Serielles Gegengift
TV-Serien sind das ideale Format gegen den Quarantäne-Koller. Aber nur, wenn sie was taugen. Vier aktuelle Empfehlungen einer bekennenden Binge-Watcherin.
Von Karin Cerny, 22.04.2020
Nach wochenlanger Selbstisolation ist es nun amtlich: Wir brauchen weiterhin Geduld – und solange kein Impfstoff da ist, wenigstens ein wirksames Mittel gegen die Langeweile. Gute TV-Serien sind ein ideales Gegengift. Doch der Markt wird überschwemmt, da ist es schwierig, den Überblick zu behalten. Welche aktuellen Serien lohnen sich wirklich?
Eine kleine Auswahl.
Öko-Thriller mit Twist: «Ragnarök»
Es ist der wärmste April seit 20 Jahren. Euphorisch klingt es aus dem lokalen Radiosender, der, wie alles in der fiktiven norwegischen Kleinstadt Edda, der Industriellenfamilie Jutul gehört. Vom Klimawandel wollen die Jutuls, die unter dem schmelzenden Gletscher illegal Giftmüll lagern, freilich nichts wissen. Und wer sollte schon aufbegehren in der idyllischen Fjord-Landschaft, in der jede von der Jutul-Fabrik abhängig ist?
Die dänische Netflix-Serie «Ragnarök» ist ein beklemmender Öko-Thriller, zugleich hat sich «Borgen»-Autor Adam Price einen aberwitzigen Twist ausgedacht: Die Ausbeuter sind Figuren aus der nordischen Mythologie, die seit Jahrtausenden unerkannt unter den Menschen leben. Mit Magne (David Stakston), einem stoischen Teenager, der mit seiner Mutter in seinen Heimatort zurückkehrt, bekommen sie ernsthafte Konkurrenz – ragnarök steht im Altnordischen für «Schicksal der Götter». Der Junge wirft einen Hammer über 500 Meter weit. Und muss zu seiner Verwunderung feststellen: Er ist eine Inkarnation des nordischen Gottes Thor.
So aufgesetzt das auch klingt, «Ragnarök» ist eine herausragende Serie, allein schon wegen der Atmosphäre, die hier eindrücklich heraufbeschworen wird.
Da ist das Dorf, in dem alle demselben Arbeitgeber ausgeliefert sind. Der wohnt in einer Neureichen-Villa, die symbolisch hoch über den Einwohnern thront. Keiner wagt, die Stimme gegen ihn und sein Unternehmen zu erheben, obwohl sich die Krankheitsfälle häufen, weil der Giftmüll das Wasser verseucht.
Wie hier knallharter Realismus auf Sagenwelt prallt, wie eine bedrückende Stimmung von Erduldung und Schweigen eingefangen wird – das ist für ein Unterhaltungsformat ziemlich gewagte Sozialkritik. Die Special Effects halten sich in Grenzen, stattdessen stehen wortkarge Teenager im Zentrum, die gegen die korrupte Erwachsenenwelt kämpfen. Und am skandinavischen Saubermann-Selbstverständnis nagen: Schliesslich fusst der immense Wohlstand Norwegens auf seinen umweltbelastenden Ölbohrungen.
Action meets Feminismus: «Killing Eve»
Online-Anbieter wie Netflix & Co. durften in den vergangenen Wochen mit erhöhtem Zuschaueraufkommen rechnen. Was soll man in der Quarantäne sonst machen? Viele Outdoor-Aktivitäten fallen flach.
Aufgrund der Pandemie wurden sogar Sendestarts nach vorne verlegt. So hätte die dritte Staffel der britischen Serie «Killing Eve» über die Auftragskillerin Villanelle (Jodie Comer) und ihre obsessive Beziehung zu Ermittlerin Eve Polastri (Sandra Oh, bekannt aus «Grey’s Anatomy») erst am 26. April anlaufen sollen. Nun wurde die erste Folge bereits am 12. April bei BBC America ausgestrahlt (im deutschsprachigen Raum hat die Streaming-Plattform Starzplay die Rechte erworben).
In «Killing Eve» spielen Männer bloss Nebenrollen, die wahren Kämpfe tragen Frauen untereinander aus – was gerade für das Crime-Genre neu ist, das charismatische Serienmörder gern mit Männern besetzt.
