Liebe Leserinnen und Leser (und heute besonders: liebe Lehrerinnen, liebe Schüler)
Bald beginnen in den meisten Kantonen die Schulferien. Und schon seit dreieinhalb Wochen wird nur noch aus der Ferne unterrichtet: Rund 600’000 Kinder in der Schweiz dürfen seit dem 16. März nicht mehr in die Schule.
Zeit, um mal nachzufragen, dachten wir uns. Wie geht ein Lehrer und Familienvater damit um, dass plötzlich alle Strukturen weggefallen sind? Funktioniert das Unterrichten via Videokonferenz? Und wie hat sich seine Beziehung zu seinen Schülerinnen und Schülern verändert?
Marcel Hänggi arbeitet als Deutschlehrer an einem Gymnasium sowie als freischaffender Journalist. Für den Covid-19-Uhr-Newsletter berichtet er aus seinem Alltag:
«Im Lockdown haben manche Leute plötzlich sehr viel Zeit und andere zu wenig. Einer der wichtigsten Faktoren, die den Unterschied ausmachen, ist, ob man Schulkinder hat.
Ich bin es gewohnt, mehrere Berufe gleichzeitig auszuüben. Als letzter Beruf kam hinzu, dass ich an einem Gymnasium ein kleines Pensum Deutsch unterrichte. Seit dem Lockdown sind ich und meine Frau nun auch noch Lerncoaches (um es mal so zu nennen) unserer jüngeren Tochter. Mehrere Dinge gleichzeitig im Auge haben: Das kann ich. Aber die Unmöglichkeit, länger als ein oder zwei Stunden konzentriert an einer Sache zu arbeiten, macht mir zu schaffen.
Software-Tools helfen: Damit kann ich Aufträge so planen, dass die App sie zum gewünschten Termin an meine Klasse verschickt. Das ist äusserst praktisch – und führt dazu, dass ich eigentlich immer arbeite (man kann einmal bereitgestellte Aufträge jederzeit ändern, verbessern; perfekt sind sie ja nie …). Staffan B. Linder hat es vor fünfzig Jahren beschrieben: Zeitsparende Innovationen «sparen» keine Zeit, sondern lassen einen in dieselbe Zeit mehr reinstopfen.
Effizienz ist ein lebensfeindliches Prinzip.
Zu Beginn des Fernunterrichts wollte ich meiner Klasse möglichst viel Freiheit lassen: Arbeiten Sie, wann Sie wollen! Aber ich stellte rasch um und unterrichte nun viel per Videokonferenz. Sähe ich nur noch die schriftlichen Arbeiten meiner Schülerinnen und Schüler, die ich unter ständigem latentem Stress zu korrigieren versuche: Mein Bild von ihnen wäre bald ziemlich verzerrt. Ich muss meine Klasse sehen und hören, und auch die Klasse braucht den direkten Austausch. Zudem ist es für Kinder und Jugendliche schwierig, sich selber eine Tagesstruktur geben zu müssen und sich dann auch daran zu halten. Meine elfjährige Tochter verzweifelt immer wieder, weil sie es nicht geschafft hat, die selbst gesetzten Zeiten einzuhalten.
Immerhin kann ich sie unterstützen. Was ist mit den Kindern, deren Eltern nicht helfen können – weil sie immer noch ausser Haus arbeiten, weil sie nicht Deutsch können oder fachlich überfordert sind?
Die positive Überraschung des Fernunterrichts ist das Gefühl, meinen Schülerinnen und Schülern nähergekommen zu sein. Sie kommentieren meine Aufträge mit Emojis. In den fünf Minuten, bis alle in eine Videokonferenz eingewählt sind, smalltalken wir. Dreimal pro Woche erteile ich einen kleinen Schreibauftrag; oft geht es darum, die Lockdown-Erfahrung zu reflektieren (hier ein paar Auszüge, von der Klasse selbst gelayoutet). Fast alle erledigen die Aufgabe, auch ohne die extrinsische Motivationskeule der Noten. Während sich in einer typischen Lektion Präsenzunterricht vielleicht ein Drittel der Klasse zu Wort meldet, habe ich so von fast jeder und jedem eine Wortmeldung und gebe jeder und jedem ein kleines, persönliches Feedback. Es schafft ein Gefühl, gemeinsam eine aussergewöhnliche Situation zu erleben.
Ein Schüler hat mich gefragt, ob ich die Klasse weiterhin mit Schreibaufträgen versorgen könne, wenn meine Stellvertretung zu Ende sei; das seien Highlights seiner Lockdown-Wochen. Made my day! 😊»
Die wichtigsten Nachrichten des Tages
Die neuesten Fallzahlen: Gemäss Zahlen, die das Statistische Amt des Kantons Zürich aus den Daten der einzelnen Kantone zusammenstellt, zählt die Schweiz heute rund 22’000 positiv auf Covid-19 getestete Personen. Am 25. März waren es noch rund 11’000 – die Fallzahlen verdoppeln sich derzeit innerhalb von rund 13 Tagen. Vor einer Woche verdoppelten sie sich noch in rund 9 Tagen.
