Mit allen Mitteln: Die griechische Polizei vertreibt Asylsuchende an der türkischen Grenze. Bulent Kilic/AFP

Führen wir gerade einen Krieg gegen Flüchtlinge?

Tränengas, Stacheldraht, Menschenjagd statt humanitäre Hilfe: Wie die Lage an der griechisch-türkischen Grenze derart eskalieren konnte.

Von Anja Conzett und Amir Ali, 16.03.2020

Dieses Chaos. Ausnahme­zustand an Europas Grenze, wieder einmal.

Diese Bilder. Neue Bilder, und doch irgendwie bekannt: Armee­uniformen und Stachel­draht, Tränengas auf offenem Feld, Gummi­boote im Fluss und an Insel­stränden. Zelte und Baracken im Schlamm. Rechts­radikale und Bürger­wehren bewaffnet mit Stöcken, Scherben, Steinen. Flüchtlings­helfer auf der Flucht.

Und vor allem: Menschen. Menschen mit dünnen Jacken in der Kälte, Menschen nackt im Grenzfluss, Menschen schlafend auf dem Waldboden, zu Tausenden zusammen­stehend; zwischen Zäunen, Zelten, Baracken. Menschen, die Verletzte über Felder tragen, Menschen, die warten, ums Feuer kauernd. Kinder, die Holz sammeln.

Was ist los?

Die Kurzzusammenfassung: Ende Februar öffnet der türkische Präsident die Grenze zu Griechen­land – und kokettiert damit, Flüchtlinge an die Grenze zu schaffen. Griechen­land reagiert prompt – und sistiert das Asylrecht, militarisiert die Grenze, Bürger­milizen formieren sich.

In der Woche darauf fliegt EU-Kommissions­präsidentin Ursula von der Leyen nach Griechen­land und sagt Unter­stützung beim Grenz­schutz sowie zusätzliche Gelder für das Asylwesen zu.

Der Blick von ganz oben auf das Desaster: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Parlamentspräsident David Sassoli, EU-Ratspräsident Charles Michel und der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis (im Uhrzeigersinn) begutachten im Helikopter die Lage an der griechisch-türkischen Grenze. Dimitris Papamitsos/Sputnik/Keystone

Am Montag, 9. März, trifft sich von der Leyen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Brüssel, das Treffen bleibt ergebnislos. Diese Woche will Angela Merkel zusammen mit Emmanuel Macron nach Ankara, um erneut mit Erdoğan zu verhandeln.

Was bedeutet das alles für Europa? Was für die Millionen Menschen auf der Flucht?

Wir haben mit einer Migrations­forscherin, einem Türkeiexperten, einem Experten für EU-Recht, einer Soziologin aus Griechen­land und unserer freien Mitarbeiterin auf Lesbos die drei Schau­plätze der jüngsten Ereignisse behandelt, um Antworten zu finden.

Zu den Expertinnen

Die Informationen, die in diesem Artikel enthalten sind, stammen zu grossen Teilen aus den Forschungs­arbeiten, Recherchen und Dokumentationen unserer fünf Expertinnen:

Bilgin Ayata ist Professorin für Political Sociology an der Uni Basel. Sie erwarb einen Master in Political Science an der York University (Kanada) und wurde 2011 an der Johns Hopkins University (USA) promoviert. Sie publizierte unter anderem: «Krieg an den Grenzen Europas» (April 2020), «Turkish Foreign Policy in a Changing Arab World: Rise and Fall of a Regional Actor?» (2017) und «Migration und das europäische Grenzregime nach den arabischen Revolutionen» (2015).

Raphael Bossong arbeitet in der Forschungs­gruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Er publizierte unter anderem «Der Ausbau der Frontex» und «EU-Flüchtlingspolitik: Drei-Punkte-Plan für Brüssel und Athen».

Artemis-Maria Fyssa ist ​Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Basel. Sie arbeitet unter anderem beim Projekt «Infrastructure space and the future of migration management: the EU Hotspots in the Mediterranean borderscape» von Bilgin Ayata mit.

Franziska Grillmeier lebt als freie Journalistin auf Lesbos. Ihr Themen­schwerpunkt ist Migration. Sie schrieb bereits für die Republik und publizierte ausserdem unter anderem: «Ist das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei gescheitert?» und «Die Wut von Moria».

