Dance is dead – oder: Die Musik von morgen
Tanzen auf Abstand, raven mit Maske? Die Clubkultur steht wirtschaftlich vor dem Aus. Weltweit. Doch die elektronische Tanzmusik wird überleben. Sie wird nur anders klingen.
Von Tobi Müller, 02.05.2020
In der Hitparade und bei Youtube gibt es noch zwei, höchstens drei Genres. Die meisten Klicks erhalten House, Hip-Hop und Schlager – in Varianten, die eigentlich keine sind. Weil: Hörer, die das gekauft haben, kauften auch …
Seit Amazon vor mehr als zwanzig Jahren mit den kollaborativen Filtern die Empfehlungslogarithmen in unserem Alltag installiert hat, leben wir in einer Kultur der Ähnlichkeit. Wir finden gut, was wir schon immer gut fanden, und möchten mehr vom Gleichen. So funktioniert Amazon, so funktioniert Spotify. Unser Geschmack ist gleichzeitig sehr spezifisch und immer fast identisch bleibend. Das ist kein Paradox, sondern das Resultat von Technologie: Die Algorithmen schlagen uns immer mehr Musik vor, die wir nicht kennen, die aber ähnlich klingt. Wir haben das Gefühl, wir würden ständig Neues entdecken. Die Namen wechseln, der Stil aber bleibt. Und die Musikerinnen selbst verschwinden in Nischen, in denen sie kaum etwas verdienen.
Oft ist das ja gar nicht schlecht. Selbst auf den vorderen Plätzen der Hitparade: The Weeknd, ein afrokanadischer House-Musiker, geht gerade global durch die Decke mit seinem Album «After Hours» – völlig okay. Die Teenager spielen ihn zu Hause übers Handy, vor ein paar Jahren flötete The Weeknd aus Papis Laptop. Pop für die ganze Familie: Schöner Falsett-Gesang, nicht zu schnelle Tempi, die Beats klingen retro, aber kräftig. The Weeknd ist das Update zu Daft Punk, den beiden Franzosen, die Techno in den Nullerjahren in den USA zum Durchbruch verhalfen – zwanzig Jahre nachdem House und Techno in afroamerikanischen Innenstädten entwickelt worden war. Ein ganz böser Witz der Musikgeschichte.
In Europa nannte man die Musik von Daft Punk: French House. In den USA hatte man vor beidem Angst – vor Techno, weil schwarz, vor allem Französischen, weil versaut. Also nannte man die neue Massenmusik EDM, Electronic Dance Music. Raves hiessen fortan Festivals, das klang weniger nach Drogen. Und so fühlt sich The Weeknd an wie die Band der Stunde vor fünfzehn Jahren, die schon damals klang wie der Sound aus der Vergangenheit (Käufer, denen Daft Punk gefällt, gefällt auch Giorgio Moroder, Donna Summer und Chic).
Vielleicht würde es aber auch reichen, nicht von drei, sondern nur noch von einem Genre zu sprechen. Denn auch Schlager oder Hip-Hop klingen im Grunde wie diese globalisierte Variante von House: angekitschte Synthesizer, dichte, sehr laute Produktion, unerbittliche Basspauke, vollelektronisch. Zucker fürs Hirn (Romantiker sagen Herz dazu), Protein für den Bizeps, die Peitsche für den Hintern.
Am Ende des Tages läuft auf dem ganzen Planeten nur Dance Music. Oder lief. Denn die Räume, die sie hervorgebracht haben, sind geschlossen. Und werden es lange bleiben. Kein Club wird diese Krise überleben, dazu gleich. Wir halten vorerst fest: Dance is dead.
Himmel, bitte setze mich ins Unrecht.
Die Spotify-Playlist zum Beitrag
Wir haben zu den erwähnten Songs und Künstlerinnen eine Playlist erstellt. Ausserdem sehr empfehlenswert: die Isolation-Playlist der DJ Ellen Allien.
Die vielen Tode des Techno
Die Situation ist zum Zerreissen: Wir erleben weltweit einen dominanten Standard der elektronischen Tanzmusik, die nun ihre gesamten Goldreserven verliert. Denn Letztere sind die Clubs. Was wird aus der Musik? Und stimmt es überhaupt, dass Techno stirbt, jetzt aber richtig?