Besserung im Tessin: In den zwei Covid-19-Krankenhäusern in Locarno und Lugano stehen 655 Betten zur Verfügung. Vor einer Woche lagen dort 415 Patienten, gestern waren es noch 329. «Es gibt endlich mehr heimkehrende Patienten als solche, die ins Krankenhaus kommen», sagte Paolo Ferrari, der medizinische Direktor der Tessiner Kantonsspitäler, zur NZZ. Die Lage entspanne sich. Aber der Arzt warnt davor, zu schnell zur Tagesordnung überzugehen. Sonst drohe eine zweite Corona-Welle.
Arbeitslosigkeit steigt rasant: Trotz Kurzarbeit und staatlicher Massnahmen ist die Zahl der Arbeitslosen in der Schweiz von Februar auf März stark gestiegen: rund 18’000 sind neu arbeitslos, insgesamt sind es mehr als 135’000 Personen. Die Arbeitslosenquote erhöht sich damit von 2,5 auf 2,9 Prozent, wie das Staatssekretariat für Wirtschaft heute mitteilte. Zum Vergleich: Im März 2019 lag die Quote bei 2,4 Prozent. Sie dürfte auch in den kommenden Monaten hoch sein, denn die Frist läuft bei vielen der Gekündigten noch, sie werden also erst später Arbeitslosengelder beziehen. Am stärksten betroffen ist bisher das Gastgewerbe, in der Landwirtschaft dagegen nahm die Arbeitslosigkeit leicht ab.
Parlament nimmt die Arbeit auf: In einem Monat treffen sich National- und Ständerat zu einer ausserordentlichen Session, die wegen der Corona-Krise auf dem Berner Expogelände statt im eng bestuhlten Bundeshaus stattfinden wird. Absegnen soll die Legislative unter anderem das staatliche Hilfspaket, das der Bundesrat am Freitag auf 40 Milliarden Franken verdoppelt hat, sowie die Einberufung Tausender Armeeangehöriger. Die verschiedenen Kommissionen werden sich zur Vorbereitung auf diese Session im grössten Sitzungszimmer des Bundeshauses treffen oder im nahen Hotel Bellevue – oder per Videokonferenz. Ende vergangener Woche hatten sich mehrere Politiker öffentlich über den reduzierten Parlamentsbetrieb beschwert.
Wuhan kehrt zur Normalität zurück: Zweieinhalb Monate nach der Abriegelung sind heute Abend die letzten Beschränkungen für die elf Millionen Bewohner der chinesischen Metropole Wuhan aufgehoben worden. Dort hatte die Pandemie im Dezember ihren Anfang genommen. Nun dürfen die Menschen wieder mit dem Zug reisen, sofern sie gesund sind und in letzter Zeit keinen Kontakt zu Infizierten gehabt haben. Auch Autofahren ist wieder erlaubt, und morgen wird der Flugverkehr wieder aufgenommen. Die chinesische Regierung glaubt, das Schlimmste überstanden zu haben. (Dafür spricht, dass die Pekinger Gesundheitskommission heute erstmals seit Januar keinen neuen Corona-Todesfall in China verzeichnet hat; allerdings ist umstritten, ob den Angaben zu trauen ist).
Wie geht es Boris Johnson? Der Gesundheitszustand des an Covid-19 erkrankten britischen Premierministers hat sich gestern Abend verschlechtert. Er befindet sich aktuell in der Intensivabteilung. Laut seinem Sprecher ist er aber ansprechbar und muss nicht künstlich beatmet werden.
Die besten Tipps
Vielleicht sind Sie in einer ähnlichen Situation wie Marcel Hänggi. Und haben – wenn auch nicht gerade eine ganze Schulklasse – doch zumindest Ihre eigenen Kinder zu betreuen. Hier ein bisschen Inspiration, falls sich Ihr Nachwuchs während der Frühlingsferien lernbegierig zeigen sollte.
In einer Liste präsentiert die Pädagogische Hochschule Bern Ideen für den Unterricht zu Hause – versehen jeweils mit weiterführenden Links. Für jede Altersstufe ist etwas dabei: So könnten Ihre Kinder beispielsweise Regenwürmer beobachten, einen Trickfilm erstellen oder ein digitales Instrument lernen. Umfassende Hilfe bietet auch die Website «Lernen trotz Corona» der Pädagogik-Experten des Kantons Schwyz. Und die am Tag nach den Schulschliessungen von Eltern und Lehrern gegründete Plattform «Teachen!».