Aber nicht nur dieses feministische Moment macht diese Serie so ungewöhnlich und aufregend. Phoebe Waller-Bridge («Fleabag») hat als Produzentin und phasenweise auch als Schreiberin für abgründigen Humor gesorgt, was man in einem Agententhriller nicht zwangsläufig erwarten würde. Schon der Beginn der ersten Staffel macht klar, mit wem man es zu tun hat: Villanelle sitzt in einem Eissalon, ein kleines Mädchen lächelt sie an. Sie versucht zurückzulächeln, was ihr aber nur bedingt gelingt: Emotionen sind nicht gerade die Stärke der kaltblütigen Auftragskillerin. Beim Verlassen des Lokals stösst sie den Eisbecher des Kindes um und freut sich diebisch daran, dass das bekleckerte Mädchen zu weinen beginnt.
Villanelle liebt Mode und Luxus über alles, sie sieht nicht aus, wie man sich Serienkiller vorstellt. Gerade wenn man sie ins Herz geschlossen hat, begeht sie einen dermassen brutalen Mord, dass man geschockt ist. Raffiniert, wie da die Gefühle der Zuschauenden manipuliert werden.
Die dritte Staffel, die gerade angelaufen ist, spielt ihre alten Trümpfe geschickt aus: Die ehemalige russische Ausbildnerin der Auftragskillerin bekommt gleich zu Beginn einen denkwürdigen Auftritt. Jede der handelnden Figuren möchte ihrem alten Leben entfliehen, aber es zeichnet sich bereits ab, wie schwierig bis unmöglich das sein wird.
«Killing Eve» ist, was den ungewöhnlichen Zugang zu sattsam bekannten Stoffen angeht, ein Meilenstein. Wie in einem klassischen «James Bond» jettet Villanelle, die eigentlich aus Russland stammt, um den Globus, um ihre Jobs zu erledigen, spricht unzählige Sprachen. Schauspielerin Jodie Comer wechselt souverän zwischen den Akzenten. Villanelle ist auch ähnlich promiskuitiv wie Bond, nur dass sie Männer wie Frauen abschleppt. Bei der Ausstattung wurde nicht gespart. Sogar die «Vogue» berichtete jüngst ausgiebig, welche Labels die Hauptfigur gern trägt.
In den meisten anderen aktuellen Serien wird die Welt hingegen nicht neu erfunden. Man mischt gängige Formate, erzeugt Hybride. Die trotzdem bestens funktionieren.
Familiendrama mit düsterem Humor: «Succession»
Die HBO-Serie «Succession» ist das grelle Familienporträt eines fiktiven amerikanischen Medienmoguls. Diesen Sommer soll die dritte Staffel auf Sendung gehen, und wer die ersten beiden Staffeln noch nicht gesehen hat, kann das jetzt wunderbar nachholen.
«Succession» ist Shakespeare in Serienformat.
Nicht ohne Grund heisst der Unterhaltungsmogul Logan Roy, er benimmt sich auch wie ein König, spielt seine Kinder gegeneinander aus, intrigiert gegen Konkurrenten, kurz: Er ist ein Ekel sondergleichen. Eine Art König Lear, der nicht abtreten möchte. Kein Mittel ist schmutzig genug, um an der Macht zu bleiben. Zwei seiner drei Söhne keilen um die Macht, seine Tochter, eigentlich die Klügste, hat es als Frau in der Männerwelt noch schwerer. «Succession» ist bei all seiner verbalen Brutalität trotzdem hochkomisch. Die Dialoge sind scharf wie Messerklingen, die Figuren durch die Bank unsympathisch, man kann sich mit keinem identifizieren. Und trotzdem leidet man mit. Wie verzweifelt sie ständig um die Gunst des Vaters buhlen!
Als Vorbilder der HBO-Drama-Serie werden News-Corp-Gründer Rupert Murdoch genannt sowie der dänische Dogma-Film «Das Fest». Tatsächlich erinnern die mitunter unruhige Kamera, das Heranzoomen an verzweifelte Gesichter, sowie die emotionale Dichte an diesen Filmklassiker von 1998, in dem ein mittlerweile erwachsener Mann inmitten einer Familienfeier offenbart, dass sein Vater ihn in der Kindheit sexuell missbraucht hat.