Christoph Ramm ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie der Universität Bern. Er publizierte unter anderem: «Die Türkei und ihre Politik der ‹strategischen Tiefe›: Abkehr vom Westen, neuer Osmanismus oder nationale Großmachtphantasie?» (2011), «Zukunft arabisch-türkischer Beziehungen: Nationales Interesse, nicht Religion als Basis der Kooperation» (2011) und «The ‹sick man› beyond Europe: the orientalization of Turkey and Turkish immigrants in European Union accession discourses in Germany» (2009).

Zwei Dinge sind schnell klar geworden.

  1. Das aktuelle Chaos an der türkisch-griechischen Grenze ist eine Katastrophe mit Ansage.

  1. Eine Besserung ist nicht in Sicht.

Griechenland: Chaos als einzige Kontinuität

Von aussen scheint die Sache einfach: Erdoğan schnippt mit dem Finger – und Griechen­land versinkt im Chaos. Selbstjustiz überall, auf allen Ebenen: Auf der Insel Lesbos brennen ein Gemeinschafts­zentrum und eine Schule, die für 200 Flüchtlings­kinder die einzige Möglichkeit zur Bildung ist. Rechtsextreme Mobs greifen humanitäre Helfer und Journalistinnen an, patrouillieren bewaffnet mit Schlag­stöcken, Steinen und Scherben. Identitäre aus Deutschland und Österreich inszenieren sich an der türkisch-griechischen Grenze. Bürger­wehren kontrollieren Ausweise, fotografieren Mietwagen und Menschen, die fremd aussehen. Fischer auf dem Grenzfluss Evros werden zu Grenzschützern. Und in Athen schickt eine konservative Regierung das Militär an die Grenze und setzt das Recht auf Asyl aus – einfach so. Und ganz öffentlich.

«Das, was wir sehen, mag akut sein. Doch der Frust hat sich über lange Zeit aufgebaut», sagt die Journalistin Franziska Grillmeier, die auf der Insel Lesbos lebt und auch schon für die Republik geschrieben hat.

Auch nach 2016, nachdem die Europäer mit der Türkei einen Deal abgeschlossen haben, kommen auf Lesbos und den anderen Inseln fast jeden Tag Menschen an.

«Es gibt kein Brennholz, deshalb fällen sie jahrhunderte­alte Olivenbäume. Es gibt keine Toiletten, deshalb sickern die Fäkalien in den Boden. Der Abfall bleibt liegen, weil sich die Müllabfuhr nicht ins Lager traut. Man riecht die ganze Situation schon Kilometer entfernt», schildert Grillmeier die Lage, mit der die Geflüchteten und auch die Insel­bewohner seit Jahren leben. Sowohl die Uno als auch das griechische Gesundheits­ministerium fordern seit langem, das etwa 7-fach überbelegte Lager Moria auf Lesbos zu schliessen, weil es eine Gefahr für die öffentliche Gesund­heit ist.

Das ist schlecht – für das Wohl­befinden, das Selbst­verständnis, die eigene Handlungs­fähigkeit. Und für den Tourismus, der eigentlich die Haupt­einnahme­quelle für viele auf der Insel ist.

So sieht es aus, wenn in einem Lager, das für 3000 Menschen konzipiert ist, 20’000 Flüchtlinge untergebracht sind. Armin Durgut/EXPA/Pixsell/Keystone

Bis Mitte der Zehnerjahre diente Griechen­land den meisten Flüchtlingen als reines Transit­land – es gab kaum Lager oder Camps. «Die Solidarität in der Bevölkerung war damals gross», sagt die griechische Soziologin Artemis-Maria Fyssa.

2015 aber führt die EU in Griechen­land und Italien den Hotspot-Approach ein. Das Ziel: die Identifikation und Registrierung von Asylsuchenden in Zentren an den Europäischen Aussen­grenzen. «Damit hat alles angefangen», sagt Fyssa, die im Rahmen eines Forschungs­projekts der Universität Basel die mediterranen Hotspots erforscht.

Jene, die die Insel unsicher machen und Selbstjustiz üben, seien ganz klar Rechts­extreme und Neonazis, sagt Grillmeier. Sie hat Anfang März selbst einen Angriff erlebt. Viele sind Männer aus den umliegenden Dörfern, aber auch vom Fest­land kommen Schläger­trupps der Neonazi­partei «Goldene Morgenröte». Und auch vereinzelt Nazis aus dem Ausland. Aber: «Viele der Leute, die jetzt auf Lesbos an Strassen­sperren stehen und Polizisten verjagen, standen 2015 noch bis zur Brust im Meer, zogen Schlauch­boote an Land, wickelten Kinder in Wärme­decken und kochten für die Geflüchteten», sagt die Journalistin Grillmeier. Jetzt, nach Jahren der Misere, scheint der Wille zur Solidarität erschöpft.

