Erst fliegen, dann feiern, wie geil war das denn! Die Full Moon Party vor der «Drop In Bar» auf der Insel Ko Pha-ngan im Golf von Thailand. Jörg Brüggemann/OSTKREUZ

Dance is dead – oder: Die Musik von morgen

Tanzen auf Abstand, raven mit Maske? Die Clubkultur steht wirtschaftlich vor dem Aus. Weltweit. Doch die elektronische Tanzmusik wird überleben. Sie wird nur anders klingen.

Von Tobi Müller, 02.05.2020

In der Hitparade und bei Youtube gibt es noch zwei, höchstens drei Genres. Die meisten Klicks erhalten House, Hip-Hop und Schlager – in Varianten, die eigentlich keine sind. Weil: Hörer, die das gekauft haben, kauften auch …

Seit Amazon vor mehr als zwanzig Jahren mit den kollaborativen Filtern die Empfehlungs­logarithmen in unserem Alltag installiert hat, leben wir in einer Kultur der Ähnlichkeit. Wir finden gut, was wir schon immer gut fanden, und möchten mehr vom Gleichen. So funktioniert Amazon, so funktioniert Spotify. Unser Geschmack ist gleichzeitig sehr spezifisch und immer fast identisch bleibend. Das ist kein Paradox, sondern das Resultat von Technologie: Die Algorithmen schlagen uns immer mehr Musik vor, die wir nicht kennen, die aber ähnlich klingt. Wir haben das Gefühl, wir würden ständig Neues entdecken. Die Namen wechseln, der Stil aber bleibt. Und die Musikerinnen selbst verschwinden in Nischen, in denen sie kaum etwas verdienen.

Oft ist das ja gar nicht schlecht. Selbst auf den vorderen Plätzen der Hitparade: The Weeknd, ein afro­kanadischer House-Musiker, geht gerade global durch die Decke mit seinem Album «After Hours» – völlig okay. Die Teenager spielen ihn zu Hause übers Handy, vor ein paar Jahren flötete The Weeknd aus Papis Laptop. Pop für die ganze Familie: Schöner Falsett-Gesang, nicht zu schnelle Tempi, die Beats klingen retro, aber kräftig. The Weeknd ist das Update zu Daft Punk, den beiden Franzosen, die Techno in den Nuller­jahren in den USA zum Durchbruch verhalfen – zwanzig Jahre nachdem House und Techno in afro­amerikanischen Innen­städten entwickelt worden war. Ein ganz böser Witz der Musikgeschichte.

Social Distancing im Club – wie soll das gehen? «4:14» aus der Serie «Manhattan Sunday». Richard Renaldi

In Europa nannte man die Musik von Daft Punk: French House. In den USA hatte man vor beidem Angst – vor Techno, weil schwarz, vor allem Französischen, weil versaut. Also nannte man die neue Massen­musik EDM, Electronic Dance Music. Raves hiessen fortan Festivals, das klang weniger nach Drogen. Und so fühlt sich The Weeknd an wie die Band der Stunde vor fünfzehn Jahren, die schon damals klang wie der Sound aus der Vergangenheit (Käufer, denen Daft Punk gefällt, gefällt auch Giorgio Moroder, Donna Summer und Chic).

Vielleicht würde es aber auch reichen, nicht von drei, sondern nur noch von einem Genre zu sprechen. Denn auch Schlager oder Hip-Hop klingen im Grunde wie diese globalisierte Variante von House: angekitschte Synthesizer, dichte, sehr laute Produktion, unerbittliche Basspauke, vollelektronisch. Zucker fürs Hirn (Romantiker sagen Herz dazu), Protein für den Bizeps, die Peitsche für den Hintern.

Am Ende des Tages läuft auf dem ganzen Planeten nur Dance Music. Oder lief. Denn die Räume, die sie hervorgebracht haben, sind geschlossen. Und werden es lange bleiben. Kein Club wird diese Krise überleben, dazu gleich. Wir halten vorerst fest: Dance is dead.