Bei dieser Prognose ist Vorsicht geboten, denn dass Techno tot sei, hiess es in den letzten gut dreissig Jahren immer dann, wenn die Bumm-bumm-Rakete gerade dabei war, eine weitere Stufe zu zünden. Als in den frühen Neunzigerjahren die Paraden in Berlin und in Zürich wuchsen, war schon Schluss mit lustig, so raunte man im Underground. Definitiv zu Ende ging es erneut, als die ersten Superstars auf den Wagen sprangen, etwa Madonna mit den ausgezeichneten Alben «Ray of Light» (1998) und «Music» (2000).
Die Mutter aller Enden befürchteten viele, als in den Clubs die Ruheräume verschwanden und es arschlochaffines Kokain statt Ecstasy auf den Dancefloor regnete.
Es folgten die Nullerjahre, oje. Kann sich noch jemand erinnern, ohne einzuschlafen? Gab es etwas anderes zu hören in Westeuropa als Minimal Techno aus Deutschland oder Detroit, der in seiner Abstraktion ja wunderbar cool und funky und bei Meistern wie Ricardo Villalobos auch avantgardistisch verspult sein konnte? Beim regierenden Mittelmass kam Minimal jedoch nicht über den Sexappeal einer Bahnhofsuhr hinaus. Streng modern, meinetwegen, aber zehn Stunden lang nur klacker, klacker, ganz ohne mööt, mööt oder boing, boing? Ich fing an zu joggen.
Während die Mittelklassekids in Europa über den richtigen Geschmack diskutierten, schickte sich Techno an, die Welt zu erobern. Es gab nun auch im arabischen Raum schicke Superclubs. Die ersten Rave-Veteranen zogen an Mexikos Karibikküste exklusive Party-Resorts hoch. In Südafrika hatte seit den späten Neunzigerjahren mit Kwaito eine langsamere Aneignung der House Music den Mainstream übernommen.
Und Istanbul war eh ein Hotspot: After-Hour-Partys mit Blick auf den Bosporus. Die Flüge waren auf einmal billig, die Gagen aber hoch. Schweres Vinyl hatte sich selbst im DJ-Markt erledigt, ein Laptop reichte, ach, ein Memory-Stick. Das Leben war leicht und die Kunst auch: Mit Software der Berliner Firma Ableton konnten selbst Laien sauber geschnittene Tracks zusammenschieben. Die Profis liessen sich ihre Alben von namenlosen Beat-Knechten bauen, Geld war genug da für dieses Ghost-Composing. Für das Jahr 2015 schätzte man den weltweiten Gewinn im Dance-Geschäft auf über 7 Milliarden Dollar. Der DJ Calvin Harris soll im gleichen Jahr 63 Millionen eingenommen haben.
Was jeweils starb, war nicht Techno, sondern bloss die eigene Jugend. Und jetzt ist die Zeit noch gefrässiger geworden. Sie konsumiert ganze Kulturzweige. In dieser Pandemie spricht alles gegen Nähe, Exzess, Schweiss, Dunkelheit, erst recht gegen casual sex. Alles spricht gegen das Nachtleben. Gegen Techno.
Melancholie in der Grossstadt
Fragen wir nach. Erst in Berlin, der Clubmetropole Europas. Und dann in Zürich. Wie soll das weitergehen in den Clubs, in den Feierläden, die, wenn sie gut waren, in den letzten paar Jahrzehnten jeweils der Popmusik die Zukunft zeigten? Kann das wirtschaftlich klappen, mit Kurzarbeit, Crowdfundings, Spenden? Und in der Praxis: Raven mit Maske und Gummihandschuhen? Die Gasmasken, die man in der Gründerzeit von Techno gelegentlich an den Umzügen sah, waren anders gemeint: als Accessoires einer städtischen Spassguerilla. Nun hat sich die Maske als Orakel herausgestellt.
Lutz Leichsenring ist Sprecher der Clubcommission Berlin, man spricht den Namen der städtischen Lobby deutsch aus. Die rund 250 Clubs in Berlin erwirtschaften einen Umsatz von 168 Millionen Euro pro Jahr, so eine Studie vom Frühjahr 2019. Doch die Ausstrahlungseffekte auf Hotellerie, Gastronomie und Transport sind weitaus höher und werden auf knapp 1,5 Milliarden geschätzt.
