Führen wir gerade einen Krieg gegen Flüchtlinge?
Tränengas, Stacheldraht, Menschenjagd statt humanitäre Hilfe: Wie die Lage an der griechisch-türkischen Grenze derart eskalieren konnte.
Von Anja Conzett und Amir Ali, 16.03.2020
Dieses Chaos. Ausnahmezustand an Europas Grenze, wieder einmal.
Diese Bilder. Neue Bilder, und doch irgendwie bekannt: Armeeuniformen und Stacheldraht, Tränengas auf offenem Feld, Gummiboote im Fluss und an Inselstränden. Zelte und Baracken im Schlamm. Rechtsradikale und Bürgerwehren bewaffnet mit Stöcken, Scherben, Steinen. Flüchtlingshelfer auf der Flucht.
Und vor allem: Menschen. Menschen mit dünnen Jacken in der Kälte, Menschen nackt im Grenzfluss, Menschen schlafend auf dem Waldboden, zu Tausenden zusammenstehend; zwischen Zäunen, Zelten, Baracken. Menschen, die Verletzte über Felder tragen, Menschen, die warten, ums Feuer kauernd. Kinder, die Holz sammeln.
Was ist los?
Die Kurzzusammenfassung: Ende Februar öffnet der türkische Präsident die Grenze zu Griechenland – und kokettiert damit, Flüchtlinge an die Grenze zu schaffen. Griechenland reagiert prompt – und sistiert das Asylrecht, militarisiert die Grenze, Bürgermilizen formieren sich.
In der Woche darauf fliegt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Griechenland und sagt Unterstützung beim Grenzschutz sowie zusätzliche Gelder für das Asylwesen zu.
Am Montag, 9. März, trifft sich von der Leyen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Brüssel, das Treffen bleibt ergebnislos. Diese Woche will Angela Merkel zusammen mit Emmanuel Macron nach Ankara, um erneut mit Erdoğan zu verhandeln.
Was bedeutet das alles für Europa? Was für die Millionen Menschen auf der Flucht?
Wir haben mit einer Migrationsforscherin, einem Türkeiexperten, einem Experten für EU-Recht, einer Soziologin aus Griechenland und unserer freien Mitarbeiterin auf Lesbos die drei Schauplätze der jüngsten Ereignisse behandelt, um Antworten zu finden.
Die Informationen, die in diesem Artikel enthalten sind, stammen zu grossen Teilen aus den Forschungsarbeiten, Recherchen und Dokumentationen unserer fünf Expertinnen:
Bilgin Ayata ist Professorin für Political Sociology an der Uni Basel. Sie erwarb einen Master in Political Science an der York University (Kanada) und wurde 2011 an der Johns Hopkins University (USA) promoviert. Sie publizierte unter anderem: «Krieg an den Grenzen Europas» (April 2020), «Turkish Foreign Policy in a Changing Arab World: Rise and Fall of a Regional Actor?» (2017) und «Migration und das europäische Grenzregime nach den arabischen Revolutionen» (2015).
Raphael Bossong arbeitet in der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Er publizierte unter anderem «Der Ausbau der Frontex» und «EU-Flüchtlingspolitik: Drei-Punkte-Plan für Brüssel und Athen».
Artemis-Maria Fyssa ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Basel. Sie arbeitet unter anderem beim Projekt «Infrastructure space and the future of migration management: the EU Hotspots in the Mediterranean borderscape» von Bilgin Ayata mit.
Franziska Grillmeier lebt als freie Journalistin auf Lesbos. Ihr Themenschwerpunkt ist Migration. Sie schrieb bereits für die Republik und publizierte ausserdem unter anderem: «Ist das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei gescheitert?» und «Die Wut von Moria».
Christoph Ramm ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie der Universität Bern. Er publizierte unter anderem: «Die Türkei und ihre Politik der ‹strategischen Tiefe›: Abkehr vom Westen, neuer Osmanismus oder nationale Großmachtphantasie?» (2011), «Zukunft arabisch-türkischer Beziehungen: Nationales Interesse, nicht Religion als Basis der Kooperation» (2011) und «The ‹sick man› beyond Europe: the orientalization of Turkey and Turkish immigrants in European Union accession discourses in Germany» (2009).
Zwei Dinge sind schnell klar geworden.
Das aktuelle Chaos an der türkisch-griechischen Grenze ist eine Katastrophe mit Ansage.
Eine Besserung ist nicht in Sicht.