Himmel, bitte setze mich ins Unrecht.

Die Spotify-Playlist zum Beitrag

Wir haben zu den erwähnten Songs und Künstlerinnen eine Playlist erstellt. Ausserdem sehr empfehlenswert: die Isolation-Playlist der DJ Ellen Allien.

Die vielen Tode des Techno

Die Situation ist zum Zerreissen: Wir erleben weltweit einen dominanten Standard der elektronischen Tanz­musik, die nun ihre gesamten Gold­reserven verliert. Denn Letztere sind die Clubs. Was wird aus der Musik? Und stimmt es überhaupt, dass Techno stirbt, jetzt aber richtig?

Nach dem Mauerfall 1989 wurden in Berlin leer stehende Gebäude und Räume direkt in Clubs umfunktioniert: «Trade at Ohm», 2016. Camille Blake

Bei dieser Prognose ist Vorsicht geboten, denn dass Techno tot sei, hiess es in den letzten gut dreissig Jahren immer dann, wenn die Bumm-bumm-Rakete gerade dabei war, eine weitere Stufe zu zünden. Als in den frühen Neunziger­jahren die Paraden in Berlin und in Zürich wuchsen, war schon Schluss mit lustig, so raunte man im Underground. Definitiv zu Ende ging es erneut, als die ersten Super­stars auf den Wagen sprangen, etwa Madonna mit den ausgezeichneten Alben «Ray of Light» (1998) und «Music» (2000).

Die Mutter aller Enden befürchteten viele, als in den Clubs die Ruhe­räume verschwanden und es arschloch­affines Kokain statt Ecstasy auf den Dancefloor regnete.

Es folgten die Nuller­jahre, oje. Kann sich noch jemand erinnern, ohne einzuschlafen? Gab es etwas anderes zu hören in West­europa als Minimal Techno aus Deutschland oder Detroit, der in seiner Abstraktion ja wunderbar cool und funky und bei Meistern wie Ricardo Villalobos auch avant­gardistisch verspult sein konnte? Beim regierenden Mittelmass kam Minimal jedoch nicht über den Sexappeal einer Bahnhofs­uhr hinaus. Streng modern, meinetwegen, aber zehn Stunden lang nur klacker, klacker, ganz ohne mööt, mööt oder boing, boing? Ich fing an zu joggen.

Während die Mittelklasse­kids in Europa über den richtigen Geschmack diskutierten, schickte sich Techno an, die Welt zu erobern. Es gab nun auch im arabischen Raum schicke Super­clubs. Die ersten Rave-Veteranen zogen an Mexikos Karibik­küste exklusive Party-Resorts hoch. In Südafrika hatte seit den späten Neunziger­jahren mit Kwaito eine langsamere Aneignung der House Music den Mainstream übernommen.

Und Istanbul war eh ein Hotspot: After-Hour-Partys mit Blick auf den Bosporus. Die Flüge waren auf einmal billig, die Gagen aber hoch. Schweres Vinyl hatte sich selbst im DJ-Markt erledigt, ein Laptop reichte, ach, ein Memory-Stick. Das Leben war leicht und die Kunst auch: Mit Software der Berliner Firma Ableton konnten selbst Laien sauber geschnittene Tracks zusammen­schieben. Die Profis liessen sich ihre Alben von namenlosen Beat-Knechten bauen, Geld war genug da für dieses Ghost-Composing. Für das Jahr 2015 schätzte man den weltweiten Gewinn im Dance-Geschäft auf über 7 Milliarden Dollar. Der DJ Calvin Harris soll im gleichen Jahr 63 Millionen eingenommen haben.

