Liebe Leserinnen und Leser
Geht es Ihnen auch so, dass die Frage «Wie gehts?» durch die Pandemie einen ganz anderen Beiklang bekommen hat, ja, eigentlich eine ganz andere Bedeutung? Wie oft haben wir diese Frage schon als blosses Ritual gestellt. In den USA hat man sich, bevor Corona kam, als ahnungsloser Tourist geoutet, wenn man auf die Frage «How are you?» tatsächlich eine Antwort gab.
Nun ist die einstige Floskel zum sensibelsten Punkt der meisten Gespräche geworden. Und je nachdem, wem wir sie stellen, verändert sich sowohl die Dringlichkeit dieser früher so unschuldigen Frage als auch der Grad unserer Beklemmung.
Die Corona-Krise ist vor allem auch eine emotionale Herausforderung. Für jede und jeden von uns. Und für die Gesellschaft im Ganzen.
Welche Rolle spielen in privaten und öffentlichen Diskussionen Gefühle wie Angst oder Trauer? Wie stark werden sie thematisiert – oder tabuisiert? Mit welchen sprachlichen Bildern verleihen wir ihnen Ausdruck? Wie hat sich die Kommunikation über Gefühle – oder technischer ausgedrückt: das Emotionsmanagement – von Politikerinnen, Medizinern und Wissenschaftlerinnen im Lauf der Geschichte verändert?
Das sind Fragen, die wir mit der Historikerin Bettina Hitzer diskutiert haben. Ihr Forschungsgebiet ist die Emotionsgeschichte, ein vergleichsweise junges Feld der Geschichtswissenschaft, das in den letzten Jahren auch ausserhalb der akademischen Welt an Aufmerksamkeit gewonnen hat.
Das gilt auch für die Arbeit von Bettina Hitzer. Ihre Ergebnisse aus einem langjährigen Forschungsprojekt hat sie in einem soeben erschienenen Buch gebündelt – und dafür bereits den Preis der Leipziger Buchmesse bekommen. «Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts» lautet der Titel. Und so ging es im Gespräch mit ihr auch um die Frage, welche Erkenntnisse sich aus ihren Studien über den Umgang mit lebensbedrohlichen Krankheiten für die Corona-Pandemie ableiten lassen.
Übrigens: Bettina Hitzer kommt in dem Interview auch auf Susan Sontag zu sprechen – ein Name, auf den Sie in letzter Zeit schon mehrfach gestossen sind, wenn Sie regelmässig die Republik lesen. Bettina Hitzer beleuchtet im grösseren historischen Zusammenhang, warum Sontags Essay «Krankheit als Metapher» von 1978 so bedeutend ist – und noch vier Jahrzehnte später, in einer anderen Zeit und mit Blick auf eine ganz andere Krankheit, nichts von seiner Relevanz verloren hat. Ist das nicht ein eindrucksvolles Beispiel für die Kraft von herausragenden Büchern?
In diesem Sinne: Nehmen Sie sich doch mal wieder lesend eine Auszeit. Mit einem Roman, einem philosophischen Werk oder einem Sachbuch. Unter Umständen erobern Sie sich damit 42 Jahre Wissensvorsprung.
Die wichtigsten Nachrichten des Osterwochenendes
Die neuesten Fallzahlen: Gemäss Berechnungen, die das Statistische Amt des Kantons Zürich aus den Daten der einzelnen Kantone zusammenstellt, zählt die Schweiz heute mindestens 25’668 positiv auf Covid-19 getestete Personen.
Nicht über die Stränge geschlagen: Die Polizei stellt der Schweizer Bevölkerung ein gutes Zeugnis aus. Trotz des schönen Wetters habe sie sich über die Ostertage grossmehrheitlich an die Regeln zur Eindämmung des Coronavirus gehalten. Einzelne Verstösse gab es von Jugendlichen und von Familien, wie Polizeisprecher verschiedener Kantone der Nachrichtenagentur SDA sagten.