Und dann kommt eine neue Regierung, die Härte markiert. Die neue, geschlossene Lager bauen will und dafür zum Teil Land enteignet. «Die Menschen fühlen sich im Stich gelassen, von Athen, von der EU und ihren Mitglieds­staaten», sagt Grillmeier. Die Verantwortung eines Kontinents lastet hier auf den Bewohnern einiger kleiner Inseln.

Warum aber hat der Hotspot-Approach in Italien nicht zu denselben desolaten Zuständen geführt, die heute in und um die Camps in Griechen­land herrschen?

Das hat zwei Gründe:

  1. Einen geografischen: Italiens Küste ist sehr viel weiter weg von derjenigen Afrikas als Griechen­lands Küste von derjenigen der Türkei. Die Ankünfte in Italien sind damit leichter vorhersehbar, was die Ausschiffung von Flüchtlings­booten vereinfacht und eine mobile Identifikation erlaubt.

  2. Einen politischen: Der Zeitpunkt der Hotspot-Einführung ist für Griechen­land gänzlich schlecht. «Für viele Griechen ist 2015 einfach das Jahr des ‹EU-Wirtschafts­terrors›», sagt Fyssa. 2015 steckt das Land mitten in den Folgen der Finanzkrise und der Abstimmung über das Referendum, das über Verbleib oder Austritt aus der EU entscheiden soll. Die Infra­struktur des Landes ist am Boden, kaum in der Lage, die eigene Bevölkerung zu tragen – geschweige denn die täglich steigende Zahl syrischer Kriegs­flüchtlinge zu verwalten.

«Italien war und ist gegenüber der EU besser­gestellt», sagt Fyssa.

Es ist fraglich, ob die griechische Regierung 2015 in der Position war, der EU die Stirn zu bieten. Getan hat sie es nicht. Stattdessen arbeitet Griechen­land in Zusammen­arbeit mit der EU fast gleichzeitig zur Einführung des Hotspot-Approachs ein Asylgesetz aus.

Das Gesetz implementiert die Praxis, wonach Flüchtlinge kollektiv nach ihrem Herkunfts­land eingestuft werden – ohne Rücksicht auf individuelle Gründe wie sexuelle Orientierung, Religions­zugehörigkeit oder Geschlecht. «Allein das stellt einen Verstoss gegen die Genfer Flüchtlings­konvention dar», sagt Fyssa.

Die horrenden Zustände, die heute in den Lagern auf den fünf Inseln herrschen, wurden aber von einem anderen Paragrafen des griechischen Asyl­gesetzes begünstigt: Bis der Asyl­antrag bearbeitet ist, darf die Insel nicht verlassen werden. «Das kann Jahre dauern», sagt Fyssa. Jahre, in denen kaum Leute gehen, aber immer Neue kommen. «Für die EU war die Lösung attraktiv, weil Flüchtlinge, die auf Inseln festsitzen, nicht über die grüne Grenze kommen können.»

Und für Griechenland? Obwohl dieser Stau vorhersehbar war, stimmte die damalige linke Regierungs­partei Syriza dem Paragrafen zu. Warum? «Die Partei befürchtete, dass sie bei einer Verteilung der Flüchtlinge über das ganze Land Stimmen an Rechts­parteien wie die Nea Dimokratia verlieren könnten», sagt Fyssa.

Als Nea Dimokratia im Sommer 2019 an die Macht kommt, schafft sie als Erstes das Migrations­ministerium der Vorgänger­regierung ab – und unterstellt die Migration dem Ministerium für öffentliche Ordnung. Das erklärte Ziel der Partei: härter gegen Zuwanderung vorgehen.

Eine Massnahme dazu sind geschlossene Camps auf den Inseln. «Gefängnisse für Flüchtlinge», sagt Fyssa. Die Camps führten auf den Inseln zu heftigen Protesten gegen die Regierung – von links und rechts. Um die Proteste in den Griff zu bekommen, schickt Athen Polizistinnen. Es kommt zu Ausschreitungen – die Polizisten werden angegriffen, ihre Hotels gestürmt. Einen Tag bevor Erdoğan die Grenze öffnet, zieht das Sondereinsatz­kommando unverrichteter Dinge wieder von Lesbos ab.