Wie zäh es sein kann, mit der Wahrheit durchzudringen. Auch in «Succession» dauert es, bis die übermächtige Vaterfigur endlich Risse bekommt. Aber sie bekommt sie …
Junge Aussenseiter mit Tiefgang: «I Am Not Okay with This»
Das Teenie-Drama «I Am Not Okay with This», derzeit auf Netflix zu sehen, bedient sich in Sachen Sympathie mit Aussenseitern, die über sarkastischen Witz verfügen, bei der famosen Kurzserie «The End of the F***ing World». Zudem gibt es Ähnlichkeiten mit dem Kassenschlager «Stranger Things», der die Geschichte eines Monsters, das die Erde zu vernichten droht, mit ganz normalen Pubertätsnöten zusammenschweisste und dabei die Ära der 1980er-Jahre wieder aufleben liess.
Auf Unheimliches und Alltägliches setzt auch «I Am Not Okay with This»: Die 17-jährige Schülerin Sydney Novak (grandios gespielt von Sophia Lillis) entdeckt, dass sie telekinetische Superkräfte hat – was für einen Teenager, der zu Wutausbrüchen neigt, fatal sein kann. Sie vertraut sich ihrem nerdigen Nachbarjungen Stanley Barber (Wyatt Oleff) an, der sich kleidet, als ob er direkt aus einem Wes-Anderson-Film stammen würde. Dass sie heimlich in ihre beste Freundin verliebt ist, wird im Laufe der Serie zu einem zentralen Thema.
Ähnlich wie «Stranger Things» macht die Serie Mut, zu sich selbst zu stehen. Aussenseiter sind die wahren Helden: nicht nur, weil sie zwangsläufig über eine grosse Portion Selbstironie verfügen, sondern auch, weil sie aus der Distanz beobachten können, was andere unreflektiert durchleben. Sie sind nicht im System gefangen, sondern werfen von aussen einen kritischen Blick darauf.
In einer Szene sitzen Sydney und Stanley am Rand eines American-Football-Feldes, betrachten die Highschool-Stars beim Training, lachen darüber, wie klischeehaft sie sich verhalten, sowohl beim Sport als auch in ihren nur auf Status angelegten Beziehungen. Während es für Sydney und Stanley später erst richtig losgehen wird, sind ihre Mitschüler und Mitschülerinnen bereits am Höhepunkt ihres Lebens angelangt.
«I Am Not Okay with This» macht sich nicht einfach über klassische Highschool-Formate lustig. Die Serie beweist vielmehr einen avancierteren Zugang, setzt ästhetisch auf eine Welt, die zwar in den 1980er-Jahren angesiedelt ist, aber irgendwie auch zeitlos aktuell bleibt. Nicht zuletzt ist da der Soundtrack von Roxy Music über Prefab Sprout bis zu den Pixies, der die älteren Zuschauerinnen auf Erinnerungsreise schickt: Man wünscht sich, man hätte in der eigenen Jugend solche Serien zur Hand gehabt – mit Jugendlichen, die ziemlich erwachsen und klug agieren.
Übrigens
Wer in der Coronavirus-Quarantäne Serien schaut, befindet sich in guter Gesellschaft. Auch der slowenische Philosoph Slavoj Žižek gestand der NZZ, dass ihm die eine oder andere Krimiserie geholfen habe, die Selbstisolation leichter zu ertragen. Es sei gerade nicht die Zeit, sich mit dem ultimativen Abgrund unseres Seins zu beschäftigen, betont er. Er rät vielmehr dazu, sich «fröhlich all deinen verbotenen Freuden» hinzugeben, wie «katastrophalen Dystopien, den täglichen Sitcoms mit dem Konservengelächter (…), Podcasts auf Youtube über die grossen Schlachten der Vergangenheit».
Also Binge-Watching ganz ohne Scham? Selten war philosophischer Rat lebensnaher als in diesen schwierigen Tagen.
Karin Cerny lebt in Wien. Sie schreibt regelmässig über Theater, Literatur und Kulturpolitik im Wochenmagazin «Profil» sowie Reise- und Modegeschichten für «Rondo», die Beilage der Tageszeitung «Der Standard». Auch für die Republik schreibt sie regelmässig – zuletzt über Transgender in TV-Serien.