In Spanien wird wieder gebaut: Der Ostermontag ist in Madrid kein Feiertag – und so mussten heute Hunderttausende Spanier zur Arbeit. Oder vielmehr: Sie durften. Denn die Regierung hat eine einschneidende Corona-Massnahme zurückgenommen, nach der nur noch Betriebe geöffnet haben durften, die lebenswichtige Produkte herstellen. Baustellen beispielsweise waren, anders als in weiten Teilen der Schweiz, seit Wochen geschlossen. Nun gelten in Spanien Dutzende neuer Empfehlungen zum Schutz: So muss Arbeitskleidung täglich bei 60 Grad gewaschen werden, es gilt Handschuh- und Mundschutzpflicht für Menschen mit Kundenkontakt sowie Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr. Aus dem Haus dürfen die Spanier aber weiterhin einzig zum Einkaufen oder um zu arbeiten: Die strenge Ausgangssperre gilt noch mindestens zwei Wochen.
Ferienpläne? Nicht jetzt! EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen empfiehlt den Europäern, vorerst keine Sommerferien zu buchen. «Ich rate dazu, mit solchen Plänen noch zu warten. Für Juli und August kann derzeit niemand verlässliche Vorhersagen machen», sagte sie der «Bild am Sonntag». In der Schweiz gibt es noch keine offizielle Empfehlung für die Sommermonate.
Boris Johnson erholt sich: Am Ostersonntag durfte der britische Premierminister das Spital verlassen. Nun erholt er sich in Chequers, einem Landsitz der Regierung in der Nähe von London. Die vier Tage auf der Intensivstation sieht man Johnson an, wie seine Twitter-Botschaft zeigt. Darin lobt er ausdrücklich eine Pflegerin aus Neuseeland und einen Pfleger aus Portugal. «Sie standen 48 Stunden an meinem Bett, als die Dinge auch anders hätten ausgehen können.» Die Regierungsgeschäfte führt bis auf weiteres sein Aussenminister Dominic Raab.
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Die Offenbarung der Schande: Am 24. März um 20 Uhr trat Premierminister Narendra Modi im Fernsehen auf und gab bekannt, dass ab Mitternacht für ganz Indien ein Lockdown gelte. Das Ergebnis: Chaos im Land der 1,38 Milliarden Menschen. «Während eine entsetzte Welt zuschaute, offenbarte sich Indien in seiner ganzen Schande – seiner brutalen strukturellen, sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit, seiner Gefühllosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber Leid», schreibt Schriftstellerin Arundhati Roy in einem Essay für die «Financial Times». Der Lockdown habe wie ein chemisches Experiment funktioniert, bei dem Verborgenes plötzlich sichtbar wird. «Während sich Wohlhabende und Mittelschichten in ihre geschlossenen Wohnanlagen zurückzogen, fingen unsere Städte und Megastädte an, ihre Einwohner aus der Arbeiterschicht, die Wanderarbeiter, auszustossen wie unerwünschte Substanzen.» Die «Zeit» hat den Essay auf Deutsch übersetzt.
Von der Auslöschung bedroht: Gravierende Folgen hat das Virus nicht nur im bevölkerungsreichen Indien. Sondern auch für eine der kleinsten Gemeinschaften der Erde: jene der Samaritaner. Soll es zu biblischen Zeiten eine Million «Samariter» gegeben haben, existieren heute nur noch 800. Die meisten von ihnen leben im Westjordanland. «Spiegel online» hat dort angerufen. «Wir Samaritaner sind so wenige», sagt Abdullah Cohen. «Jeder Tod bringt uns näher an die Auslöschung.»
Ein gestrandeter Wal, selbst ernannte Experten – und zu viel Dynamit: Diese schmucke Geschichte mit einer, wie wir finden, wunderbaren Lektion für Corona-Zeiten wollen wir Ihnen nicht vorenthalten. Es geht um kilometerweit herumfliegende Walfleisch-Fetzen und einen verrottenden Pottwal. Igittigitt. Was das wohl mit dem Coronavirus zu tun hat? Lesen Sie selbst, was sich 1970 im US-Bundesstaat Oregon zugetragen hat.
Frage aus der Community: Weshalb sterben mehr Männer als Frauen an Covid-19?
Mit dem Virus Sars-CoV-2 stecken sich ähnlich viele Frauen wie Männer an. Sind sie einmal infiziert, sterben bisher aber deutlich mehr Männer daran. Das zeigen eine Studie der ersten fast 45’000 Fälle in China, die Schweizer Fallzahlen sowie Daten aus Italien und Südkorea.