Griechenland: Chaos als einzige Kontinuität
Von aussen scheint die Sache einfach: Erdoğan schnippt mit dem Finger – und Griechenland versinkt im Chaos. Selbstjustiz überall, auf allen Ebenen: Auf der Insel Lesbos brennen ein Gemeinschaftszentrum und eine Schule, die für 200 Flüchtlingskinder die einzige Möglichkeit zur Bildung ist. Rechtsextreme Mobs greifen humanitäre Helfer und Journalistinnen an, patrouillieren bewaffnet mit Schlagstöcken, Steinen und Scherben. Identitäre aus Deutschland und Österreich inszenieren sich an der türkisch-griechischen Grenze. Bürgerwehren kontrollieren Ausweise, fotografieren Mietwagen und Menschen, die fremd aussehen. Fischer auf dem Grenzfluss Evros werden zu Grenzschützern. Und in Athen schickt eine konservative Regierung das Militär an die Grenze und setzt das Recht auf Asyl aus – einfach so. Und ganz öffentlich.
«Das, was wir sehen, mag akut sein. Doch der Frust hat sich über lange Zeit aufgebaut», sagt die Journalistin Franziska Grillmeier, die auf der Insel Lesbos lebt und auch schon für die Republik geschrieben hat.
Auch nach 2016, nachdem die Europäer mit der Türkei einen Deal abgeschlossen haben, kommen auf Lesbos und den anderen Inseln fast jeden Tag Menschen an.
«Es gibt kein Brennholz, deshalb fällen sie jahrhundertealte Olivenbäume. Es gibt keine Toiletten, deshalb sickern die Fäkalien in den Boden. Der Abfall bleibt liegen, weil sich die Müllabfuhr nicht ins Lager traut. Man riecht die ganze Situation schon Kilometer entfernt», schildert Grillmeier die Lage, mit der die Geflüchteten und auch die Inselbewohner seit Jahren leben. Sowohl die Uno als auch das griechische Gesundheitsministerium fordern seit langem, das etwa 7-fach überbelegte Lager Moria auf Lesbos zu schliessen, weil es eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit ist.
Das ist schlecht – für das Wohlbefinden, das Selbstverständnis, die eigene Handlungsfähigkeit. Und für den Tourismus, der eigentlich die Haupteinnahmequelle für viele auf der Insel ist.
Bis Mitte der Zehnerjahre diente Griechenland den meisten Flüchtlingen als reines Transitland – es gab kaum Lager oder Camps. «Die Solidarität in der Bevölkerung war damals gross», sagt die griechische Soziologin Artemis-Maria Fyssa.
2015 aber führt die EU in Griechenland und Italien den Hotspot-Approach ein. Das Ziel: die Identifikation und Registrierung von Asylsuchenden in Zentren an den Europäischen Aussengrenzen. «Damit hat alles angefangen», sagt Fyssa, die im Rahmen eines Forschungsprojekts der Universität Basel die mediterranen Hotspots erforscht.
Jene, die die Insel unsicher machen und Selbstjustiz üben, seien ganz klar Rechtsextreme und Neonazis, sagt Grillmeier. Sie hat Anfang März selbst einen Angriff erlebt. Viele sind Männer aus den umliegenden Dörfern, aber auch vom Festland kommen Schlägertrupps der Neonazipartei «Goldene Morgenröte». Und auch vereinzelt Nazis aus dem Ausland. Aber: «Viele der Leute, die jetzt auf Lesbos an Strassensperren stehen und Polizisten verjagen, standen 2015 noch bis zur Brust im Meer, zogen Schlauchboote an Land, wickelten Kinder in Wärmedecken und kochten für die Geflüchteten», sagt die Journalistin Grillmeier. Jetzt, nach Jahren der Misere, scheint der Wille zur Solidarität erschöpft.
Und dann kommt eine neue Regierung, die Härte markiert. Die neue, geschlossene Lager bauen will und dafür zum Teil Land enteignet. «Die Menschen fühlen sich im Stich gelassen, von Athen, von der EU und ihren Mitgliedsstaaten», sagt Grillmeier. Die Verantwortung eines Kontinents lastet hier auf den Bewohnern einiger kleiner Inseln.
Warum aber hat der Hotspot-Approach in Italien nicht zu denselben desolaten Zuständen geführt, die heute in und um die Camps in Griechenland herrschen?
Das hat zwei Gründe:
Einen geografischen: Italiens Küste ist sehr viel weiter weg von derjenigen Afrikas als Griechenlands Küste von derjenigen der Türkei. Die Ankünfte in Italien sind damit leichter vorhersehbar, was die Ausschiffung von Flüchtlingsbooten vereinfacht und eine mobile Identifikation erlaubt.
Einen politischen: Der Zeitpunkt der Hotspot-Einführung ist für Griechenland gänzlich schlecht. «Für viele Griechen ist 2015 einfach das Jahr des ‹EU-Wirtschaftsterrors›», sagt Fyssa. 2015 steckt das Land mitten in den Folgen der Finanzkrise und der Abstimmung über das Referendum, das über Verbleib oder Austritt aus der EU entscheiden soll. Die Infrastruktur des Landes ist am Boden, kaum in der Lage, die eigene Bevölkerung zu tragen – geschweige denn die täglich steigende Zahl syrischer Kriegsflüchtlinge zu verwalten.
«Italien war und ist gegenüber der EU bessergestellt», sagt Fyssa.
