Liebe Leserinnen und Leser
«Schiri, das ist ein Penalty! Ein Penalty, taminomol!»
Haben Sie sich auch schon mal gewundert, dass der Zuschauer am Spielfeldrand jetzt wieder besser weiss als der Schiedsrichter, ob das ein Penalty ist? Oder gehören Sie selbst zu denen, die dem Schiri wegen der doch offensichtlich vollkommen falsch eingeschätzten Situation alle Schande sagen würden, wenn er denn nur zuhörte?
Wir befinden uns gerade in einem enormen digitalen Stadion. Es treten auf:
Auf der gesamten Anlage ein ziemlich ansteckendes, ziemlich tödliches Virus.
Auf Sitz- und Stehplätzen viele schreiende Zuschauer.
Auf dem Rasen: Wissenschafterinnen. Gesundheitsbeamte. Journalistinnen, die sauber recherchieren und Unsicherheiten benennen – und andere. Bloggerinnen, die sich «Expertin» nennen, aber die Expertise nicht wirklich haben – zumindest nicht in dem Feld, über das sie schreiben. Influencer, die sich gar nicht gross «Experte» nennen, aber von den Zuschauern als solche wahrgenommen werden.
Ein solcher Influencer ist Tomas Pueyo – Ingenieur und Manager. Die Texte, die er zum Coronavirus auf der Plattform «Medium» veröffentlicht hat, fanden weltweit Beachtung und wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Es sind keine Fake News und keine Verschwörungstheorien. Pueyo hat ziemlich sicher die besten Absichten.
Aber seine Texte unterliegen keinem Factchecking und keinem Peer Review. Die Plattform «Medium» verlangt nicht, dass die wenigen Quellen, die er angibt, verifiziert werden. Oder dass Fachleute vor der Publikation seine Einordnung überprüfen. Und der Autor nimmt es mit der Präzision nicht so genau, wie er gegenüber «Buzzfeed» selber sagt: «Man will die Botschaft so schnell wie möglich an die Leute bringen und sie korrigieren, wenn sie falsch ist. Man entscheidet zuerst und korrigiert später.» Im Internet geht das. Aber so funktioniert seriöse Information nicht. In der Wissenschaft nicht und übrigens auch im Journalismus nicht – wenn er denn etwas wert sein soll.
Nun geht es hier gar nicht so sehr darum, was Influencer tun – wir leben in einer freien Welt und mit einem freien Internet. Jeder darf posten, was er will.
Es geht vielmehr darum, wem wir zuhören sollten.
Die digitale Informationsarchitektur verstärkt nicht immer die Stimmen, die am meisten zu sagen hätten. Wissenschafter haben sich ein Leben lang mit den Fragen beschäftigt, über die sie sprechen. Sie haben jahrelange, jahrzehntelange Expertise und Erfahrung – in Epidemiologie, Virologie, Medizin. Sie haben während dieser Jahre zahlreiche Prüfungen abgelegt, ihre Arbeit wird regelmässig verifiziert. Aber Pueyo – Ingenieur und Manager – haben viel mehr Leute zugehört.
Beim Fussballspiel hört man am Ende auf den Schiedsrichter. Weil man muss. Nicht auf die Spieler, nicht auf den Zuschauer, auch nicht auf die Funktionäre, mögen sie noch so laut schreien im Stadion.
In einer liberalen Demokratie sind die Entscheidungsprozesse zum Glück etwas differenzierter. Umso mehr stellt sich die Frage: Wem wollen wir zuhören? Aufgrund welcher Informationen wollen wir Entscheidungen fällen?
Der Schiedsrichter muss die Expertise des Videoassistenten berücksichtigen. Dieser hat in der Regel harte Beweise für eine vernünftige Entscheidung.
Im Stadion der liberalen Gesellschaft dürfen Sie natürlich zuhören, wem Sie wollen. Aber es ist ratsam, immer zu wissen, wem Sie zuhören. Besonders bedenklich ist es, wenn das politische Entscheidungsträger versäumen. Und wenn sie, wie es in Deutschland passiert ist, in einem Strategiepapier den Text eines Influencers als Best-Case-Szenario zitieren. Pop-Epidemiologie sollte wahre Expertise nicht überstimmen, wenn es um Entscheide für die Allgemeinheit geht.
Lasst uns die Bedeutung wahrer Expertise nicht unterschätzen. Epidemiologie ist ein komplexes Fach. Es ist nicht einfach «ein bisschen Rechnen», wie manche glauben.