Wissenschaftler können bisher erst vermuten, woran die höhere Sterberate bei den Männern liegt. Sie könnte mit Verhaltensweisen oder mit biologischen Faktoren zusammenhängen.
Rauchen ist bei Männern stärker verbreitet, Händewaschen weniger – möglicherweise wird ihnen das zum Verhängnis. Männer tendieren zudem dazu, später medizinische Hilfe aufzusuchen als Frauen – manchmal zu spät.
Frauen haben generell robustere Immunsysteme als Männer (dafür sind Frauen anfälliger auf Autoimmunkrankheiten). Das hängt mit ihren Chromosomen zusammen: Das Virus Sars-CoV-2 gerät via ein Enzym in menschliche Zellen. Die Gene für dieses Enzym sind auf dem X-Chromosom codiert. Sind es nun Gene, die – eine weitere Annahme aus der Wissenschaft – die Symptome von Covid-19 verschärfen, könnten Frauen sie durch ihr zusätzliches X-Chromosom kompensieren. Männern dagegen bleibt dann bloss noch ein Y-Chromosom. Ebenfalls ist denkbar, dass Östrogen einen schützenden Effekt hat.
In den USA erheben die Behörden die Covid-19-Fallzahlen nicht nach Geschlecht. Das ist, vorsichtig ausgedrückt, nicht ideal – Männer und Frauen reagieren unterschiedlich auf Viren, aber auch auf Medikamente und Impfstoffe. Deshalb wäre es für die Gesundheit künftiger Patienten eigentlich zentral, Daten nach Geschlechtern getrennt zu erheben.
Zum Schluss eine gute Nachricht: Tief einatmen, liebe Natur, tief einatmen …
Zum ersten Mal seit Jahrzehnten ist der Himalaja von Hunderte Kilometer entfernten Städten in Indien und Pakistan aus zu sehen. Dank Corona. Weil die Regierungen die Mobilität stark eingeschränkt haben, ist die Luftverschmutzung rund um das höchste Gebirge der Erde signifikant zurückgegangen.
Ähnlich positive Auswirkungen auf die Umwelt hat die Pandemie auch in der Schweiz, wie Wissenschaftsjournalist Arian Bastani in der Republik-Rubrik «Auf lange Sicht» aufzeigt. So sank die Stickoxidkonzentration in der Luft an der Autobahn A1 im solothurnischen Härkingen in der zweiten Märzhälfte um 30 Prozent, an der Universität Lugano gar um 57 Prozent – eine Folge des Lockdown, dank dem momentan viel weniger fossile Energieträger verbraucht werden als üblich.
Abgenommen hat in den letzten Wochen auch das Grundrauschen der Zivilisation (der seismische Lärm). Zugleich ist die Nachfrage nach Erdöl zusammengebrochen. Kurzum: Covid-19 verschafft der Natur eine Verschnaufpause. Und hilft den Staaten, ihre Klimaziele zu erfüllen.
Mehr als fraglich allerdings bleibt, ob diese Entwicklung anhält. Oder ob die Verschnaufpause für die Natur halt doch nur so lange andauern wird, wie das Coronavirus unser Leben bestimmt.
Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.
Bis morgen.
Dennis Bühler, Daniel Graf, Marie-José Kolly und Cinzia Venafro
PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.
PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.
PPPS: «VierzigTageBuch – Leben und Lesen im Ausnahmezustand»: Unter diesem Motto beschreiben Autorinnen und Autoren des Zürcher Rotpunktverlags täglich, was sie während des Lockdown erleben.
PPPPS: Seit heute gehört der «Mister Corona» zur Risikogruppe: Daniel Koch, Covid-19-Delegierter des Bundesamts für Gesundheit, feiert seinen 65. Geburtstag. Allein, versteht sich. Er stosse mit seinen Hunden an, verriet er dem «Blick» im Vorfeld. Wie so viele Pensionäre vermisse er zurzeit seine Enkel am meisten.
PPPPPS: Eine Stimme, ein menschenleerer Dom – und ganz viel Gefühl: Der blinde italienische Startenor Andrea Bocelli hat in Mailand ein Osterkonzert gegeben, das auf Youtube live übertragen wurde. Von «Ave Maria» bis zu «Amazing Grace».