Es ist fraglich, ob die griechische Regierung 2015 in der Position war, der EU die Stirn zu bieten. Getan hat sie es nicht. Stattdessen arbeitet Griechenland in Zusammenarbeit mit der EU fast gleichzeitig zur Einführung des Hotspot-Approachs ein Asylgesetz aus.
Das Gesetz implementiert die Praxis, wonach Flüchtlinge kollektiv nach ihrem Herkunftsland eingestuft werden – ohne Rücksicht auf individuelle Gründe wie sexuelle Orientierung, Religionszugehörigkeit oder Geschlecht. «Allein das stellt einen Verstoss gegen die Genfer Flüchtlingskonvention dar», sagt Fyssa.
Die horrenden Zustände, die heute in den Lagern auf den fünf Inseln herrschen, wurden aber von einem anderen Paragrafen des griechischen Asylgesetzes begünstigt: Bis der Asylantrag bearbeitet ist, darf die Insel nicht verlassen werden. «Das kann Jahre dauern», sagt Fyssa. Jahre, in denen kaum Leute gehen, aber immer Neue kommen. «Für die EU war die Lösung attraktiv, weil Flüchtlinge, die auf Inseln festsitzen, nicht über die grüne Grenze kommen können.»
Und für Griechenland? Obwohl dieser Stau vorhersehbar war, stimmte die damalige linke Regierungspartei Syriza dem Paragrafen zu. Warum? «Die Partei befürchtete, dass sie bei einer Verteilung der Flüchtlinge über das ganze Land Stimmen an Rechtsparteien wie die Nea Dimokratia verlieren könnten», sagt Fyssa.
Als Nea Dimokratia im Sommer 2019 an die Macht kommt, schafft sie als Erstes das Migrationsministerium der Vorgängerregierung ab – und unterstellt die Migration dem Ministerium für öffentliche Ordnung. Das erklärte Ziel der Partei: härter gegen Zuwanderung vorgehen.
Eine Massnahme dazu sind geschlossene Camps auf den Inseln. «Gefängnisse für Flüchtlinge», sagt Fyssa. Die Camps führten auf den Inseln zu heftigen Protesten gegen die Regierung – von links und rechts. Um die Proteste in den Griff zu bekommen, schickt Athen Polizistinnen. Es kommt zu Ausschreitungen – die Polizisten werden angegriffen, ihre Hotels gestürmt. Einen Tag bevor Erdoğan die Grenze öffnet, zieht das Sondereinsatzkommando unverrichteter Dinge wieder von Lesbos ab.
Die Wut und Gewalt auf den Inseln verlagert sich durch die Grenzöffnung schlagartig – weg von der Regierung hin zu den Flüchtlingen. «Athen hat nicht das geringste Interesse, gegen die rechtsextremen Milizen vorzugehen», sagt Fyssa. Einerseits, weil die Regierung froh ist, aus dem Fokus zu sein, «andererseits helfen die Schlägertrupps dem Staat, die harte Grenze durchzusetzen».
Seit Anfang 2020 hat Griechenland ein neues Asylgesetz. Nebst den angestrebten geschlossenen Camps, für die auch Land enteignet werden soll, hat die Regierung die bürokratische Hürde für Asyl hochgeschraubt: «Zum Beispiel brauchen Asylsuchende neu einen Rechtsbeistand, den sie selbst bezahlen müssen, sofern sie überhaupt einen finden», sagt Fyssa. Zudem seien die Standards zur Vulnerabilitätsprüfung strenger geworden: «Eine posttraumatische Belastungsstörung zum Beispiel ist kein Grund mehr, der eine Rückführung verhindert.»
Die griechische Regierung will Härte zeigen – und macht damit alle Seiten wütend. Bei der Bevölkerung, in der Politik und in den Camps kocht das Blut schon, als Erdoğan die Grenzen öffnet.
Dabei habe sich die Lage dadurch gar nicht dramatisch verändert, sagt Franziska Grillmeier. Natürlich kann man die rund 13’000 Menschen nicht ignorieren, die von den Türken mit Bussen an die Landesgrenze gebracht wurden – vergleichbar mit dem Sommer 2015 ist das aber nicht. Und auch auf den ägäischen Inseln kamen in den vergangenen Tagen zwar wieder etwas mehr Leute an, weil die Türken ihre Küste weniger stark überwachen. «Der Anstieg der Ankünfte ist aber nicht exponentiell», sagt Grillmeier. «Der erwartete Knall ist ausgeblieben.»
Die griechische Regierung nimmt die aktuelle Entwicklung gleichwohl direkt zum Anlass, Härte zu markieren. Sie will zeigen, dass sie die Grenze schützt. Und auch wenn «schützen» nach Defensive klingt, kann das auch Angriff bedeuten.
