«In den Köpfen vieler Menschen gibt es diese Koppelung von Expertise und Männlichkeit»

Die Philosophin und Geschlechter­forscherin Patricia Purtschert über den Zusammenhang zwischen Geschlecht und Corona-Krise – und wieso wir nicht «Krieg» führen sollten gegen Viren.

Ein Interview von Andrea Arežina und Anne Morgenstern (Bilder), 28.04.2020

Immer auf der Suche nach der Erweiterung des Horizonts: Weit gereist für Studium und Forschungs­aufenthalte, ist Patricia Purtschert seit 2016 ausser­ordentliche Professorin für interdisziplinäre Geschlechter­forschung an der Uni Bern.

Die Folgen einer Epidemie sind für Frauen einschneidender. Insbesondere leiden sie unter den langfristigen wirtschaftlichen Folgen, das zeigen Studien zu zurück­liegenden Epidemien mit Ebola, Zika, Sars sowie zur Schweine- und zur Vogel­grippe. Zwar schmälern Epidemien das Einkommen aller Menschen, doch das der Männer kehrt schneller auf den Stand vor dem Ausbruch zurück, wie eine Forscherin der London School of Economics gegenüber der «New York Times» ausführte.

Was bedeutet die Corona-Krise für die Männer und Frauen in der Schweiz, dem zweit­reichsten Land der Welt? Wieso soll man nicht nur zwischen den Geschlechtern unterscheiden? Und warum wird dem Pflege­personal in der Schweiz nur Applaus gespendet, während Deutschland seinen Pflegerinnen und Pflegern einen Bonus ausbezahlt?

Wochentage spielen keine grosse Rolle mehr, es ist ein Tag der Sorte Corona-Lockdown. Auf dem flimmernden Computer­bildschirm ist eine Fachfrau für solche Fragen zu sehen: Patricia Purtschert, Philosophin und Professorin für Geschlechter­forschung.

Purtschert hat bei einer der einfluss­reichsten Denkerinnen der Gegenwart geforscht, bei Judith Butler. Sie hat sich zuvor mit älteren Denkern wie Friedrich Nietzsche und Georg Wilhelm Friedrich Hegel auseinander­gesetzt und auf drei Kontinenten studiert, in Ghana, Berkeley und Basel. Heute arbeitet sie als Co-Leiterin des Inter­disziplinären Zentrums für Geschlechter­forschung an der Universität Bern. Genauer genommen arbeitet sie momentan zu Hause, wie viele in diesen Wochen. Bei der Anfrage, wann das Gespräch stattfinden könnte, schreibt sie: «Ich mache morgen Kinder­betreuung und Home­schooling bis 13 Uhr, dann Essen, ab 14 Uhr bis 19 Uhr ist Arbeitszeit. Vielleicht um 17 Uhr?»

Es ist kurz nach 17 Uhr.

Frau Purtschert, als ich vorschlug, Sie zu Corona zu interviewen, war der stellvertretende Chef­redaktor skeptisch: Bei einem Gespräch zwischen einer Frau und einer Gender­forscherin sei ein Tunnel­blick zu befürchten. Darum …
… (lacht) Schon Freud fand, von Frauen könnten in der Psychologie keine Einsichten über Frauen erwartet werden, weil sie Objekt der Forschung seien. Er vergass dabei, dass er als Mann genauso ein Geschlecht hat wie die Frauen und Männer, über die er befand. Als Vertreterin der Gender­studies holt mich diese Frage immer wieder ein: Ist das nicht ein partielles Wissen, wenn Frauen über Frauen reden? Brauchen wir nicht ein allgemeines Wissen?

Allgemeines Wissen – aktuell wäre das wohl das Experten­wissen von Virologen, Epidemiologen, Ärzten, Ökonomen …
All diese Experten stehen auch nicht ausserhalb der Dinge, die sie analysieren. Wenn ich als Virologe über Viren rede, bin ich auch ein Körper, der Viren ausgesetzt ist. Und wenn ich als Neoliberalismus-Experte über die Bedeutung der Ökonomie in der Corona-Krise rede, bin ich selber vom neoliberalen Regime geprägt. All diese Experten blicken nicht aus der Meta­perspektive auf die Dinge. Das Gleiche gilt für unser Nachdenken über Geschlecht. Die feministische Wissenschaft hat das sehr stark reflektiert.