Wie war das mit der internationalen Solidarität? Anhänger der kommunistisch orientierten Organisation PAME protestieren auf Lesbos gegen neue Flüchtlingslager. Angelos Tzortzinis/DPA/Keystone

Die Wut und Gewalt auf den Inseln verlagert sich durch die Grenz­öffnung schlagartig – weg von der Regierung hin zu den Flüchtlingen. «Athen hat nicht das geringste Interesse, gegen die rechts­extremen Milizen vorzugehen», sagt Fyssa. Einerseits, weil die Regierung froh ist, aus dem Fokus zu sein, «andererseits helfen die Schläger­trupps dem Staat, die harte Grenze durchzusetzen».

Seit Anfang 2020 hat Griechen­land ein neues Asyl­gesetz. Nebst den angestrebten geschlossenen Camps, für die auch Land enteignet werden soll, hat die Regierung die bürokratische Hürde für Asyl hoch­geschraubt: «Zum Beispiel brauchen Asyl­suchende neu einen Rechts­beistand, den sie selbst bezahlen müssen, sofern sie überhaupt einen finden», sagt Fyssa. Zudem seien die Standards zur Vulnerabilitäts­prüfung strenger geworden: «Eine post­traumatische Belastungs­störung zum Beispiel ist kein Grund mehr, der eine Rück­führung verhindert.»

Die griechische Regierung will Härte zeigen – und macht damit alle Seiten wütend. Bei der Bevölkerung, in der Politik und in den Camps kocht das Blut schon, als Erdoğan die Grenzen öffnet.

Dabei habe sich die Lage dadurch gar nicht dramatisch verändert, sagt Franziska Grillmeier. Natürlich kann man die rund 13’000 Menschen nicht ignorieren, die von den Türken mit Bussen an die Landes­grenze gebracht wurden – vergleichbar mit dem Sommer 2015 ist das aber nicht. Und auch auf den ägäischen Inseln kamen in den vergangenen Tagen zwar wieder etwas mehr Leute an, weil die Türken ihre Küste weniger stark überwachen. «Der Anstieg der Ankünfte ist aber nicht exponentiell», sagt Grillmeier. «Der erwartete Knall ist ausgeblieben.»

Die griechische Regierung nimmt die aktuelle Entwicklung gleichwohl direkt zum Anlass, Härte zu markieren. Sie will zeigen, dass sie die Grenze schützt. Und auch wenn «schützen» nach Defensive klingt, kann das auch Angriff bedeuten.

Zum Schutz fährt die griechische Küsten­wache zum Beispiel gefährliche Manöver, um Schlauch­boote in türkische Gewässer zurück­zutreiben. «Von vielen Booten, die in den letzten Tagen auf dem Meer waren, wissen wir nicht, was mit ihnen passiert ist», sagt Grillmeier auf Lesbos.

Zum Schutz setzt Griechenland das Recht auf Asyl aus, vorerst sollen für einen Monat keine neuen Asyl­anträge mehr angenommen werden. Das widerspricht dem EU- und dem Völkerrecht, weder im einen noch im anderen gibt es eine Klausel, die das Aussetzen des Asyl­rechts erlaubt. «Ich hoffe, das ist nur Rhetorik», sagt der Politik­wissenschaftler Raphael Bossong, der sich bei der Berliner Stiftung Wissen­schaft und Politik mit der Grenz­sicherung und den Auswirkungen der Migrations­krise auf die EU beschäftigt.

Was die griechische Ankündigung genau heisse, müsse sich zeigen – möglich sei, dass die Behörden einfach die Registrierung hinaus­zögern würden. «Wenn die Griechen ernst machen, Menschen in Lager stecken und zurück­schicken, ohne dass sie einen Antrag stellen können, dann ist das ein klarer Rechts­bruch», so Bossong.

Kurz nachdem wir mit Bossong sprechen, veröffentlicht die «New York Times» eine Recherche, die genau diese Vorwürfe belegt: Griechen­land internierte an der Landes­grenze Geflüchtete und brachte sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zurück in die Türkei.

Auch auf Lesbos werden neu Angekommene nicht mehr registriert. «Menschen sitzen tagelang am Strand fest oder werden auf einem Militär­schiff im Hafen eingeschlossen», sagt Grillmeier. Was konkret geschehe, wisse niemand im Detail. Es gebe keine Auskunft, die Bericht­erstattung sei eingeschränkt.

Die Anwältin Efthimia Doussi arbeitet in Lesbos für die Organisation HIAS, die Flüchtlingen weltweit unter anderem in den juristischen Verfahren hilft. Mittlerweile haben die HIAS-Mitarbeiterinnen Zugang zum Hafen – über 500 Menschen seien auf dem Militär­schiff in Administrativ­haft, sagt Doussi, darunter Alte, schwangere Frauen und unbegleitete Minderjährige. «Es ist ein komplettes Chaos.»