Zum Schutz fährt die griechische Küstenwache zum Beispiel gefährliche Manöver, um Schlauchboote in türkische Gewässer zurückzutreiben. «Von vielen Booten, die in den letzten Tagen auf dem Meer waren, wissen wir nicht, was mit ihnen passiert ist», sagt Grillmeier auf Lesbos.
Zum Schutz setzt Griechenland das Recht auf Asyl aus, vorerst sollen für einen Monat keine neuen Asylanträge mehr angenommen werden. Das widerspricht dem EU- und dem Völkerrecht, weder im einen noch im anderen gibt es eine Klausel, die das Aussetzen des Asylrechts erlaubt. «Ich hoffe, das ist nur Rhetorik», sagt der Politikwissenschaftler Raphael Bossong, der sich bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik mit der Grenzsicherung und den Auswirkungen der Migrationskrise auf die EU beschäftigt.
Was die griechische Ankündigung genau heisse, müsse sich zeigen – möglich sei, dass die Behörden einfach die Registrierung hinauszögern würden. «Wenn die Griechen ernst machen, Menschen in Lager stecken und zurückschicken, ohne dass sie einen Antrag stellen können, dann ist das ein klarer Rechtsbruch», so Bossong.
Kurz nachdem wir mit Bossong sprechen, veröffentlicht die «New York Times» eine Recherche, die genau diese Vorwürfe belegt: Griechenland internierte an der Landesgrenze Geflüchtete und brachte sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zurück in die Türkei.
Auch auf Lesbos werden neu Angekommene nicht mehr registriert. «Menschen sitzen tagelang am Strand fest oder werden auf einem Militärschiff im Hafen eingeschlossen», sagt Grillmeier. Was konkret geschehe, wisse niemand im Detail. Es gebe keine Auskunft, die Berichterstattung sei eingeschränkt.
Die Anwältin Efthimia Doussi arbeitet in Lesbos für die Organisation HIAS, die Flüchtlingen weltweit unter anderem in den juristischen Verfahren hilft. Mittlerweile haben die HIAS-Mitarbeiterinnen Zugang zum Hafen – über 500 Menschen seien auf dem Militärschiff in Administrativhaft, sagt Doussi, darunter Alte, schwangere Frauen und unbegleitete Minderjährige. «Es ist ein komplettes Chaos.»
Denn seit der Ankündigung, die Asylgesuche für einen Monat auszusetzen, kommt auch eine neue Regel: Wer illegal einreist, wird nicht als Asylsuchender betrachtet und interniert. «Wir erachten diese Internierungen als illegal, denn es handelt sich um Personen, die gar nicht ausgeschafft werden können. Bisher haben wir zwar keine Deportationen gesehen, aber dass das Beantragen von Asyl für einen Monat ausgesetzt wird, hat keine rechtliche Basis», sagt Anwältin Doussi.
Der EU-Türkei-Deal 2016 hat den griechischen Inseln insofern eine Entlastung gebracht, als weniger Leute ankommen – um 95 Prozent verringerten sich die Ankünfte zwischen 2015 und 2017. Das Paradoxe: Die rapide zunehmende Verstopfung der Camps wurde damit höchstens ein wenig gedämpft.
Der Deal bedeutete zusätzliche Verzögerungen im Asylprozess, da neu zwei Aufnahmeverfahren geführt werden müssen. Der reguläre Antrag auf Asyl und vorab die Prüfung, ob man Flüchtlinge wieder in die Türkei zurückschicken kann, ohne dass man sie überhaupt einen Asylantrag stellen lässt. «Auch das ist ein Verstoss gegen die Genfer Konvention», sagt Fyssa.
«Eine gewisse Symbolwirkung konnte man dem Ganzen eine Zeit lang attestieren», sagt Raphael Bossong. Die Botschaft: Es lohnt sich nicht, in Griechenland Asyl zu beantragen. Die Grenze gegen irreguläre Zuwanderung zu sichern, könne durchaus ein wirksames und legitimes Mittel sein. «Man kann den Preis hochtreiben, man kann Menschen festsetzen und so einige abschrecken.» Das werfe aber die Frage auf: Wie weit geht man?
So weit, dass man Zehntausende Flüchtlinge in überfüllten Camps und menschenunwürdigen Verhältnissen leben lässt? Mehrfach gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstösst? Sie in ein Drittland abweist, das möglicherweise nicht sicher ist?
Ein wesentlicher Bestandteil der Abmachung ist, dass die Türkei die Grenzen schliesst und «irreguläre» Flüchtlinge zurücknimmt, die trotzdem in Griechenland ankommen. Für jeden «irregulären» Flüchtling, der zurückgeschafft wird, nimmt die EU einen «regulären» Flüchtling auf – maximal aber 72’000 Menschen.
Von den 302’902 Übertritten seit 2016 wurden nur 1907 in die Türkei rückgeführt. Der Grund sind die griechischen Richter, die die Fälle verhandelten. Im Gegensatz zu der EU befanden sie die Türkei nicht als sicheres Drittland.