Apropos den Viren ausgesetzt sein – in der Vergangenheit haben Frauen unter den langfristigen Folgen einer Epidemie stärker gelitten, das bestätigen Berichte von vergangenen Epidemien – Ebola, Zika, Sars, Schweine- und Vogelgrippe. Wieso?
Der Hauptgrund ist, dass die Fürsorge- und Pflege­arbeit grössten­teils von Frauen übernommen wird. Und diese Arbeit nimmt nach Epidemien zu. Menschen, die von der Intensiv­station entlassen werden, müssen auch zu Hause weiter gepflegt werden. Menschen sterben, wir trauern und begleiten andere in der Trauer. Grossmütter und Grossväter sind nicht mehr da, die vorher auf die Kinder aufgepasst haben. Aus der Forschung wissen wir, dass Frauen diese unbezahlten Arbeiten öfter übernehmen und dabei beruflich eher zurücktreten.

Was sind die Folgen?
Frauen haben höhere Lohn­ausfälle – bei durchschnittlich niedrigerem Einkommen. Die Armut im Alter ist bei ihnen riesig. Aber auch die Anerkennung für die Fürsorge­arbeit, die sehr häufig von Frauen übernommen wird, ist in unserer Gesellschaft sehr mager. Die Ökonomin Mascha Madörin hat für die Schweiz ausgerechnet, dass die unbezahlte Arbeit, die Frauen erledigen, deutlich mehr als 200 Milliarden Franken pro Jahr kostet.

Meine liberale Kollegin würde sagen: Sie wolle selber entscheiden, ob sie zu Hause bleiben will oder nicht. Sie wolle nicht, dass ihr Feministinnen vorschreiben, wie sie zu leben hat.
Das ist eine sehr privilegierte Position. Nicht alle Frauen können das aus freien Stücken entscheiden. Zudem ist «Freiheit» im Neoliberalismus ein tückischer Begriff. Er vermittelt, Frauen übernähmen heute von sich aus mehr Fürsorge­arbeit als Männer. Dabei werden Mädchen von klein auf darauf getrimmt, empathisch und fürsorglich zu handeln.

Wer ist in der Position, sich zwischen Beruf und Kind entscheiden zu können?
Viele Frauen stehen nie vor so einer Frage. Und die, die es behaupten, würde ich fragen, ob sie die Alters­armut mitbedacht haben. Die ökonomische Abhängigkeit vom Ehemann? Was, wenn man sich trennen möchte, aber finanziell abhängig ist von ihm?

Werden Frauen auch in der Schweiz unter den langfristigen Folgen der Corona-Krise mehr leiden?
Der Bundesrats­entscheid, keine kantons­übergreifende Lösung für die Kitas zu entwickeln, lässt mich stark daran zweifeln, ob die Politik die Frauen genügend im Blick hat. Wenn ein grosser Teil der Kitas eingeht, wird der berufliche Wieder­einstieg für Eltern mit kleinen Kindern schwierig. Das trifft vor allem die Mütter, aber auch Schwestern und Freundinnen, die einspringen. In der Pflege arbeiten zudem deutlich mehr Frauen, sie sind dem Virus mehr ausgesetzt. Der Bundesrat hat jetzt die Ruhezeit für das Gesundheits­personal gelockert. Dabei war das Pflege­personal schon vor Covid-19 am Anschlag.

Ein grundsätzlicher Gedanke: Wenn Ebola in west­afrikanischen Ländern ausbricht, ist das ja nicht das Gleiche, wie wenn Covid-19 in der Schweiz ausbricht einem der reichsten Länder überhaupt.
Ja, das Gesundheits­system spielt eine wichtige Rolle. Man sieht den Unter­schied auch, wenn man den Verlauf der Krise in Italien und der Schweiz vergleicht – wobei die Schweiz auch mehr Zeit hatte, zusätzliche Spital­betten bereit­zustellen, Material aufzustocken.