Visionärin: DJ Ellen Allien 2009 im Berliner Club Watergate. Lisa Wassmann
Darf man in Zeiten der Pandemie noch schwitzen? «Musik & Frieden», Berlin 2016. Lisa Wassmann

Was jeweils starb, war nicht Techno, sondern bloss die eigene Jugend. Und jetzt ist die Zeit noch gefrässiger geworden. Sie konsumiert ganze Kultur­zweige. In dieser Pandemie spricht alles gegen Nähe, Exzess, Schweiss, Dunkelheit, erst recht gegen casual sex. Alles spricht gegen das Nacht­leben. Gegen Techno.

Melancholie in der Grossstadt

Fragen wir nach. Erst in Berlin, der Club­metropole Europas. Und dann in Zürich. Wie soll das weitergehen in den Clubs, in den Feier­läden, die, wenn sie gut waren, in den letzten paar Jahr­zehnten jeweils der Popmusik die Zukunft zeigten? Kann das wirtschaftlich klappen, mit Kurz­arbeit, Crowd­fundings, Spenden? Und in der Praxis: Raven mit Maske und Gummi­handschuhen? Die Gasmasken, die man in der Gründer­zeit von Techno gelegentlich an den Umzügen sah, waren anders gemeint: als Accessoires einer städtischen Spass­guerilla. Nun hat sich die Maske als Orakel herausgestellt.

Lutz Leichsenring ist Sprecher der Club­commission Berlin, man spricht den Namen der städtischen Lobby deutsch aus. Die rund 250 Clubs in Berlin erwirtschaften einen Umsatz von 168 Millionen Euro pro Jahr, so eine Studie vom Frühjahr 2019. Doch die Ausstrahlungs­effekte auf Hotellerie, Gastronomie und Transport sind weitaus höher und werden auf knapp 1,5 Milliarden geschätzt.

Ein paar Tage vor der Schliessung aller Berliner Kultur­einrichtungen Mitte März sagte Leichsenring am Telefon: «Die Mehrheit der Clubs würde einen Shutdown finanziell nicht überleben.» Hundert Jahre her: Die Berliner Clubs wollten E-Mail-Adressen und Telefon­nummern der Besuchenden sammeln, um bei Infektionen schnell zu informieren. Der berühmteste Club, das «Berghain», machte da bereits freiwillig zu.

Fünf Wochen danach ist Lutz Leichsenring erneut am Telefon. Viele Clubs streamen jetzt DJ-Sets auf der Plattform unitedwestream.berlin, welche die Club­commission mit angestossen hat. Es wurde ein gemein­nütziger Verein namens Berlin Worx gegründet, damit Spenden möglich sind. Über 430’000 Euro zählt der Ticker, es sind viele Klein­spenden von mehr als 14’000 Leuten eingegangen.

Aber was passiert mit dem Geld, Lutz Leichsenring? «Viele Clubs haben Kurz­arbeit beantragt und auch bekommen», sagt Leichsenring, «aber die Schutz­schirme reichen da nicht aus.» Die deutschen Sofort­hilfen für laufende Kosten gelten in Berlin nicht für Betriebe mit mehr als elf Mitarbeitenden. Und viele Clubs haben mehrere Dutzend, davon aber viele Mini­jobber, die nicht sozial­versichert sind über den Arbeit­geber. «Eine sechsköpfige Jury beurteilt in den kommenden Wochen Anträge der Clubs, um das Geld zu verteilen», so Leichsenring. 20 Prozent davon fliessen in ein digitales Club­festival, das die Clubs bezahlt, 8 Prozent erhält die Seenotrettung.

Es war einmal in den Neunziger­jahren: Bilder …Werner Amann
… aus einer fernen Zeit …Werner Amann
… in der alles möglich war. Werner Amann

Vielleicht kann der eine oder andere Club in Europas Party­hauptstadt laufende Kosten bezahlen – das volle Getränke­lager, das nicht verkauft werden kann, die Mieten, Steuer­nachzahlungen, Rahmen­verträge bei der Rechte­verwertungs­gesellschaft Gema (was in der Schweiz die Suisa wäre), einzelne Angestellte. Vielleicht bleiben ein paar Clubs so liquide. Aber Clubs können nicht später das Doppelte produzieren, um den Rückstand aufzuholen. Und wann ist die Krise beendet? Ein round table der «New York Times» nannte kürzlich als Erster ein Datum für Gross­veranstaltungen aller Art: Herbst 21, frühestens.