Denn seit der Ankündigung, die Asyl­gesuche für einen Monat auszusetzen, kommt auch eine neue Regel: Wer illegal einreist, wird nicht als Asyl­suchender betrachtet und interniert. «Wir erachten diese Internierungen als illegal, denn es handelt sich um Personen, die gar nicht ausgeschafft werden können. Bisher haben wir zwar keine Deportationen gesehen, aber dass das Beantragen von Asyl für einen Monat ausgesetzt wird, hat keine rechtliche Basis», sagt Anwältin Doussi.

Gestrandet im absoluten Nirgendwo: Einheimische hindern Asylsuchende am Zutritt zum Flüchtlingslager Moria. Panagiotis Balaskas/AP Photo/Keystone

Der EU-Türkei-Deal 2016 hat den griechischen Inseln insofern eine Entlastung gebracht, als weniger Leute ankommen – um 95 Prozent verringerten sich die Ankünfte zwischen 2015 und 2017. Das Paradoxe: Die rapide zunehmende Verstopfung der Camps wurde damit höchstens ein wenig gedämpft.

Der Deal bedeutete zusätzliche Verzögerungen im Asyl­prozess, da neu zwei Aufnahme­verfahren geführt werden müssen. Der reguläre Antrag auf Asyl und vorab die Prüfung, ob man Flüchtlinge wieder in die Türkei zurück­schicken kann, ohne dass man sie überhaupt einen Asyl­antrag stellen lässt. «Auch das ist ein Verstoss gegen die Genfer Konvention», sagt Fyssa.

«Eine gewisse Symbol­wirkung konnte man dem Ganzen eine Zeit lang attestieren», sagt Raphael Bossong. Die Botschaft: Es lohnt sich nicht, in Griechen­land Asyl zu beantragen. Die Grenze gegen irreguläre Zuwanderung zu sichern, könne durchaus ein wirksames und legitimes Mittel sein. «Man kann den Preis hochtreiben, man kann Menschen festsetzen und so einige abschrecken.» Das werfe aber die Frage auf: Wie weit geht man?

So weit, dass man Zehntausende Flüchtlinge in überfüllten Camps und menschen­unwürdigen Verhältnissen leben lässt? Mehrfach gegen die Genfer Flüchtlings­konvention verstösst? Sie in ein Drittland abweist, das möglicher­weise nicht sicher ist?

Ein wesentlicher Bestandteil der Abmachung ist, dass die Türkei die Grenzen schliesst und «irreguläre» Flüchtlinge zurücknimmt, die trotzdem in Griechen­land ankommen. Für jeden «irregulären» Flüchtling, der zurück­geschafft wird, nimmt die EU einen «regulären» Flüchtling auf – maximal aber 72’000 Menschen.

Von den 302’902 Übertritten seit 2016 wurden nur 1907 in die Türkei rückgeführt. Der Grund sind die griechischen Richter, die die Fälle verhandelten. Im Gegen­satz zu der EU befanden sie die Türkei nicht als sicheres Drittland.

Überhaupt ist Griechen­land nicht gut auf die Türkei zu sprechen, seit Erdoğan einen Seehandels­vertrag mit Libyen unterzeichnete, in dem er Teile der Ägäis exklusiv beanspruchte.

Eine Drohgebärde, der man in Athen mit Widerstand begegnete.

«Ein Teil der Wut und Gewalt, die Flüchtlinge erleben, die jetzt über die Grenze kommen, gilt sicher auch Erdoğan und der Türkei», sagt Fyssa.

Türkei: Erdoğans viele Fronten

Am Tag, an dem die Türkei ihre Grenzen nach Europa öffnet, begründet Erdoğan den Entscheid damit, dass die EU sich nicht an den Flüchtlings­pakt von 2016 gehalten habe.

Das Versprechen der EU im Wesentlichen:

  • insgesamt 6 Milliarden Euro Flüchtlingshilfe,

  • der Austausch von «irregulären» gegen «reguläre» Flüchtlinge,

  • die Beschleunigung der Visa-Liberalisierung für die Türkei,

  • der Ausbau der Zollunion,

  • die Wieder­aufnahme der Beitritts­verhandlungen

  • und die Beteiligung an der sicheren Unter­bringung von Flüchtlingen im syrischen Grenzraum.

«Erdoğans Anklage ist in Teilen sicher gerecht­fertigt», sagt Christoph Ramm, Türkei­experte an der Universität Bern. Dass das der alleinige Grund für die Grenz­öffnung ist, bezweifelt er. «Zu vieles deutet auf eine sehr kalkulierte Inszenierung hin.»