Seit die Schulen wegen Covid-19 geschlossen sind, haben viele Service-public-Sender ihr Kinderprogramm ausgebaut. So strahlt SRF täglich von 9 bis 11 Uhr an Kinder und Jugendliche gerichtete Sendungen aus und hält online unter «SRF mySchool» unter anderem ein Quiz zum Erkennen von Fake News bereit. Der ORF macht Ähnliches in seiner «Freistunde», und die verschiedenen Anstalten der ARD haben ein schier unerschöpfliches Angebot zusammengestellt. Das Beste aber: «Die Sendung mit der Maus» – seit Jahrzehnten die Lieblingssendung der Republik-Redaktion – wird seit drei Wochen nicht mehr bloss sonntags, sondern täglich ausgestrahlt.
Frage aus der Community: Eine New Yorker Tigerin hat Covid-19. Soll ich noch mit meinem Büsi kuscheln?
Sie hat Husten, Fieber und mag nicht mehr so viel fressen: Die New Yorker Tigerdame Nadia ist als erstes Wildtier weltweit positiv auf Covid-19 getestet worden. Laut «National Geographic» hat sie sich höchstwahrscheinlich bei einem Pfleger angesteckt, der selbst keine Symptome hatte. Nebst Zoo-Direktoren sind auch Katzen- und Hundebesitzer in Aufruhr. Ist das vierbeinige Familienmitglied jetzt etwa doch gefährdet? Und gefährdet es wiederum mich?
Die kurze Antwort: Beides ist wohl eher nicht der Fall. Eine schlechte Nachricht könnte die kranke Tigerin aber für Wildtierbestände sein.
Die etwas ausführlichere Antwort: Am 24. März zitierten wir in diesem Newsletter einen Virologen, der sagte, es gebe «bisher keinerlei Hinweise, dass Katzen oder Hunde oder überhaupt Heimtiere bei der Entwicklung dieser Pandemie eine signifikante epidemiologische Rolle spielten». Das scheint nach wie vor zu stimmen.
Denn das Landwirtschaftsministerium der USA beschwichtigt zumindest in eine Richtung: Es gebe bisher keine Belege dafür, dass Wildtiere in Gefangenschaft oder Haustiere einen Menschen anstecken können. Und schon länger weiss man, dass Katzen untereinander Felines Coronavirus übertragen können. So zeigen auch weitere Tiger und Löwen im New Yorker Zoo Symptome der Krankheit Covid-19.
Derweil fürchten Tierschützer um den weltweiten Grosskatzenbestand. Biologe und Grosskatzenforscher John Goodrich sagt zu «National Geographic»: «Wenn Covid-19 auf die Grosskatzenbestände in der Wildnis überspringt und dort für hohe Sterberaten sorgt, könnte sich das Virus zu einer echten Gefahr für die Zukunft dieser Arten entwickeln.»
Und das Büsi? Auf der heimischen Couch sollte ein Mensch mit Covid-19-Symptomen nicht mit seiner Katze schmusen und die Hände vor und nach Kontakt mit ihr gründlich waschen. Weltweit sind bisher zwar nur zwei Hunde in Hongkong sowie eine Hauskatze in Belgien positiv getestet worden. Sie haben sich aber vermutlich bei ihren Besitzern angesteckt. Die gute Nachricht: Bisher hat man bei den Tieren nur milde Krankheitsverläufe beobachtet.
Zum Schluss eine gute Nachricht
Bald ein Monat Lockdown. Heute fragten wir unsere Abonnentinnen und Mitglieder: Wie geht es Ihnen? Viele Antworten hinterlassen ein wohliges Bauchgefühl. So meint etwa Verlegerin M. S., sie sei «achtsamer, schätze das kleine Glück». Sie schreibe «über mir sonst belanglos erscheinende Dinge wie die Mäuse in meinem Keller, die ich zu fangen versuche». Verlegerin J. K. bezeichnet sich zwar als «technisches Dubeli». Trotzdem schreibt sie mittlerweile täglich Geschichten für ihr Grosskind und nimmt diese per Handy auf. Sogar eine Website habe sie gebastelt. Und die Vögel erst! Verleger A. K. erfreut sich an deren Gesang. «Dieses eigenartige Vogelgezwitscher. War das vorher schon immer da?», fragt er sich. Vor Corona hörte er Düsenjets.
Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.
Bis morgen.
Dennis Bühler, Oliver Fuchs, Marcel Hänggi, Marie-José Kolly und Cinzia Venafro
PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.
PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.
PPPS: Galt das Klatschen den Ärztinnen und Pflegern, der Gesundeten oder einfach der Hoffnung? Eine Frau in Sevilla staunte nicht schlecht, als sie vom Spital – geheilt von Covid-19 – nach Hause kam und da die ganze Nachbarschaft zu stehendem Applaus auf ihren Balkonen versammelt war.
PPPPS: Wie wirkt sich das Virus auf die Tätigkeit des Osterhasen aus? Er gelte als systemrelevante Arbeitskraft, erklärte Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern den Kindern ihres Landes. «Aber er kann dieses Jahr Unterstützung beim Ostereier-Verstecken gebrauchen.»