Wenn Sie mögen: Hören Sie doch Epidemiologen zu, wenn es um die Verbreitung eines Virus geht. Virologinnen, wenn Sie etwas über sein Verhalten im menschlichen Körper lernen wollen. Wirtschaftswissenschaftern, wenn Sie wissen möchten, mit welchen Strategien man während der Corona-Krise Arbeitsplätze erhalten könnte (aber eher nicht, wenn es um die Frage geht, welche Leben schützenswert sind und welche nicht – Wirtschaftswissenschafter sind keine Ethiker).
Der Job von Exekutivpolitikerinnen ist es dann, mit vernünftiger Beratung informierter Experten vernünftige Entscheidungen zu treffen. Das Spiel sollten nicht die lautesten Laien entscheiden.
Die wichtigsten Nachrichten des Tages
Die neuesten Fallzahlen: Gemäss Zahlen, die das Statistische Amt des Kantons Zürich aus den Daten der einzelnen Kantone zusammenstellt, zählt die Schweiz heute mindestens 22’806 positiv auf Covid-19 getestete Personen. Am 25. März waren es noch rund 11’000 – die Fallzahlen verdoppeln sich derzeit innerhalb von rund 13 Tagen. Vor einer Woche verdoppelten sie sich noch in rund 9 Tagen.
Lockdown wird verlängert: Auch wenn sich Covid-19 in der Schweiz mittlerweile langsamer verbreitet, verlängert der Bundesrat die getroffenen Massnahmen um eine Woche bis Sonntag, 26. April. Dann aber sollen die Massnahmen vorsichtig und schrittweise gelockert werden. Kriterien hierfür seien zum einen die Anzahl der Neuinfektionen und die Anzahl der Spitaleinweisungen und der Todesfälle; zum anderen sei entscheidend, wie gut die Massnahmen zum Abstandhalten und zur Hygiene bis dahin eingehalten würden. Über die Etappen der Lockerung will der Bundesrat am 16. April entscheiden.
Unterstützung für die Swiss: Der Bundesrat will die von der Corona-Pandemie stark betroffene Schweizer Luftfahrt vorübergehend unterstützen. Im Vordergrund stünden Garantien des Bundes für Fluggesellschaften. Profitieren dürfte in erster Linie die Swiss. Die Garantien sollen an strenge Bedingungen geknüpft und nur vergeben werden, wenn die Airlines ihren Liquiditätsbedarf nicht anderweitig decken können.
Selbstständige leiden: Vergeblich auf Hilfe hoffen hingegen nach wie vor die Selbstständigerwerbenden. Sie leiden genauso unter den Einschränkungen, profitieren aber nicht vom Hilfspaket des Bundes. Wie schon vergangene Woche sagte Wirtschaftsminister Guy Parmelin dazu lapidar: «Wir arbeiten an einer Lösung für diese Personen. Aber die Thematik ist sehr komplex.»
Onlinehändler helfen der Post: Wegen der Abstandsregeln des Bundes kann die Post die Päckliflut nicht bewältigen. Inzwischen haben sich Onlinehändler und Logistikfirmen bereit erklärt, den gelben Riesen zu unterstützen. Sie wollen nun unter anderem bei der Sortierung und beim Transport helfen und mehr Ware über Abholstationen verkaufen.
Kleinstfirmen werden teilweise die Mieten erlassen: Die grösste private Immobilienbesitzerin Swiss Life hat angekündigt, Kleinstunternehmen und Selbstständigen «auf individueller Basis» die Miete zu reduzieren. Auch Helvetia will «besonders hart getroffene Mieter» unterstützen: Der Versicherungskonzern verzichtet auf einen Teil der Miete und verschickt bis Ende Juni weder Zahlungserinnerungen noch Mahnungen.
EU tut sich weiterhin schwer: Seit Tagen ringen die europäischen Finanzminister um das vorgeschlagene, 500 Milliarden Franken schwere Corona-Krisenpaket. Auch in der vergangenen Nacht blieben sie erfolglos – trotz 16-stündiger Videokonferenz. Morgen wollen sie einen weiteren Versuch unternehmen. Die EU gibt in der Bewältigung der Pandemie damit weiterhin ein denkbar schlechtes Bild ab. Deshalb erklärte der Chef des Europäischen Forschungsrats am Dienstag seinen sofortigen Rücktritt nach nur 3 Monaten im Amt.