Die Inszenierung hat ein langes Vorspiel.

Es beginnt mit den Beitritts­verhandlungen, die am Anfang von Erdoğans Regierungs­zeit stehen, die 2002 mit seinem Wahlsieg beginnt. Die Debatte darüber, ob die Türkei überhaupt zu Europa gehöre. Nicht als Partner auf Augen­höhe angesehen zu werden. Eine tiefe Demütigung.

Dazu muss man wissen: «Anders, als ihm häufig unterstellt wird, will Erdoğan nicht in erster Linie Sultan sein, sondern eher gleichrangig mit Atatürk betrachtet werden», sagt Ramm. «Es geht ihm um Anerkennung als Repräsentant des neuen, islamisch-konservativen Bürgertums.»

Als 2011 der Arabische Frühling hereinbricht, wittert Erdoğan seine Chance. Es gelingt ihm, sich als Patron dieser Bewegungen zu positionieren: als charismatischer, dynamischer Anführer, dessen Land mit gutem Beispiel voranschreitet – ganz ohne westliche Einmischung.

Dies ist Teil einer grösseren Strategie, die Türkei als Regional­macht und Vorbild für die Nachbarn zu etablieren. Das Wording: «No problems with neighbours.»

Erdoğans aussenpolitischer Frühling ist nicht von langer Dauer. Nach gelungenen diplomatischen Aktionen in Libyen und Ägypten findet 2011 in Syrien eine plötzliche Kehrtwende statt. Statt Gesprächen und Vermittlung heisst es jetzt: Intervention aufseiten der Rebellen gegen Bashar al-Assad. Im Zuge dessen öffnet die Türkei die Grenze nach Syrien und für Flüchtlinge (während der Verhandlungen des Deals mit der EU wird die Grenze wieder geschlossen).

Doch Erdoğan hat nicht mit Bashar al-Assads Durchhalte­willen gerechnet. Und erst recht nicht mit Russland, das sich auf dessen Seite schlägt.

Als 2016 eine über­forderte EU als Bitt­steller an die Türkei tritt, die Grenzen zu schliessen, hat Erdoğan schon seit vier Jahren versucht, die Nato, der auch die wichtigsten EU-Staaten angehören, dazu zu bringen, auf seiner Seite gegen Assad zu kämpfen. Nach dem Scheitern seines Diplomatie­feldzugs im arabischen Raum ist die Türkei zudem weitgehend isoliert und hat entsprechend Interesse an erleichterten Einreise­bestimmungen und einer Zollunion mit dem westlichen Nachbarn.

Und: Die türkische Wirtschaft ist 2016 noch immer im Aufschwung – die Flüchtlinge sind weniger Belastung als billige, unregulierte Arbeitskräfte.

Die Türkei ist stolz auf ihren Umgang mit den Flüchtlingen. Nicht umsonst schreibt der einst regime­treue Journalist Fatih Altaylı im Nachgang zu Erdoğans Grenz­öffnung sinngemäss: «Über Nacht haben wir die moralische Überlegen­heit verloren.»

Tatsächlich ging es den fast vier Millionen Flüchtlingen in der Türkei lange verhältnismässig gut – oft besser als in den Lagern auf Griechen­lands Inseln. Zumindest den syrischen Flüchtlingen; zumindest den syrischen Flüchtlingen, die nicht Kurden sind.

«Dass es vielen syrischen Flüchtlingen in der Türkei relativ gut ging, ist allerdings nicht unbedingt das Verdienst des türkischen Staates», sagt Ramm. «Eine planvolle Flüchtlings­politik gab es kaum. Viel Unter­stützung ist nicht zuletzt einer lebendigen Zivil­gesellschaft zu verdanken.» Der informelle Status erlaubte es Flüchtlingen immerhin, Existenzen aufzubauen.

Doch dieser informelle Status wird ihnen jetzt zum Verhängnis, da er nicht nur keine Regeln, sondern auch keinerlei Sicher­heit schafft.

Und die Situation ist heute eine andere als 2016.

Vier Jahre nach dem Deal mit der EU kämpft die Türkei mit einer lang­wierigen Wirtschafts­krise – ausgelöst von Erdoğans Strategie des künstlich aufgepumpten Wirtschafts­wachstums, das 2018 schliesslich zusammenfällt.