Und wenn wir wissen, dass es an unterschiedlichen Orten zu unter­schiedlichen Zeiten einen Peak geben wird, was können wir daraus lernen?
Wir sollten nicht glauben, dass das bei anderen passiert und bei uns nicht. Dass wir einfach nur unser Land durch die Krise steuern müssten. Wir sollten realisieren, wie eng wir miteinander verbunden sind. Das heisst auch, an die anderen zu denken: Was bedeutet es, dass unser Pflege­system zu grossen Teilen von migrantischen Arbeits­kräften aufrecht­erhalten wird, die in ihren Heimat­ländern teuer ausgebildet wurden, von der Schweiz abgeworben wurden und jetzt dort fehlen? Wie unterstützen wir diese Länder bei der Bewältigung der aktuellen Gesundheits­krise? Statt von Solidarität sollten wir öfter von der transnationalen Verantwortung sprechen, die aus solchen Verflechtungen mit anderen Ländern erwächst.

Aus China wissen wir, dass sich die häusliche Gewalt während der Quarantäne verdreifachte. Was wissen wir dazu für die Schweiz?
Die Vorstellung, das Zuhause sei ein sicherer Ort, wird von Feministinnen seit langem infrage gestellt. Dass es für viele Frauen ein gefährlicher Ort ist, bestätigt auch der WHO-Bericht von 2013. Das gilt für Frauen und Kinder, aber etwa auch für diejenigen lesbischen, schwulen und transgender Jugendlichen, die im eigenen Zuhause auf Ablehnung und Gewalt stossen. Jetzt, wo wir uns alle zu Hause «in Sicherheit» befinden sollen, sind solche Erkenntnisse wichtiger denn je. Das wurde von einigen Kantonen anerkannt. Einzelne Frauen­häuser können ihre Kapazitäten ausbauen, weil Kantone wie beispiels­weise Zürich reagiert haben.

Was hat Zürich gemacht?
Frauenhäuser dürfen zusätzliche Unter­künfte dazumieten, die Kosten übernimmt der Kanton. Weiter sollen Opferhilfe-Organisationen zusätzliches Personal einstellen.

Im coronafreien Jahr 2018 war davon keine Rede, dabei klagen die Frauen­häuser schon länger über eine massive Unterfinanzierung.
Wir stehen auch bei dieser Frage an einem Scheide­weg. Die Corona-Krise könnte uns helfen, endlich zu verstehen, wie sehr wir diese Institutionen brauchen und wie falsch es ist, bei ihnen zu sparen.

Der Schweizer Staat ist nicht dafür bekannt, sich ins Private einzumischen. Sein Interesse machte lange Zeit vor der Haustür halt.
Zwar ist Vergewaltigung in der Ehe erst seit 1992 strafbar, aber sie ist es heute. Nach wie vor gibt es aber die Tendenz, Gewalt in intimen Beziehungen in Abrede zu stellen, indem sie zum Beispiel rassifiziert wird – sie werde nur von migrantischen Männern ausgeübt und sei kein Thema von Schweizer Familien.

Bleiben wir bei den Männern. Beim Corona­virus lag in China das Sterberisiko für Männer bei fast 5 Prozent, das der Frauen bei 3 Prozent.
Das stimmt, und die Gründe dafür sind noch ungeklärt. Es könnte damit zu tun haben, dass Männlichkeit mit ungesundem Verhalten korreliert, wie Rauchen oder Alkohol­konsum. Es ist allerdings wenig präzis, nur von Männern und Frauen zu reden. Und welche Männer sind in der Corona-Krise genau gemeint? Ich sehe täglich Bauarbeiter, die keine Mindest­abstände einhalten können. Aber sie müssen weiter­arbeiten. Ich habe hier, wo ich wohne, alle Ämter angeschrieben und immer die gleiche Antwort bekommen: Dafür seien die Baustellen­betreiber verantwortlich. Diese Menschen setzt man vor unser aller Augen einem erhöhten Gesundheits­risiko aus. Hier verschränkt sich Geschlecht mit Klasse, Migration und einer kolonialen Geschichte: Es gibt eine lange Tradition, solche Männer als ausbeutbare Arbeits­kräfte zu behandeln.

«Wir müssen uns überlegen, was passiert, wenn wir diese Krise in der Grammatik des Krieges deuten»: Patricia Purtschert.

Ein konkretes Beispiel: Wird es Magdalena Martullo-Blocher, der EMS-Chefin, wirklich schlechter gehen, wenn Covid-19 hierzulande durch ist, als meinem Coiffeur und seinem kleinen Salon?
Ihr Beispiel ist gut gewählt. Zurzeit steht nämlich genau eine einzige Frau an der Spitze der fünfzig grössten Schweizer Unternehmen – Magdalena Martullo-Blocher. Sie wird sicher weniger hart getroffen von den ökonomischen Folgen des Virus als Ihr Coiffeur. Dafür sorgt sie auch als Vorreiterin einer knallharten Strategie: lieber Entlassungen als Kurzarbeit. Wie erwähnt müssen wir das Zusammen­spiel von Geschlecht mit anderen Faktoren untersuchen. Aber ich kann Ihnen sagen, was mir aktuell im Bezug auf Geschlecht auffällt.