Überhaupt ist Griechenland nicht gut auf die Türkei zu sprechen, seit Erdoğan einen Seehandelsvertrag mit Libyen unterzeichnete, in dem er Teile der Ägäis exklusiv beanspruchte.
Eine Drohgebärde, der man in Athen mit Widerstand begegnete.
«Ein Teil der Wut und Gewalt, die Flüchtlinge erleben, die jetzt über die Grenze kommen, gilt sicher auch Erdoğan und der Türkei», sagt Fyssa.
Türkei: Erdoğans viele Fronten
Am Tag, an dem die Türkei ihre Grenzen nach Europa öffnet, begründet Erdoğan den Entscheid damit, dass die EU sich nicht an den Flüchtlingspakt von 2016 gehalten habe.
Das Versprechen der EU im Wesentlichen:
insgesamt 6 Milliarden Euro Flüchtlingshilfe,
der Austausch von «irregulären» gegen «reguläre» Flüchtlinge,
die Beschleunigung der Visa-Liberalisierung für die Türkei,
der Ausbau der Zollunion,
die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen
und die Beteiligung an der sicheren Unterbringung von Flüchtlingen im syrischen Grenzraum.
«Erdoğans Anklage ist in Teilen sicher gerechtfertigt», sagt Christoph Ramm, Türkeiexperte an der Universität Bern. Dass das der alleinige Grund für die Grenzöffnung ist, bezweifelt er. «Zu vieles deutet auf eine sehr kalkulierte Inszenierung hin.»
Die Inszenierung hat ein langes Vorspiel.
Es beginnt mit den Beitrittsverhandlungen, die am Anfang von Erdoğans Regierungszeit stehen, die 2002 mit seinem Wahlsieg beginnt. Die Debatte darüber, ob die Türkei überhaupt zu Europa gehöre. Nicht als Partner auf Augenhöhe angesehen zu werden. Eine tiefe Demütigung.
Dazu muss man wissen: «Anders, als ihm häufig unterstellt wird, will Erdoğan nicht in erster Linie Sultan sein, sondern eher gleichrangig mit Atatürk betrachtet werden», sagt Ramm. «Es geht ihm um Anerkennung als Repräsentant des neuen, islamisch-konservativen Bürgertums.»
Als 2011 der Arabische Frühling hereinbricht, wittert Erdoğan seine Chance. Es gelingt ihm, sich als Patron dieser Bewegungen zu positionieren: als charismatischer, dynamischer Anführer, dessen Land mit gutem Beispiel voranschreitet – ganz ohne westliche Einmischung.
Dies ist Teil einer grösseren Strategie, die Türkei als Regionalmacht und Vorbild für die Nachbarn zu etablieren. Das Wording: «No problems with neighbours.»
Erdoğans aussenpolitischer Frühling ist nicht von langer Dauer. Nach gelungenen diplomatischen Aktionen in Libyen und Ägypten findet 2011 in Syrien eine plötzliche Kehrtwende statt. Statt Gesprächen und Vermittlung heisst es jetzt: Intervention aufseiten der Rebellen gegen Bashar al-Assad. Im Zuge dessen öffnet die Türkei die Grenze nach Syrien und für Flüchtlinge (während der Verhandlungen des Deals mit der EU wird die Grenze wieder geschlossen).
Doch Erdoğan hat nicht mit Bashar al-Assads Durchhaltewillen gerechnet. Und erst recht nicht mit Russland, das sich auf dessen Seite schlägt.
Als 2016 eine überforderte EU als Bittsteller an die Türkei tritt, die Grenzen zu schliessen, hat Erdoğan schon seit vier Jahren versucht, die Nato, der auch die wichtigsten EU-Staaten angehören, dazu zu bringen, auf seiner Seite gegen Assad zu kämpfen. Nach dem Scheitern seines Diplomatiefeldzugs im arabischen Raum ist die Türkei zudem weitgehend isoliert und hat entsprechend Interesse an erleichterten Einreisebestimmungen und einer Zollunion mit dem westlichen Nachbarn.
Und: Die türkische Wirtschaft ist 2016 noch immer im Aufschwung – die Flüchtlinge sind weniger Belastung als billige, unregulierte Arbeitskräfte.
Die Türkei ist stolz auf ihren Umgang mit den Flüchtlingen. Nicht umsonst schreibt der einst regimetreue Journalist Fatih Altaylı im Nachgang zu Erdoğans Grenzöffnung sinngemäss: «Über Nacht haben wir die moralische Überlegenheit verloren.»
Tatsächlich ging es den fast vier Millionen Flüchtlingen in der Türkei lange verhältnismässig gut – oft besser als in den Lagern auf Griechenlands Inseln. Zumindest den syrischen Flüchtlingen; zumindest den syrischen Flüchtlingen, die nicht Kurden sind.