Ein paar Tage vor der Schliessung aller Berliner Kultureinrichtungen Mitte März sagte Leichsenring am Telefon: «Die Mehrheit der Clubs würde einen Shutdown finanziell nicht überleben.» Hundert Jahre her: Die Berliner Clubs wollten E-Mail-Adressen und Telefonnummern der Besuchenden sammeln, um bei Infektionen schnell zu informieren. Der berühmteste Club, das «Berghain», machte da bereits freiwillig zu.
Fünf Wochen danach ist Lutz Leichsenring erneut am Telefon. Viele Clubs streamen jetzt DJ-Sets auf der Plattform unitedwestream.berlin, welche die Clubcommission mit angestossen hat. Es wurde ein gemeinnütziger Verein namens Berlin Worx gegründet, damit Spenden möglich sind. Über 430’000 Euro zählt der Ticker, es sind viele Kleinspenden von mehr als 14’000 Leuten eingegangen.
Aber was passiert mit dem Geld, Lutz Leichsenring? «Viele Clubs haben Kurzarbeit beantragt und auch bekommen», sagt Leichsenring, «aber die Schutzschirme reichen da nicht aus.» Die deutschen Soforthilfen für laufende Kosten gelten in Berlin nicht für Betriebe mit mehr als elf Mitarbeitenden. Und viele Clubs haben mehrere Dutzend, davon aber viele Minijobber, die nicht sozialversichert sind über den Arbeitgeber. «Eine sechsköpfige Jury beurteilt in den kommenden Wochen Anträge der Clubs, um das Geld zu verteilen», so Leichsenring. 20 Prozent davon fliessen in ein digitales Clubfestival, das die Clubs bezahlt, 8 Prozent erhält die Seenotrettung.
Vielleicht kann der eine oder andere Club in Europas Partyhauptstadt laufende Kosten bezahlen – das volle Getränkelager, das nicht verkauft werden kann, die Mieten, Steuernachzahlungen, Rahmenverträge bei der Rechteverwertungsgesellschaft Gema (was in der Schweiz die Suisa wäre), einzelne Angestellte. Vielleicht bleiben ein paar Clubs so liquide. Aber Clubs können nicht später das Doppelte produzieren, um den Rückstand aufzuholen. Und wann ist die Krise beendet? Ein round table der «New York Times» nannte kürzlich als Erster ein Datum für Grossveranstaltungen aller Art: Herbst 21, frühestens.
Als Leichsenring vor der Schliessung sagte, kein Club würde einen Shutdown überleben, meinte er ein paar Monate. Aber anderthalb Jahre?
Leichsenring, der mit VibeLab auch eine Agentur für Nachtlebensfragen betreibt und weltweit Städte berät, sieht dennoch Hoffnung. «Kleine Kellerclubs sind wohl die letzten Einrichtungen, die überhaupt wieder aufgehen, das stimmt. Aber für andere haben wir Optionen: im Sommer die Aussenbereiche öffnen, nur mit Masken tanzen, Hygienevorschriften ausarbeiten, verschiedene Stufen planen.» Mit dem Netzwerk nighttime.org und Wissenschaftlern aus Harvard und der University of Pennsylvania entwickle man Pläne, wie eine Wiedereröffnung von Clubs zu organisieren wäre.
Tanzen auf Abstand, mit Mundschutz? Wir leben in einer Zeit, die einem ständig sehr viel Vorstellungskraft abverlangt. Aber das klingt nach Science-Fiction. Die Realität präsentiert sich derweil so: Westbam, deutsche DJ-Legende der ersten House-Stunde, steht in einem leeren Club in Berlin-Schöneberg, der schon lange kein Club mehr ist, vor einer Kamera. Die Lichtanlage orgelt, als gäbe es kein Morgen, der Künstler trägt Sonnenbrille, trinkt vermutlich Cuba Libre. Selbst Westbam alias Maximilian Lenz, 55, eine verdienstvolle und mitunter lustige Rampensau, kann seine Langeweile kaum verbergen. Oder war das Melancholie? Denn vielleicht ist es ja Teil der Lösung, dass die Risikogruppen aus den Clubs verschwinden. Vielleicht wird die Jugend wieder unter sich feiern dürfen. Zumindest bis nach dem ersten Wochenende mit maskierten Partys die neuen Infektionszahlen da sind und alles von neuem schliesst.