Bitte.
Ich finde es interessant zu sehen, wer aktuell als Experte an die Öffentlichkeit tritt. Es sind häufig weisse Männer, die wissen, was wir brauchen und was wir tun sollen. In den Köpfen vieler Menschen gibt es diese Koppelung von Expertise und Männlichkeit auf der einen Seite und die starke Verbindung von Weiblichkeit und Fürsorge­arbeit auf der anderen Seite. In der Pflege sind weitgehend Frauen tätig. Man erkennt zwar, dass sie überlebens­wichtige Arbeit oder «system­relevante» Arbeit machen, wie man jetzt sagt. Gleichzeitig wird mit grosser Selbst­verständlichkeit davon ausgegangen, dass diese Arbeit schon irgendwie erledigt wird, auch unter enormem Druck. Es gilt zu verstehen, wie die Trennung von reproduktiver und produktiver Arbeit hier reinspielt.

Okay, jetzt sind wir im Hörsaal an der Uni. Was genau ist reproduktive Arbeit?
Die Arbeit zum Erhalt des Lebens. Der Körper muss gefüttert werden, gekleidet und gepflegt. Ein Mensch muss geboren, gestillt, liebkost, erzogen, «zur Welt gebracht» werden. Wer krank ist, muss besonders umsorgt werden.

Und produktive Arbeit?
Das ist die Arbeit, die Güter oder Dienst­leistungen hervorbringt. Das Hervor­bringen von Technologie, Kunst, Wissenschaft. Eine falsche, aber wirkmächtige Trennung: Produktive Arbeit wird der Kultur zugeordnet und reproduktive Arbeit der Natur.

Mutter Natur.
Genau. Und Natur ist scheinbar einfach da. Man ist ihr immer wieder dankbar, aber kosten tut sie nichts. Es gibt eine lange Tradition, reproduktive Arbeit zu zelebrieren und sie gleichzeitig auf ihren billigen Platz zu verweisen: die Mutter, die ihre eigenen Bedürfnisse für alle anderen Familien­mitglieder zurückstellt. Die Pflege­fachfrau, die sich mit viel Herzblut um die Patientinnen und Patienten kümmert. Auch der Pflege­beruf wird der Reproduktion zugeordnet. Und er gilt darum nicht nur als Beruf, sondern als Berufung. Man lädt ihn mit der Vorstellung auf, er würde eben von Herzen und aus Liebe gemacht. Deshalb verhält man sich gegenüber dem Pflege­personal ähnlich wie gegenüber der Mutter, der man am Muttertag Danke sagt. Aber die Dankbarkeit bleibt gratis.

In Deutschland bekommen Pflege­kräfte jetzt immerhin Bonuszahlungen von bis zu 1500 Euro.
Das hat mich bei der Diskussion in der Schweiz erstaunt. Es gab keine Zusagen, die tiefen Löhne im medizinischen Bereich anzuheben. Zwar wird betont, es sei unglaublich, was das Gesundheits­personal leiste, aber ihre Forderungen, die schon lange im Raum stehen, schaffen es nicht ins Zentrum der Diskussion.

Die Deutschen sind grosszügiger als die Schweizer.
Nein, das glaube ich nicht. Und wenn es in Deutschland bei einer Pauschale bleibt, ist das kein grosser Sprung.

Immerhin springt Deutschland ein.
Ja, und hier in der Schweiz verteilt man an die Wirtschaft Geld, und für das Gesundheits­personal wird geklatscht.

Sollen wir also ab sofort nicht mehr mitmachen beim Klatsch­konzert auf dem Balkon?
Dankbarkeit ist dann ein Fallstrick, wenn sie es uns ermöglicht, Fürsorge- und Pflege­arbeit weiterhin als Gratis- und Billig­arbeit zu betrachten. Nur so lässt sich erklären, warum wir über enorm hohe Beträge zur Rettung von KMU sprechen und nicht gleichzeitig über riesige Summen zur Verbesserung der Arbeits­bedingungen in der Pflege, beim Reinigungs­personal, im Detail­handel – für all die Menschen, denen wir auf dem Balkon applaudieren.