Als Leichsenring vor der Schliessung sagte, kein Club würde einen Shutdown überleben, meinte er ein paar Monate. Aber anderthalb Jahre?

Leichsenring, der mit VibeLab auch eine Agentur für Nacht­lebens­fragen betreibt und weltweit Städte berät, sieht dennoch Hoffnung. «Kleine Keller­clubs sind wohl die letzten Einrichtungen, die überhaupt wieder aufgehen, das stimmt. Aber für andere haben wir Optionen: im Sommer die Aussen­bereiche öffnen, nur mit Masken tanzen, Hygiene­vorschriften ausarbeiten, verschiedene Stufen planen.» Mit dem Netzwerk nighttime.org und Wissenschaftlern aus Harvard und der University of Pennsylvania entwickle man Pläne, wie eine Wieder­eröffnung von Clubs zu organisieren wäre.

Die Nacht war Leben. Rüdiger Trautsch

Tanzen auf Abstand, mit Mund­schutz? Wir leben in einer Zeit, die einem ständig sehr viel Vorstellungs­kraft abverlangt. Aber das klingt nach Science-Fiction. Die Realität präsentiert sich derweil so: Westbam, deutsche DJ-Legende der ersten House-Stunde, steht in einem leeren Club in Berlin-Schöneberg, der schon lange kein Club mehr ist, vor einer Kamera. Die Licht­anlage orgelt, als gäbe es kein Morgen, der Künstler trägt Sonnen­brille, trinkt vermutlich Cuba Libre. Selbst Westbam alias Maximilian Lenz, 55, eine verdienst­volle und mitunter lustige Rampen­sau, kann seine Langeweile kaum verbergen. Oder war das Melancholie? Denn vielleicht ist es ja Teil der Lösung, dass die Risiko­gruppen aus den Clubs verschwinden. Vielleicht wird die Jugend wieder unter sich feiern dürfen. Zumindest bis nach dem ersten Wochen­ende mit maskierten Partys die neuen Infektions­zahlen da sind und alles von neuem schliesst.

5 Wochen oder 50 Wochen oder 75?

In Zürich ist mehr Realismus zu hören. Zürich, die Stadt, in der 1995 das erste Buch zum Thema erschien: «Techno», herausgegeben von Philipp Anz und Patrick Walder. Es ist die Stadt, die immer ein paar ausgesuchte Tanz­läden im Angebot hatte, die mit feinem DJ-Programm aufwartet. Und die, wie ich von Berliner DJs höre, die reisenden Künstler auch oft sehr gut behandelt. Das ist nicht nur eine Frage der Gage. Dominik Müller hat vor 15 Jahren in Zürich Aussersihl den Club «Zukunft» mitgegründet, einen der respektiertesten Orte des elektronischen Nacht­lebens in der Schweiz. Wir mailen. Sein Ton bleibt skeptisch: «Social Distancing wird uns wohl noch lange beschäftigen. Siebzehn Jahre Forschung an Impf­stoffen gegen andere Corona­viren deuten nicht darauf hin, dass wir bald eine Impfung haben könnten», schreibt Müller.

Nie mehr ohne Mundschutz? Rüdiger Trautsch
Nur noch tanzen auf Abstand? Fantasie ist in diesen Zeiten gefragt. Rüdiger Trautsch

Er setzt auf Contact-Tracing-Apps und hofft, dass der Betrieb damit schon «vor der Kontrolle über das Virus wieder aufgenommen» werden könne. Dennoch bleibt Müller skeptisch: «Es bleibt jedoch zu befürchten, dass wir solchen Lösungen mit unseren Ansprüchen an den Datenschutz die Steine eigenhändig in den Weg legen werden.»