«Dass es vielen syrischen Flüchtlingen in der Türkei relativ gut ging, ist allerdings nicht unbedingt das Verdienst des türkischen Staates», sagt Ramm. «Eine planvolle Flüchtlingspolitik gab es kaum. Viel Unterstützung ist nicht zuletzt einer lebendigen Zivilgesellschaft zu verdanken.» Der informelle Status erlaubte es Flüchtlingen immerhin, Existenzen aufzubauen.
Doch dieser informelle Status wird ihnen jetzt zum Verhängnis, da er nicht nur keine Regeln, sondern auch keinerlei Sicherheit schafft.
Und die Situation ist heute eine andere als 2016.
Vier Jahre nach dem Deal mit der EU kämpft die Türkei mit einer langwierigen Wirtschaftskrise – ausgelöst von Erdoğans Strategie des künstlich aufgepumpten Wirtschaftswachstums, das 2018 schliesslich zusammenfällt.
Im Zuge dessen verlieren Flüchtlinge ihre Arbeit – und werden als Belastung wahrgenommen. Dazu warten derzeit 950’000 Flüchtlinge vor den Toren der Türkei, und Erdoğan hat – entgegen seinen Drohungen – nicht das geringste Interesse, die Grenze nach Syrien zu öffnen, denn durch die angespannte Lage ist der Rassismus im Aufwind. Und mit ihm die Ultrarechte.
Erdoğan beugt sich diesem Trend lieber, als ihm zu widerstehen. «Je mehr er unter Druck gerät, desto häufiger spielt er die Karte des Nationalismus», sagt Ramm – und Erdoğans Partei verliert seit Jahren kontinuierlich an Boden. Allein in den vergangenen drei Monaten haben gleich zwei seiner einstigen Weggefährten, beides ehemalige Top-Minister, eigene Parteien als Opposition zur AKP gegründet.
Noch dazu ist die türkische Armee vor zwei Wochen mit einer Offensive in der syrischen Rebellenstadt Idlib kolossal am russischen Gegenfeuer gescheitert – 30 tote Soldaten wurden von Erdoğans Regierung bestätigt, möglicherweise starben mehr. Und die Intervention hatte auch schon davor kaum Rückhalt in der Bevölkerung – im Gegensatz zur Offensive gegen die kurdische PYD in Nordsyrien im letzten Jahr.
Aus dieser Perspektive hatte Erdoğan gleich drei sehr gute Gründe, die Grenze nach Griechenland zu öffnen:
Um von der Schlappe in Idlib und dem unausweichlichen Kniefall vor Putin abzulenken, indem er sich an einer anderen Grenze als starker Mann inszeniert.
Um die EU auf Augenhöhe zu zwingen und somit dazu, ihren Teil des Flüchtlingsdeals beschleunigt zu erfüllen – Milliardenzahlungen, Zollunion, erleichterter Zugang zur EU – was auch Entspannung in der Wirtschaftskrise bedeuten könnte.
Um ihm und seiner Regierung die dringend benötigte Legitimität zu verschaffen – sowohl innerhalb der eigenen Landesgrenzen als auch bei seiner Intervention im Syrienkonflikt.
Syrien ist ein unüberschaubares Schlachtfeld. Im syrischen Bürgerkrieg haben schon der Iran, der Irak, Grossbritannien, Israel, die Niederlande, die USA, Belgien, Frankreich, Russland, Kanada und Deutschland gekämpft. Und natürlich die Türkei.
Erdoğan begründet seine Einmischung damit, den Diktator Assad stürzen und dem Nachbarland Demokratie bringen zu wollen.
In Wirklichkeit geht es jedoch darum, die Reste des geschwundenen türkischen Einflusses in der Region zu sichern. Und Erdoğan versucht – egal ob auf türkischem, irakischem oder syrischem Boden – den Teil der Bevölkerung zu schwächen, der seinem absoluten Machtanspruch am gefährlichsten werden könnte: das Volk der Kurdinnen.
Und was will Erdoğan in Syrien von der EU? Eine Schutzzone im Norden des Landes, mit der er die Kurden dort in Schach halten könnte. An einer Schutzzone – zumindest in Idlib – hat auch die EU Interesse, die möglichst viele Vertriebene möglichst weit weg halten will.
Aber wer garantiert, dass so eine Zone tatsächlich für alle sicher ist? Lässt sich das mit Sanktionen erreichen? Und wer ist bereit, im Extremfall einen russischen Kampfjet abzuschiessen, wenn es darum geht, ein Flugverbot durchzusetzen? Und wie wird Erdoğan Putin in Syrien entgegentreten, wenn er glaubt, genügend Rückendeckung zu haben?
«Erdoğans aussenpolitische Strategie ist auch für Experten nicht immer einfach einzuschätzen», sagt Ramm und verweist auf die plötzliche Kehrtwende Erdoğans im Zuge des Arabischen Frühlings. Vieles wirke wenig durchdacht, ohne Vision. «Seine Aussenpolitik ist zunehmend auf die Wirkung im Inneren ausgerichtet, um bei seiner verbliebenen Wählerschaft zu punkten.»
