut. Zwei Mal hat ihn die Polizei abgeholt und im Krankenhaus abgesetzt. Als er beim dritten Mal auftauchte, wusste das ganze Dorf Bescheid, dass bei Netto etwas los war, inklusive der vier Männer mit den Kabelbindern. «Die Jungs haben uns einfach nur geholfen», sagt die Filialleiterin. Dankbar war sie ihnen. Endlich war wieder Ruhe. «Aber das will ja keiner wissen, es ist ja nur der arme Ausländer gewesen und die böse Bürgerwehr.»
Zweifel am deutschen Rechtsstaat
Die Staatsanwaltschaft Görlitz erhob Anklage gegen die vier «Jungs» wegen Freiheitsberaubung. Für zehn Tage war der Prozess angesetzt gewesen. Gedauert hat er nur wenige Stunden. Eine Woche vor Prozessbeginn im April 2017 wird der Hauptzeuge, Schabas Saleh Al-Aziz, tot im Wald aufgefunden. Schon im Januar soll er dort erfroren sein.
Hunderte Menschen hatten sich am Prozesstag um 9 Uhr vor dem Gerichtsgebäude versammelt. Darunter Demonstranten von Pegida, AfD-Politiker und Rocker der Red Eagles, zu denen einer der Angeklagten zählte. Schon in den Wochen zuvor hatten sie lobbyiert für die vier «Helden» aus Arnsdorf. 20’000 Euro wurden gesammelt für die Anwaltskosten. Und es wurden Videoclips gedreht, in denen solidarische Bürger zu Wort kommen, aber ebenso die Angeklagten selbst. Sie konnten nicht verstehen, warum ihnen der Prozess gemacht wird für eine Aktion, die sich nicht wesentlich davon unterschied, «wie wenn ich zu meinem Opa Blumen giessen gehe. Ich helfe.»
Martina Angermann war an diesem Tag auch im Gerichtssaal. Voll war er mit Anhängern der Angeklagten. Sie jubelten, sobald die vier Männer mit ihren Anwälten den Saal betraten. Damals wusste Angermann noch nicht, wer ihre Vertreter waren, unter anderem der Jurist Maximilian Krah, AfD-Politiker, und Frank Hannig, der später auch den mutmasslichen Mörder von Walter Lübcke verteidigen sollte.
Nach wenigen Stunden gab der Richter bekannt, dass das Verfahren eingestellt werde. Er begründete die Entscheidung unter anderem damit, dass der Betroffene zu Lebzeiten kein besonderes Interesse an der Strafverfolgung gezeigt hätte und ebenso wenig die Öffentlichkeit – obgleich der Fall international Schlagzeilen machte.
«In mir brach eine Welt zusammen», sagt Martina Angermann, «da habe ich an unserem Rechtsstaat gezweifelt.» Vor ihr liegen zwei dicke rote Ordner auf dem Tisch. Alles hat sie da drinnen gesammelt. Von ausgedruckten Postings über Hass-Mails bis hin zu den Berichten über den ermittelnden Staatsanwalt. Wenige Tage vor dem Prozess soll er von einer Gruppe Männer eines Abends auf dem Heimweg verfolgt, beschimpft und bedroht worden sein. Auch schriftliche Morddrohungen soll es gegeben haben. Angermann schüttelt den Kopf. In was für einem Land lebt sie da eigentlich, in dem Leute ungestraft ihre Mitbürger an Bäume fesseln können und Staatsanwälte, die gegen sie ermitteln, um ihr Leben fürchten müssen?
«Bist du jetzt verrückt, oder sind es die anderen?»
«Vielleicht kehrt nun der Dorffrieden wieder ein», hat der Richter an dem Tag noch gesagt. Er sollte sich irren. Von Frieden konnte keine Rede sein. Zumindest nicht für Martina Angermann. Die Postings und Hass-Mails nahmen zu, die Rocker tauchten in den Sitzungen des Gemeinderats auf, forderten ihren Rücktritt und eine Entschuldigung für ihre Kritik an den vier Männern.
Plötzlich begannen sich die Zeichen zu einem Bild zu verdichten: das Handyvideo von dem Vorfall, das für sie wie ein Werbeclip für eine Bürgerwehr aussah; die auffälligen Autokennzeichen aus den fremden Gemeinden mit den vielen Achten und überall an den Lichtmasten die Aufkleber im Ort der rechtsextremen Identitären und der Kampagne «Ein Prozent für unser Volk», die gegen die «Masseneinwanderung» gerichtet ist.