5 Wochen oder 50 Wochen oder 75?
In Zürich ist mehr Realismus zu hören. Zürich, die Stadt, in der 1995 das erste Buch zum Thema erschien: «Techno», herausgegeben von Philipp Anz und Patrick Walder. Es ist die Stadt, die immer ein paar ausgesuchte Tanzläden im Angebot hatte, die mit feinem DJ-Programm aufwartet. Und die, wie ich von Berliner DJs höre, die reisenden Künstler auch oft sehr gut behandelt. Das ist nicht nur eine Frage der Gage. Dominik Müller hat vor 15 Jahren in Zürich Aussersihl den Club «Zukunft» mitgegründet, einen der respektiertesten Orte des elektronischen Nachtlebens in der Schweiz. Wir mailen. Sein Ton bleibt skeptisch: «Social Distancing wird uns wohl noch lange beschäftigen. Siebzehn Jahre Forschung an Impfstoffen gegen andere Coronaviren deuten nicht darauf hin, dass wir bald eine Impfung haben könnten», schreibt Müller.
Er setzt auf Contact-Tracing-Apps und hofft, dass der Betrieb damit schon «vor der Kontrolle über das Virus wieder aufgenommen» werden könne. Dennoch bleibt Müller skeptisch: «Es bleibt jedoch zu befürchten, dass wir solchen Lösungen mit unseren Ansprüchen an den Datenschutz die Steine eigenhändig in den Weg legen werden.»
So klingt keiner, der im Spätsommer mit Maskenpartys rechnet. Dominik Müller, der auch das «Exil» im Escher-Wyss-Quartier mitbetreibt, wo eher Konzerte als Partys stattfinden, legt nach: «Und wenn etwas in einem Club wie an einem Konzert nicht möglich ist, dann Distanz. Mit Kapazitätsbeschränkungen zu öffnen, macht nur in wenigen Fällen Sinn, weil damit weder das Community-Gefühl noch die Wirtschaftlichkeit des Betriebs gegeben sind.» Solche Statements sind in Berlin bislang nur im Hintergrund zu hören. Wer jetzt rechnet, weiss, wie lange er sich die Schliessung leisten kann.
Trotz oder wegen der düsteren Perspektive hat die «Zukunft» in Zürich für 50 Personen Kurzarbeit angemeldet, also für alle «sozialleistungspflichtigen Lohnbezüger», wie Dominik Müller schreibt. Seine Stimmung hellt sich etwas auf, als er von den Ausfallentschädigungen schreibt, die Bund und Kantone in Aussicht stellen. Und gelohnt hat sich auch die Lobbyarbeit vor der Krise. «Der Fokus auf Branchen, in denen sich Menschen dicht versammeln, muss auch aufgrund der zu erwartenden Dauer eines Betriebsverbots gross sein, dafür setzen wir uns mit der Zürcher Bar- und Clubkommission ein. Und einige Betriebe, auch wir, haben das Glück, auf eine Versicherungsdeckung (Betriebsausfall) während einer beschränkten Zeit zählen zu können.»
Gut sieben Wochen sind vorbei, seit zum letzten Mal legal getanzt wurde. Der dezidiert linke, in der Selbstbeschreibung «postautonome» Berliner Club «About Blank» hat per Crowdfunding mehr als 130’000 Euro gesammelt. In Zürich startete der kleine Club Kauz schon gleich nach dem ersten Lockdown-Wochenende eine Crowdfunding-Kampagne und steht zu Redaktionsschluss bei knapp über 40’000 Franken. Wird das reichen für die nächsten 5 Wochen oder 50 Wochen oder 75?