Mit anderen Worten: Für Erdoğan ist alles Innenpolitik – egal, auf welcher Seite der Grenze.
Das macht ihn unberechenbar. Darauf kann sich die EU verlassen.
Und auf noch etwas weist Ramm hin: «Erdoğan ist ein Politiker des Formats ‹Je brachialer ich auftrete, je extremer meine Forderungen sind, desto mehr Erfolg habe ich›.»
Und je mehr Erfolg er damit hat, desto extremer und brachialer dürfte es werden.
Brüssel: Ein irrsinniger Kreislauf
Als Erdoğan die Grenze öffnet, ist in der EU die Empörung gross. Zynismus wird ihm vorgeworfen, Flüchtlinge als Pfand zu missbrauchen. Doch schon bald heisst es, 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Und das wird Priorität.
Im Sommer 2015 steht die EU unter Druck. Im Süden droht der Grexit, und auch in Grossbritannien werden die Stimmen der Unionsseparatisten lauter. Und es ist der Höhepunkt der «Flüchtlingskrise» – 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht, viele Richtung Europa.
Eigentlich hätte die EU eine Grundlage, um echte Notlagen zu bewältigen. «Massenzustromrichtlinie» heisst das Instrument, das die EU 2001 nach den Erfahrungen mit den Fluchtbewegungen der Neunzigerjahre einführte. Angewendet wurde sie aber noch nie – «warum das so ist, wüsste ich auch gerne, das hat mir noch niemand schlüssig erklären können», sagt Raphael Bossong von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Einfacher schien es der EU, sich der Türkei zuzuwenden, um den Andrang der Flüchtlinge in den Griff zu bekommen. «Viele sahen darin die Möglichkeit, eine strukturierte Beziehung zur Türkei aufzubauen», sagt Bossong. «Und man hoffte, der Deal sei ein Modell zur Migrationssteuerung, das man auch auf die Zusammenarbeit mit anderen Staaten anwenden könnte.»
Das war ein Irrtum.
Heute steht die EU am gleichen Punkt wie vor vier Jahren. Sollte der Deal mit der Türkei diese Woche tatsächlich erneuert werden, stellen sich also die gleichen drei Fragen wie schon 2016:
Die Frage der Stabilität: Wie verlässlich ist ein Abkommen mit einem Machthaber wie Erdoğan?
Die Frage der Ethik: Kann die Türkei als sicherer Drittstaat gelten, obwohl sämtliche Menschenrechtsorganisationen das verneinen?
Die Frage der Rechtsstaatlichkeit: Auf welcher rechtlichen Grundlage basiert die Übereinkunft zwischen der Türkei und der EU?
Als «Flüchtlingspakt», «Vereinbarung» oder «Abkommen» wird in den Medien das bezeichnet, was Europäerinnen und die Türkei im März 2016 aushandelten. Das klingt offiziell und juristisch stichhaltig – «faktisch jedoch gibt es nichts ausser einer Pressemitteilung», sagt Bilgin Ayata. Ayata ist Professorin für Politische Soziologie an der Universität Basel und Leiterin des dortigen Forschungsprojekts über die Hotspots im mediterranen Raum.
Die Expertin für europäische Migrationspolitik hat den Deal genauer untersucht. Um es kurz zu machen: Kein offizielles Organ der EU hat je beschlossen, eine Übereinkunft mit der türkischen Regierung zur Migrationskrise abzuschliessen. Das stellte 2017 das Gericht der Europäischen Union fest, als drei Asylbewerber Klage gegen den Deal einreichten – und sich das Gericht schlicht für nicht zuständig erklären musste.
Die Vereinbarung der EU mit der Türkei sei zwar rechtsverbindlich – ob sie rechtmässig sei, erscheine «sowohl aus unionsrechtlicher als auch aus flüchtlingsrechtlicher Perspektive (…) höchst fraglich». Zu diesem Schluss kommt eine juristische Untersuchung, der zwei Juristen der Goethe-Universität in Frankfurt die «Erklärung EU-Türkei» – wie der Deal offiziell heisst – unterzogen haben.
Zwar sind beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einige Fälle hängig – dabei geht es aber nicht um den Deal an sich, sondern um die Frage, ob die Türkei für die einzelnen Personen ein sicherer Drittstaat sei.
Ein Deal also, der völkerrechtlich fragwürdig ist. Und rechtsstaatlich kaum angefochten werden kann.
Dessen ungeachtet lassen die Voten der EU-Offiziellen in den jüngsten Tagen keinen Zweifel: Die Union sieht in der Migrationsfrage keine Alternative zum Deal mit der Türkei und ihrem unberechenbaren Präsidenten.
Aber warum hat es die EU nicht geschafft, ihre Migrationspolitik in den vier Jahren, in denen die Türkei die Flüchtlinge fernhielt, auf eine nachhaltige Lösung umzustellen?