Im Zuge dessen verlieren Flüchtlinge ihre Arbeit – und werden als Belastung wahrgenommen. Dazu warten derzeit 950’000 Flüchtlinge vor den Toren der Türkei, und Erdoğan hat – entgegen seinen Drohungen – nicht das geringste Interesse, die Grenze nach Syrien zu öffnen, denn durch die angespannte Lage ist der Rassismus im Aufwind. Und mit ihm die Ultrarechte.

Erdoğan beugt sich diesem Trend lieber, als ihm zu widerstehen. «Je mehr er unter Druck gerät, desto häufiger spielt er die Karte des Nationalismus», sagt Ramm – und Erdoğans Partei verliert seit Jahren kontinuierlich an Boden. Allein in den vergangenen drei Monaten haben gleich zwei seiner einstigen Weggefährten, beides ehemalige Top-Minister, eigene Parteien als Opposition zur AKP gegründet.

Noch dazu ist die türkische Armee vor zwei Wochen mit einer Offensive in der syrischen Rebellen­stadt Idlib kolossal am russischen Gegenfeuer gescheitert – 30 tote Soldaten wurden von Erdoğans Regierung bestätigt, möglicher­weise starben mehr. Und die Intervention hatte auch schon davor kaum Rückhalt in der Bevölkerung – im Gegensatz zur Offensive gegen die kurdische PYD in Nord­syrien im letzten Jahr.

Trauerzug in Tekirdag für den türkischen Soldaten Birhan. Er war einer der Getöteten im syrischen Idlib. Emin Ozmen/Magnum Photos/Keystone

Aus dieser Perspektive hatte Erdoğan gleich drei sehr gute Gründe, die Grenze nach Griechen­land zu öffnen:

  1. Um von der Schlappe in Idlib und dem unausweichlichen Kniefall vor Putin abzulenken, indem er sich an einer anderen Grenze als starker Mann inszeniert.

  2. Um die EU auf Augenhöhe zu zwingen und somit dazu, ihren Teil des Flüchtlings­deals beschleunigt zu erfüllen – Milliarden­zahlungen, Zoll­union, erleichterter Zugang zur EU – was auch Entspannung in der Wirtschafts­krise bedeuten könnte.

  3. Um ihm und seiner Regierung die dringend benötigte Legitimität zu verschaffen – sowohl innerhalb der eigenen Landes­grenzen als auch bei seiner Inter­vention im Syrienkonflikt.

Syrien ist ein unüberschaubares Schlachtfeld. Im syrischen Bürgerkrieg haben schon der Iran, der Irak, Grossbritannien, Israel, die Niederlande, die USA, Belgien, Frankreich, Russland, Kanada und Deutschland gekämpft. Und natürlich die Türkei.

Erdoğan begründet seine Einmischung damit, den Diktator Assad stürzen und dem Nachbar­land Demokratie bringen zu wollen.

In Wirklichkeit geht es jedoch darum, die Reste des geschwundenen türkischen Einflusses in der Region zu sichern. Und Erdoğan versucht – egal ob auf türkischem, irakischem oder syrischem Boden – den Teil der Bevölkerung zu schwächen, der seinem absoluten Macht­anspruch am gefährlichsten werden könnte: das Volk der Kurdinnen.

Und was will Erdoğan in Syrien von der EU? Eine Schutz­zone im Norden des Landes, mit der er die Kurden dort in Schach halten könnte. An einer Schutz­zone – zumindest in Idlib – hat auch die EU Interesse, die möglichst viele Vertriebene möglichst weit weg halten will.

Aber wer garantiert, dass so eine Zone tatsächlich für alle sicher ist? Lässt sich das mit Sanktionen erreichen? Und wer ist bereit, im Extrem­fall einen russischen Kampfjet abzuschiessen, wenn es darum geht, ein Flugverbot durchzusetzen? Und wie wird Erdoğan Putin in Syrien entgegen­treten, wenn er glaubt, genügend Rücken­deckung zu haben?

«Erdoğans aussen­politische Strategie ist auch für Experten nicht immer einfach einzuschätzen», sagt Ramm und verweist auf die plötzliche Kehrt­wende Erdoğans im Zuge des Arabischen Frühlings. Vieles wirke wenig durch­dacht, ohne Vision. «Seine Aussen­politik ist zunehmend auf die Wirkung im Inneren ausgerichtet, um bei seiner verbliebenen Wähler­schaft zu punkten.»

Mit anderen Worten: Für Erdoğan ist alles Innen­politik – egal, auf welcher Seite der Grenze.

Das macht ihn unberechenbar. Darauf kann sich die EU verlassen.

Und auf noch etwas weist Ramm hin: «Erdoğan ist ein Politiker des Formats ‹Je brachialer ich auftrete, je extremer meine Forderungen sind, desto mehr Erfolg habe ich›.»