So klingt keiner, der im Spät­sommer mit Masken­partys rechnet. Dominik Müller, der auch das «Exil» im Escher-Wyss-Quartier mitbetreibt, wo eher Konzerte als Partys stattfinden, legt nach: «Und wenn etwas in einem Club wie an einem Konzert nicht möglich ist, dann Distanz. Mit Kapazitäts­beschränkungen zu öffnen, macht nur in wenigen Fällen Sinn, weil damit weder das Community-Gefühl noch die Wirtschaftlichkeit des Betriebs gegeben sind.» Solche Statements sind in Berlin bislang nur im Hintergrund zu hören. Wer jetzt rechnet, weiss, wie lange er sich die Schliessung leisten kann.

Trotz oder wegen der düsteren Perspektive hat die «Zukunft» in Zürich für 50 Personen Kurz­arbeit angemeldet, also für alle «sozialleistungs­pflichtigen Lohn­bezüger», wie Dominik Müller schreibt. Seine Stimmung hellt sich etwas auf, als er von den Ausfall­entschädigungen schreibt, die Bund und Kantone in Aussicht stellen. Und gelohnt hat sich auch die Lobby­arbeit vor der Krise. «Der Fokus auf Branchen, in denen sich Menschen dicht versammeln, muss auch aufgrund der zu erwartenden Dauer eines Betriebs­verbots gross sein, dafür setzen wir uns mit der Zürcher Bar- und Club­kommission ein. Und einige Betriebe, auch wir, haben das Glück, auf eine Versicherungs­deckung (Betriebs­ausfall) während einer beschränkten Zeit zählen zu können.»

Was passiert, wenn Alleinsein … George Nebieridze/instagram.com/nebieridze.de
… keine coole Option mehr ist … George Nebieridze/instagram.com/nebieridze.de
… sondern Pflicht und Vorgabe? Richard Renaldi

Gut sieben Wochen sind vorbei, seit zum letzten Mal legal getanzt wurde. Der dezidiert linke, in der Selbst­beschreibung «postautonome» Berliner Club «About Blank» hat per Crowd­funding mehr als 130’000 Euro gesammelt. In Zürich startete der kleine Club Kauz schon gleich nach dem ersten Lockdown-Wochen­ende eine Crowd­funding-Kampagne und steht zu Redaktions­schluss bei knapp über 40’000 Franken. Wird das reichen für die nächsten 5 Wochen oder 50 Wochen oder 75?

Ob ein Club wirklich das «höchste aller zu rettenden Güter» sei, fragt Dominik Müller in Anbetracht von privater Unterstützung. Und erinnert an die Perspektive, die in dieser Krise so schwierig in den Blick zu kriegen ist: «Bei Crowd­fundings zahlen nun auch Leute ein, die heute noch nicht realisieren, dass sie übermorgen ihre Miete nicht mehr bezahlen können.» Die «Zukunft» ruft aktuell mit einem Webstream-Festival zu Spenden auf, allerdings nicht für sich selbst, sondern für Medico International, mit Fokus auf Rojava im nordöstlichen Syrien.

Wie lauwarmes Pipi

Weltweite Netzwerke, die Politik, die mit den Clubs redet und sie für sechs Monate rettet, Solidaritäts­wellen und Streaming­angebote, bis der Router kocht: Dance Music ist ein Wirtschafts­faktor und auch eine kulturelle Praxis, die aus dem modernen Leben nicht mehr wegzudenken ist. Wie Fliegen oder Ferien in Italien. Tja. Oft sind die ersten Instinkte richtig. «Die Mehrheit der Clubs würde einen Shutdown finanziell nicht überleben», hat Leichsenring gesagt. Menschlich, wirtschaftlich, kulturell: grausam. Und musikalisch?