Entstand hier, mitten in Arnsdorf, vor ihren Augen eine rechtsextreme Zelle? Hatte die Polizei das auf dem Radar? Angermann winkt ab. Das Revier im Nachbarort Radeberg, das für ihre Gemeinde zuständig war, hatte schon lange geschlossen, die nächste Dienststelle war 30 Kilometer entfernt. Wen interessierten da schon die Gespenster, die eine Bürgermeisterin sah?
Was ihr zu dieser Zeit die grössten Sorgen bereitete, waren die vielen Anträge auf kleine Waffenscheine. Seit 2015 häuften sie sich. 20 oder 30 werden es in den vergangenen Jahren gewesen sein. Bei Angermann begann das Kopfkino. Was, wenn sich irgendwann die Wut, die sich bisher nur mitten in der Nacht auf einer obskuren Seite äussert, irgendwann auch auf der Strasse entlädt? Sich gar gegen sie richtet?
Sie begann, ihr Auto am Abend immer ganz nah am Gemeindeamt zu parkieren, aus Angst, dass ihr jemand auflauern würde, wenn er wüsste, dass die Bürgermeisterin in ihrem Büro war.
«Wenn es dunkel wurde und ich wusste, wer einen Antrag auf einen Waffenschein gestellt hat … und was die auf ihrer Seite geschrieben haben, dann kam ich mir schon vor wie eine Zielscheibe», sagt sie. «Du denkst dann: Bist du jetzt verrückt, oder sind es die anderen?»
Sie betont, dass es nie Morddrohungen gegeben hat. Dennoch: Angermann wurde misstrauisch. Nicht zuletzt auch durch das Verhalten der schweigenden Mehrheit. Bekannte wandten sich ab, drehten sich beim Metzger, wo sie immer zu Mittag ass, weg, sodass sie nicht einmal grüssen konnte. Wer ihr zuhört, könnte meinen, dass es diese Episoden im Alltag waren, die ihr bis heute noch am tiefsten in den Knochen sitzen. Sie, die immer so gern unter Leuten war, hatte plötzlich Angst, und sei es nur davor, geschnitten zu werden. «Ich hatte einen Punkt erreicht, an dem ich mir gesagt habe: ‹Du fängst jetzt an, die Menschen nicht mehr zu lieben. Da kannst du gehen.›»
Im Februar 2019 diagnostizierte ihr die Ärztin ein Burn-out. Neun Monate später trat sie von ihrem Amt zurück. Dreissig Jahre lang war Angermann Lokalpolitikerin gewesen. Schon in den Neunzigerjahren war sie Bürgermeisterin, damals in der nahe gelegenen Gemeinde Schönfeld, später war sie Amtsleiterin in Weissig und Ullersdorf, bis sie 2001 in Arnsdorf für das Amt der Bürgermeisterin kandidierte. Willkommen hat man sie damals geheissen, die Ortsfremde, die gelernte Programmiererin und studierte Verwaltungswissenschaftlerin, als eine mit Expertise und Hausverstand, die ihre verschuldete Gemeinde auf Vordermann bringt.
Dreissig Jahre Lokalpolitik, mit einem Schlag beendet.
Jetzt kandidiert der AfD-Mann
Selten fährt Martina Angermann heute noch nach Arnsdorf. Anfangs hatte sie noch Schiss reinzufahren, wie sie sagt. Für Interviews macht Angermann gelegentlich eine Ausnahme, fährt durch den Ort, zeigt, was in ihrer Amtszeit alles saniert wurde: die Trauerhalle, der Feuerverein, der Jugendclub. Sie ist stolz auf ihre Arbeit. Auf der Strasse sieht sie im Regen durch die Windschutzscheibe ein paar bekannte Gesichter. Sie winkt ihnen.
Manche winken zurück. «Man fühlt sich vertrieben», sagt sie dann.
Am 26. April hätte Arnsdorf den nächsten Bürgermeister wählen sollen. Aufgrund von Covid-19 wurde das auf den Herbst verschoben. Auch Detlef Oelsner, der einstige Konkurrent und Tatverdächtige von 2016, ist Kandidat. Grosse Chancen rechnet Martina Angermann dem AfD-Mann nicht zu. Aber wer weiss. Wenn er gewinnt, hat Deutschland den ersten AfD-Bürgermeister. Und Arnsdorf steht wieder in den Schlagzeilen.