Ob ein Club wirklich das «höchste aller zu rettenden Güter» sei, fragt Dominik Müller in Anbetracht von privater Unterstützung. Und erinnert an die Perspektive, die in dieser Krise so schwierig in den Blick zu kriegen ist: «Bei Crowdfundings zahlen nun auch Leute ein, die heute noch nicht realisieren, dass sie übermorgen ihre Miete nicht mehr bezahlen können.» Die «Zukunft» ruft aktuell mit einem Webstream-Festival zu Spenden auf, allerdings nicht für sich selbst, sondern für Medico International, mit Fokus auf Rojava im nordöstlichen Syrien.
Wie lauwarmes Pipi
Weltweite Netzwerke, die Politik, die mit den Clubs redet und sie für sechs Monate rettet, Solidaritätswellen und Streamingangebote, bis der Router kocht: Dance Music ist ein Wirtschaftsfaktor und auch eine kulturelle Praxis, die aus dem modernen Leben nicht mehr wegzudenken ist. Wie Fliegen oder Ferien in Italien. Tja. Oft sind die ersten Instinkte richtig. «Die Mehrheit der Clubs würde einen Shutdown finanziell nicht überleben», hat Leichsenring gesagt. Menschlich, wirtschaftlich, kulturell: grausam. Und musikalisch?
Schon lange vor der globalen Corona-Krise steckt die elektronische Tanzmusik in einer künstlerischen Krise. Es ist gefährlich, das zu sagen. Zum einen droht dem Musikjournalisten dann die Schmach, als alter Sack zu gelten, der die Gegenwart, das höchste Gut der Popwirtschaft, nicht mehr versteht. Zum andern wird es nach der Krisendiagnose zunehmend schwierig, seine anhaltende Begeisterung für neue Musik glaubhaft zu vermitteln.
In der Woche, in der ich für diesen Text arbeite, höre ich fantastische neue elektronische Musik. Der Brite Kieran Hebden veröffentlichte als Four Tet mit «Sixteen Oceans» jüngst ein perfekt produziertes Album zwischen Samplekunst und Dance mit einer leichten Brise Kitsch, die durch den Raum weht.
Und das Album «Workaround» von Beatrice Dillon, einer Britin in Berlin, gehorcht zwar einem strengen Konzept: Alle Tracks haben 150 Schläge pro Minute, für den durchschnittlichen Dancefloor ist das zu schnell. Doch sie mogelt, nimmt manchmal nur die Hälfte der Beats. Und was in diesem Genre als Sample gehört wird, sind in Wahrheit oft Liveaufnahmen von indischen Handtrommeln, den Tablas, von Bläsern und Streichern. Wunderbar, wie die Strenge zu atmen beginnt!
Auch gern gehört: Brian Piñeyro aus New York City, der unter dem Namen DJ Python mit «Mas Amable» eine Platte ganz ohne Pausen präsentiert. Seine sachten Beats erinnern an Reggaeton, stecken aber in fast minimalen Klangkostümen. Das ist alles toll. Hat aber mit der Clubpraxis fast nichts mehr zu tun.
Es ist Musik für Connaisseure. Schön, aber nicht sonderlich systemrelevant, ausser für ein paar avancierte Elektronikfestivals, die in den letzten zehn Jahren allerdings deutlich gewachsen sind. Aber selbst CTM und Atonal in Berlin, Unsound in Krakau, das Donaufestival in Krems oder die Supersonic in Birmingham, selbst diese oft öffentlich geförderten experimentellen Elektronikfestivals in ihren grossen Nischen haben zunehmend Mühe, jüngere Headliner zu finden. Weil Streaming den Markt immer weiter zerlegt. Künstlerinnen, die mehr als eine spezifische Szene interessieren, können unter diesen Bedingungen kaum mehr entstehen.
Diese Verstreuung der Ressourcen in nicht mehr tragfähige Vielheiten ist kein Naturgesetz. Es geht um Technologien und Märkte, die das so wollen. Und viele davon bringen den Nutzern erst einmal ungeheure Vorteile. Software wie Ableton Live trägt seit den Nullerjahren viel dazu bei, die Produktion elektronischer Musik tatsächlich endlich zu demokratisieren. Davor hat man das immer behauptet, obwohl die meistens analogen, eben gerade nicht neuen, sondern alten Maschinen nur auf dem teuren Vintage-Markt gekauft werden konnten. Die analogen Drum Computer von Roland waren bereits ausrangierte Produkte, als die berühmten Modelle 303, 808 und 909 zu Chiffren für Techno wurden. Mit Ableton hatte man einen Top-Sampler, unzählige Sounds und eine fast intuitive Studioarchitektur in einem einzigen Programm. Zeitgleich explodierte der globale Clubmarkt.