Clubkultur als Kunst: Wolfgang Tillmans, «Easter, c», 2012. Wolfgang Tillmans/Courtesy of Galerie Buchholz, Berlin/Cologne

Schon lange vor der globalen Corona-Krise steckt die elektronische Tanz­musik in einer künstlerischen Krise. Es ist gefährlich, das zu sagen. Zum einen droht dem Musik­journalisten dann die Schmach, als alter Sack zu gelten, der die Gegenwart, das höchste Gut der Popwirtschaft, nicht mehr versteht. Zum andern wird es nach der Krisen­diagnose zunehmend schwierig, seine anhaltende Begeisterung für neue Musik glaubhaft zu vermitteln.

In der Woche, in der ich für diesen Text arbeite, höre ich fantastische neue elektronische Musik. Der Brite Kieran Hebden veröffentlichte als Four Tet mit «Sixteen Oceans» jüngst ein perfekt produziertes Album zwischen Sample­kunst und Dance mit einer leichten Brise Kitsch, die durch den Raum weht.

Und das Album «Workaround» von Beatrice Dillon, einer Britin in Berlin, gehorcht zwar einem strengen Konzept: Alle Tracks haben 150 Schläge pro Minute, für den durch­schnittlichen Dancefloor ist das zu schnell. Doch sie mogelt, nimmt manchmal nur die Hälfte der Beats. Und was in diesem Genre als Sample gehört wird, sind in Wahrheit oft Live­aufnahmen von indischen Hand­trommeln, den Tablas, von Bläsern und Streichern. Wunderbar, wie die Strenge zu atmen beginnt!

Auch gern gehört: Brian Piñeyro aus New York City, der unter dem Namen DJ Python mit «Mas Amable» eine Platte ganz ohne Pausen präsentiert. Seine sachten Beats erinnern an Reggaeton, stecken aber in fast minimalen Klang­kostümen. Das ist alles toll. Hat aber mit der Club­praxis fast nichts mehr zu tun.

Es ist Musik für Connaisseure. Schön, aber nicht sonderlich system­relevant, ausser für ein paar avancierte Elektronik­festivals, die in den letzten zehn Jahren allerdings deutlich gewachsen sind. Aber selbst CTM und Atonal in Berlin, Unsound in Krakau, das Donaufestival in Krems oder die Supersonic in Birmingham, selbst diese oft öffentlich geförderten experimentellen Elektronik­festivals in ihren grossen Nischen haben zunehmend Mühe, jüngere Headliner zu finden. Weil Streaming den Markt immer weiter zerlegt. Künstlerinnen, die mehr als eine spezifische Szene interessieren, können unter diesen Bedingungen kaum mehr entstehen.

Diese Verstreuung der Ressourcen in nicht mehr tragfähige Vielheiten ist kein Natur­gesetz. Es geht um Technologien und Märkte, die das so wollen. Und viele davon bringen den Nutzern erst einmal ungeheure Vorteile. Software wie Ableton Live trägt seit den Nuller­jahren viel dazu bei, die Produktion elektronischer Musik tatsächlich endlich zu demokratisieren. Davor hat man das immer behauptet, obwohl die meistens analogen, eben gerade nicht neuen, sondern alten Maschinen nur auf dem teuren Vintage-Markt gekauft werden konnten. Die analogen Drum Computer von Roland waren bereits ausrangierte Produkte, als die berühmten Modelle 303, 808 und 909 zu Chiffren für Techno wurden. Mit Ableton hatte man einen Top-Sampler, unzählige Sounds und eine fast intuitive Studio­architektur in einem einzigen Programm. Zeitgleich explodierte der globale Clubmarkt.