Die besten Tipps und interessantesten Artikel
Die Kolumnistin der «Washington Post» Alexandra Petri ist definitiv keine Epidemiologin, wie sie absurd-ironisch darlegt. Eine Kostprobe: «Wenn ich eine Meinung zu den aktuellen Geschehnissen wagen sollte, wäre es eine Kombination von Spekulation und diesem Gefühl, das ich immer schon hatte, dass ich viel klüger bin, als ich eigentlich bin; dass, wenn ich wirklich fest genug auf einen französischen Satz starre, ihn dann plötzlich instinktiv verstehe. Wer auch immer mir sagt, dass das zu wenig Expertise ist, um eine überzeugte Meinung zu wagen, online, während einer Pandemie, dem antworte ich: ‹Où est la salle de bain?!›»
Aus der Corona-Umfrage der SRG, die das Forschungsinstitut Sotomo Anfang April zum zweiten Mal durchgeführt hat, ergeben sich folgende Erkenntnisse:
Die Schweizer halten sich vermehrt an social distancing: Kontakte ausserhalb des eigenen Haushalts sind seit der letzten Umfrage zurückgegangen.
Die Mehrheit der Befragten ist offen gegenüber einer Contact-Tracing-App.
Ebenfalls eine Mehrheit möchte die eigene Bewegungsfreiheit über die Ostertage stärker eingeschränkt haben.
Das lineare Fernsehen gehört zu den grossen Corona-Gewinnern, zumindest bei Medienkonsumenten ab 40 Jahren. Jüngere nutzen eher Onlinevideos und Streamingangebote. Das zeigt eine Umfrage zum Medienkonsum im Lockdown, durchgeführt in den USA und in Grossbritannien, wunderbar aufbereitet von visualcapitalist.com.
Frage aus der Community: Ist Homeoffice ungesund?
Es sieht ganz danach aus. Und Sie spüren es wahrscheinlich schon selbst. Oder wer hat nach drei Wochen etwa noch keine Rücken- oder Nackenschmerzen? Eben.
Ergonomen sagen, wir würden im Homeoffice so ziemlich alles falsch machen, was man falsch machen könne. Mit dem Laptop auf dem Sofa oder im Bett liegen geht schon mal gar nicht. Und selbst wenn man sich an den Wohnzimmertisch setzt: Länger als eine Stunde pro Tag sollte man nicht am Laptop arbeiten. Es sei denn, man hat eine mobile Tastatur, eine separate Maus und – ja, genau – einen externen Bildschirm. Ansonsten leiden mittelfristig Nacken, Rücken, Hände und Arme.
Selbst die Gesundheit unserer Augen gefährden wir im Homeoffice. Dann nämlich, wenn wir das Fenster entweder im Rücken (Spiegelung!) oder vor dem Gesicht (zu helles Licht!) haben. Die einzige Lösung: seitlich zum Fenster sitzen.
Das mit der Sitzhöhe oder dem Stehen oder der Bewegung ersparen wir Ihnen an dieser Stelle. Das Ziel dieses Newsletters ist ja nicht, Ihnen jegliche Lebensfreude zu nehmen. Falls Sie dennoch masochistisch veranlagt sind, empfehlen wir Ihnen dieses Video. Es stammt zwar aus dem Jahr 2010, ist aber an Aktualität nicht zu überbieten. Selbst die Suva empfiehlt es.
Zum Schluss eine gute Nachricht: Viele von uns sind trotz Virus und Lockdown optimistisch
Die bereits weiter oben erwähnte Corona-Umfrage der SRG deutet auch darauf hin, dass heute mehr Schweizerinnen und Schweizer ihr Zuhause für Spaziergänge oder für Sport verlassen als bei der ersten Befragung vom 22. März. Ob Bewegung und Zeit an der frischen Luft die Zuversicht nähren, wissen wir nicht. Jedenfalls sind mittlerweile mehr Befragte optimistisch, was den Ausgang der Corona-Krise angeht. Besonders schön: Die Menschen sind über alle Alterskategorien und Sprachgebiete hinweg optimistischer geworden.
Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund – und optimistisch.
Bis morgen.
Philipp Albrecht, Dennis Bühler, Oliver Fuchs und Marie-José Kolly
PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.
PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.
PPPS: Dank Lockdown haben auch die Pandas im Hongkonger Zoo etwas mehr Privatsphäre. Das wirkt sich nun offensichtlich positiv auf ihr notorisch zurückhaltendes Paarungsverhalten aus. Ganz nach dem Motto: «Ich kann nicht, wenn du guckst.»