Es brauchte plötzlich viele DJs und Produzenten. Und viele klangen gleich, weil sie die gleiche Technologie nutzten – den materialistischen Gemeinplatz, dass die Werkzeuge die Kunst bestimmen, kann jeder mit etwas Cluberfahrung bestätigen. Viele Feierläden wurden bessere Bars, die halt länger aufhatten. Die Location ist der Star, der DJ liefert den lauten Hintergrund. Mixen ist digital keine Kunst mehr, die mittelmässigen DJs wechseln ständig zwischen dem einen und dem andern ähnlichen Track hin und her, die Sounds der Bass Drum, der Königin des Techno, sind kaum mehr zu unterscheiden. Und der einzelne Track, die einzelne Platte spielt ausser in historischen Varianten der House Music so gut wie keine Rolle mehr. Es gibt noch nicht einmal mehr Clubhits. Alles klingt wie ein langer lauwarmer Fluss, der um die Beine fliesst. Pipi.
Das ist der Moment, in dem man normalerweise aufwacht aus dem bösen Traum. Aber vielleicht trägt man da noch immer den Kopfhörer, durch den die gestreamte Musik ins Ohr dringt. Wir interagieren weniger mit der Musik, sie steht nicht mehr für kulturelle Verhaltensweisen, sondern nur noch für vereinzelte Stimmungen. Sie geht komplett nach innen. Hans Magnus Enzensberger, der konservative Linke der alten Bundesrepublik, beschrieb den Kopfhörer vor Jahrzehnten als Zeichen des revolutionären Bankrotts. Im Gedicht «Aufbruch in die siebziger Jahre» heisst es:
Die Gegenkultur
baumelt an ihren Kopfhörern.
Bei Bodennebel
fällt sogar
die sexuelle Befreiung aus.
Heute baumeln allerdings nicht nur ehemalige Aktivisten an den Kopfhörern, sondern so gut wie alle. Was Kopfhörer nur sehr bedingt abbilden können: den Raum, das Räumliche. Dazu kommt, dass die Musik sich seit Jahrzehnten in einem Wettbewerb um Lautstärke befindet. Auf Englisch hiess das mal loudness war, es ging um sehr laut abgemischte Platten der Red Hot Chili Peppers und von Madonna. Im Vergleich zur Lautstärke heutiger Produktionen auf den Streamingplattformen war das Achtsamkeitspop. Die dafür erforderliche extrem hohe Kompression der Musik löscht räumliche Differenzierung noch radikaler aus.
Dabei fehlt uns nichts so sehr in dieser Krise wie der Raum. Auf den Joggingrunden, die nun in Hauptverkehrsachsen umgewidmet sind, sehe ich bereits weniger Kopfhörer. Wer möchte nach Stunden im Homeoffice, wo der Kopfhörer zur Grundausrüstung gehört, die Dinger freiwillig weiter tragen? Schon jetzt vollführen wir sensiblere Choreografien in der Öffentlichkeit, tänzeln um uns herum, loten das Umfeld auch akustisch aus, und sei es nur, um Unterschreitungen der sozialen Distanz besser zu orten.
Die Musik von morgen wird der räumlichen Dimension wieder stark Rechnung tragen müssen. Der Viererbeat wird nicht mehr allein regieren. Abseits des funktionalen Tanzbefehls könnte sich die elektronische Musik weiterentwickeln. Wer möchte in den nächsten Monaten schon ständig von Dance Music daran erinnert werden, dass wir nicht mehr ausgehen dürfen? Das zu erwartende Clubsterben könnte die Musik befreien, bevor das Nachtleben irgendwann wieder völlig neu beginnt. Techno ist tot. Lang lebe … dafür haben wir zum Glück noch keinen Namen.
Tobi Müller ist Kulturjournalist und Autor in Berlin. Er schreibt über Pop- und Theaterthemen. Für die Republik hat er zuletzt über die Fichenaffäre von 1989 geschrieben.