Vielleicht, weil das nie vorgesehen war.
«Bei der Migrationsfrage ist die Politik der EU seit zwei Jahrzehnten auf dem gleichen Kurs – Abschottung und Auslagerung um jeden Preis», sagt Ayata.
Ayata hat untersucht, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten bei Flüchtlingsdeals immer wieder zu demokratisch fragwürdigen Mitteln greifen. «Auf autoritäre Regimes wie das Erdoğans zu setzen, ist Teil des europäischen Migrationsmanagements in der Abwehr von ungewollter Zuwanderung», sagt sie.
Das macht durchaus Sinn: Wenn Sie ein unliebsames Migrationsabkommen, dessen Gültigkeit unter internationalem Recht fragwürdig ist, aushandeln müssten – gehen Sie damit lieber zu einem Diktator oder einer demokratisch gewählten Regierung?
«Ben Ali, Ghadhafi, Erdoğan – mit ihren Migrationskooperationen legitimiert die EU wieder und wieder autoritäre Machthaber, die durch Repressionen in ihren eigenen Ländern wiederum neue Flüchtlinge erzeugen», sagt Ayata. «Ein irrsinniger Kreislauf, der sich durch sein eigenes Scheitern am Leben erhält.»
Das Fazit der Migrationsforscherin: Die katastrophalen bis lebensgefährlichen Zustände, in denen Flüchtlinge vor und knapp hinter Europas Toren leben, sind eine direkte Folge der europäischen Auslagerungspolitik.
Das Verhalten der EU gegenüber Erdoğan nach der jüngsten Eskalation ordnet sie auch der Furcht vor der weiteren Erstarkung ultrarechtspopulistischer Parteien in Europa zu. Doch statt sich diesem Gedankengut entgegenzustellen, riegelt man die Grenzen einfach ab.
«Auch die Rhetorik hat sich verändert», stellt Ayata fest: Das ehemalige Migrationsressort der EU heisst jetzt «Schutz unseres europäischen Lebensstils», Griechenland ist laut von der Leyen «der Schild Europas», und Hotspot ist ursprünglich ein Militärbegriff, der gefährliche Zonen kennzeichnet.
Vor ein paar Jahren forderten Politiker der AfD, an der Grenze zu schiessen. «Jetzt wird geschossen – noch nur mit Gummischrot, aber es wird geschossen», sagt Ayata.
Und fragt: «Führen wir an der griechisch-türkischen Grenze gerade einen Krieg gegen Flüchtlinge?»
Damit sich die Situation in Griechenland nachhaltig entspannen kann, müsste die EU Flüchtlinge nicht länger in Grenzländer und Drittstaaten abschieben, sondern aufnehmen, sagt Ayata. Doch davon ist man weit entfernt. Das Einzige, worauf man sich in der EU in Sachen Migrationspolitik bislang hat einigen können, ist:
mehr Grenzschutz,
demokratisch fragwürdige Abkommen mit demokratisch fragwürdigen Drittländern, die als Auffangbecken dienen sollen,
und den Hotspot-Approach, der dafür sorgt, dass die Flüchtlinge vor allem in den Grenzländern bleiben.
«Das ist keine zukunftsweisende Migrationspolitik», sagt Ayata.
Gemäss einer Studie der World Bank werden bis 2050 140 Millionen Menschen ihr Zuhause wegen der Folgen des Klimawandels verlassen müssen. «Und die EU bricht jetzt fast zusammen weswegen? Vier Millionen in der Türkei? Nur ein paar Tausenden an der Grenze», fragt Bilgin Ayata rhetorisch.
«Die Einsicht, dass man sich verhakt hat und auch mit der Dublin-Reform nicht weiterkommt, scheint sich hinter den Kulissen bei den meisten Mitgliedsstaaten durchgesetzt zu haben», sagt Politikwissenschaftler Bossong. Der Migrationspakt der EU-Kommission und die halb offiziell bereits kursierenden Papiere der deutschen Regierung deuten dies an.
Dort verabschiedet man sich von der Vorstellung, dass alle Staaten dabei mitmachen würden, die Grenzländer zu entlasten, sondern begnügt sich mit einer Koalition der Willigen. Und hofft darauf, dass sie gross genug sein wird.
Dass eine Art «Hotspot 2.0» eine Lösung sein könnte, glaubt Ayata nicht. «Der Hotspot-Ansatz selber ist das Problem. Es hat zu einer weiteren Militarisierung der Migrationsabwehr und Aushöhlung der Genfer Flüchtlingskonvention geführt – die humanitären Auswirkungen sind fatal.»
Was die jüngsten Ereignisse an der Grenze zur Türkei zeigen: Die EU steht am Scheideweg – will sie eine reine Wirtschaftsunion sein? Oder auch eine Wertegemeinschaft?
Zerbricht die Union am Ende an der Asylfrage?
«Politisch vorerst nicht», sagt Bossong, «moralisch womöglich schon.»