Wird sich das nach der Krise ändern? Schon Ende 2017 konnten um die 6000 Stellen in der Pflege nicht besetzt werden. Wenn eine Epidemie ausbricht, bietet der Staat knapp die Hälfte des Pflege­personals, das vor Jahren aus dem Beruf ausgestiegen ist, wieder auf. Am Schluss geht es auf.
Schauen Sie, die relevante Frage ist doch die: Ist das die Gesellschaft, in der wir leben wollen? Es mag Leute geben, die nach der Krise sagen, sie könnten gut leben damit, dass das Pflege­personal schlecht bezahlt ist. Aber ich glaube, dass viele von uns ein Interesse an einer gerechteren Gesellschaft haben. Weil zurzeit so viele Normalitäten ins Wanken geraten, werden mehr Ungerechtigkeiten anders sichtbar. Darin liegt eine grosse Chance.

Wieso ist der Pflegeberuf heute eigentlich schlecht bezahlt?
Weil die Gesellschaft nicht bereit ist, mehr dafür zu bezahlen. Es könnte total anders sein.

Gehen wir davon aus, der «Krieg gegen das Virus», wie manche Politiker es nennen, ist gewonnen …
… was heisst das, «Krieg gegen das Virus»?

Was stört Sie an dieser Formulierung?
Wir müssen uns überlegen, was passiert, wenn wir diese Krise in der Grammatik des Krieges deuten – was das möglich macht und was es verunmöglicht.

Der Reihe nach: Was wird möglich gemacht?
Mehr Polizei und mehr Militär auch in der Schweiz. Wir sehen, wie in Ungarn der Minister­präsident die Krise, also diesen «Krieg», ausnutzt. Viktor Orbán kann nun nach den Regeln des Notstands regieren, und das auf unbegrenzte Zeit. In Polen ist das Parlament diesen Monat dabei, das Recht im Bereich Schwangerschafts­abbruch noch mehr zu verschärfen, dabei hat es schon heute das restriktivste in ganz Europa. Sprache schafft auch Wirklichkeit.

Und was verunmöglicht die Kriegsmetapher konkret?
Die Vorstellung, dass man das Virus einfach ausradieren oder den Feind besiegen kann – wie es zum Beispiel Boris Johnson nannte, der daraufhin selber mit dem Virus im Spital lag –, verunmöglicht es, Menschen als verletzliche Wesen zu erkennen. Es ist ein bestimmtes Deutungs­muster. Verkörpert wird es von Politikern wie Johnson oder Trump, die ein Modell von Männlichkeit auf globaler Ebene vorführen, das nicht nur problematisch ist, sondern überholt.

Was meinen Sie genau mit «überholt»?
An einem gewissen Punkt müssen sich diese Politiker damit auseinander­setzen, dass sie nicht alles im Griff haben. Dass sie verletzlich sind, wie Johnsons Beispiel eindrücklich vor Augen führt. Es zeigt auch, dass der Mythos der eigenen Unverletzlichkeit tödliche Folgen haben kann; Johnson kam mit Glück davon. Für andere, die die Konsequenzen seiner Politik tragen mussten, gilt dies nicht. Sie starben.

Was hiesse es, anders auf das Virus zu reagieren?
Wir müssen – vorerst jedenfalls – mit diesem Virus leben. Darin steckt eine wertvolle Lektion, auch für andere Krisen, in denen wir uns befinden, etwa die ökologische. Philosophisch gesprochen: Ein grosses Problem des oben erwähnten Verständnisses von Subjekt liegt darin, dass es über alles Kontrolle ausüben will und dabei seine eigene Abhängigkeit verleugnet.

Konkreter: Was würde es bedeuten, an diesem Selbst­verständnis zu rütteln?
Wir üben von klein auf, uns abzukoppeln von vielem, mit dem wir verbunden sind. Wir fahren an den ausgetrockneten Wiesen vorbei und sind froh, im Auto mit Klima­anlage zu sitzen. Wir sehen Menschen im Flüchtlings­lager und denken, deren Realität habe nichts mit uns zu tun. Diese aufwendige und zerstörerische Arbeit des Entkoppelns gilt es zu unterbrechen.