Es brauchte plötzlich viele DJs und Produzenten. Und viele klangen gleich, weil sie die gleiche Technologie nutzten – den materialistischen Gemein­platz, dass die Werk­zeuge die Kunst bestimmen, kann jeder mit etwas Club­erfahrung bestätigen. Viele Feier­läden wurden bessere Bars, die halt länger aufhatten. Die Location ist der Star, der DJ liefert den lauten Hintergrund. Mixen ist digital keine Kunst mehr, die mittel­mässigen DJs wechseln ständig zwischen dem einen und dem andern ähnlichen Track hin und her, die Sounds der Bass Drum, der Königin des Techno, sind kaum mehr zu unterscheiden. Und der einzelne Track, die einzelne Platte spielt ausser in historischen Varianten der House Music so gut wie keine Rolle mehr. Es gibt noch nicht einmal mehr Clubhits. Alles klingt wie ein langer lauwarmer Fluss, der um die Beine fliesst. Pipi.

Choreografie der Massen mitten in der City: Love Parade 1992 auf dem Ku’damm in Berlin. Mit Sven Väth (links, mit Wasserpistole) und Inga Humpe (Mitte, Rückenansicht). Ben de Biel

Das ist der Moment, in dem man normaler­weise aufwacht aus dem bösen Traum. Aber vielleicht trägt man da noch immer den Kopfhörer, durch den die gestreamte Musik ins Ohr dringt. Wir interagieren weniger mit der Musik, sie steht nicht mehr für kulturelle Verhaltens­weisen, sondern nur noch für vereinzelte Stimmungen. Sie geht komplett nach innen. Hans Magnus Enzensberger, der konservative Linke der alten Bundes­republik, beschrieb den Kopf­hörer vor Jahr­zehnten als Zeichen des revolutionären Bankrotts. Im Gedicht «Aufbruch in die siebziger Jahre» heisst es:

Die Gegenkultur
baumelt an ihren Kopfhörern.
Bei Bodennebel
fällt sogar
die sexuelle Befreiung aus.

Aus: Hans Magnus Enzensberger, «Aufbruch in die siebziger Jahre».

Heute baumeln allerdings nicht nur ehemalige Aktivisten an den Kopf­hörern, sondern so gut wie alle. Was Kopf­hörer nur sehr bedingt abbilden können: den Raum, das Räumliche. Dazu kommt, dass die Musik sich seit Jahrzehnten in einem Wettbewerb um Laut­stärke befindet. Auf Englisch hiess das mal loudness war, es ging um sehr laut abgemischte Platten der Red Hot Chili Peppers und von Madonna. Im Vergleich zur Laut­stärke heutiger Produktionen auf den Streaming­plattformen war das Achtsamkeits­pop. Die dafür erforderliche extrem hohe Kompression der Musik löscht räumliche Differenzierung noch radikaler aus.

Dabei fehlt uns nichts so sehr in dieser Krise wie der Raum. Auf den Jogging­runden, die nun in Haupt­verkehrs­achsen umgewidmet sind, sehe ich bereits weniger Kopf­hörer. Wer möchte nach Stunden im Homeoffice, wo der Kopf­hörer zur Grund­ausrüstung gehört, die Dinger freiwillig weiter tragen? Schon jetzt vollführen wir sensiblere Choreografien in der Öffentlichkeit, tänzeln um uns herum, loten das Umfeld auch akustisch aus, und sei es nur, um Unterschreitungen der sozialen Distanz besser zu orten.

Die Musik von morgen wird der räumlichen Dimension wieder stark Rechnung tragen müssen. Der Vierer­beat wird nicht mehr allein regieren. Abseits des funktionalen Tanz­befehls könnte sich die elektronische Musik weiterentwickeln. Wer möchte in den nächsten Monaten schon ständig von Dance Music daran erinnert werden, dass wir nicht mehr ausgehen dürfen? Das zu erwartende Club­sterben könnte die Musik befreien, bevor das Nacht­leben irgendwann wieder völlig neu beginnt. Techno ist tot. Lang lebe … dafür haben wir zum Glück noch keinen Namen.

Zum Autor

Tobi Müller ist Kultur­journalist und Autor in Berlin. Er schreibt über Pop- und Theater­themen. Für die Republik hat er zuletzt über die Fichenaffäre von 1989 geschrieben.