Und je mehr Erfolg er damit hat, desto extremer und brachialer dürfte es werden.

Brüssel: Ein irrsinniger Kreislauf

Als Erdoğan die Grenze öffnet, ist in der EU die Empörung gross. Zynismus wird ihm vorgeworfen, Flüchtlinge als Pfand zu missbrauchen. Doch schon bald heisst es, 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Und das wird Priorität.

Im Sommer 2015 steht die EU unter Druck. Im Süden droht der Grexit, und auch in Gross­britannien werden die Stimmen der Unions­separatisten lauter. Und es ist der Höhe­punkt der «Flüchtlings­krise» – 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht, viele Richtung Europa.

Eigentlich hätte die EU eine Grundlage, um echte Notlagen zu bewältigen. «Massenzustrom­richtlinie» heisst das Instrument, das die EU 2001 nach den Erfahrungen mit den Flucht­bewegungen der Neunziger­jahre einführte. Angewendet wurde sie aber noch nie – «warum das so ist, wüsste ich auch gerne, das hat mir noch niemand schlüssig erklären können», sagt Raphael Bossong von der Stiftung Wissen­schaft und Politik.

Einfacher schien es der EU, sich der Türkei zuzuwenden, um den Andrang der Flüchtlinge in den Griff zu bekommen. «Viele sahen darin die Möglich­keit, eine strukturierte Beziehung zur Türkei aufzubauen», sagt Bossong. «Und man hoffte, der Deal sei ein Modell zur Migrations­steuerung, das man auch auf die Zusammen­arbeit mit anderen Staaten anwenden könnte.»

Das war ein Irrtum.

Auf gleichem Kurs in der Flüchtlings­frage: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan (links), EU-Ratspräsident Charles Michel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 9. März. Zhang Cheng/Xinhua/Keystone

Heute steht die EU am gleichen Punkt wie vor vier Jahren. Sollte der Deal mit der Türkei diese Woche tatsächlich erneuert werden, stellen sich also die gleichen drei Fragen wie schon 2016:

  1. Die Frage der Stabilität: Wie verlässlich ist ein Abkommen mit einem Machthaber wie Erdoğan?

  2. Die Frage der Ethik: Kann die Türkei als sicherer Drittstaat gelten, obwohl sämtliche Menschenrechts­organisationen das verneinen?

  3. Die Frage der Rechts­staatlichkeit: Auf welcher rechtlichen Grundlage basiert die Über­einkunft zwischen der Türkei und der EU?

Als «Flüchtlingspakt», «Vereinbarung» oder «Abkommen» wird in den Medien das bezeichnet, was Europäerinnen und die Türkei im März 2016 aushandelten. Das klingt offiziell und juristisch stichhaltig – «faktisch jedoch gibt es nichts ausser einer Pressemitteilung», sagt Bilgin Ayata. Ayata ist Professorin für Politische Soziologie an der Universität Basel und Leiterin des dortigen Forschungsprojekts über die Hotspots im mediterranen Raum.

Die Expertin für europäische Migrations­politik hat den Deal genauer untersucht. Um es kurz zu machen: Kein offizielles Organ der EU hat je beschlossen, eine Über­einkunft mit der türkischen Regierung zur Migrations­krise abzuschliessen. Das stellte 2017 das Gericht der Europäischen Union fest, als drei Asyl­bewerber Klage gegen den Deal einreichten – und sich das Gericht schlicht für nicht zuständig erklären musste.

Die Vereinbarung der EU mit der Türkei sei zwar rechts­verbindlich – ob sie recht­mässig sei, erscheine «sowohl aus unions­rechtlicher als auch aus flüchtlings­rechtlicher Perspektive (…) höchst fraglich». Zu diesem Schluss kommt eine juristische Untersuchung, der zwei Juristen der Goethe-Universität in Frankfurt die «Erklärung EU-Türkei» – wie der Deal offiziell heisst – unterzogen haben.

Zwar sind beim Europäischen Gerichtshof für Menschen­rechte einige Fälle hängig – dabei geht es aber nicht um den Deal an sich, sondern um die Frage, ob die Türkei für die einzelnen Personen ein sicherer Drittstaat sei.

Ein Deal also, der völker­rechtlich frag­würdig ist. Und rechts­staatlich kaum angefochten werden kann.

Dessen ungeachtet lassen die Voten der EU-Offiziellen in den jüngsten Tagen keinen Zweifel: Die Union sieht in der Migrations­frage keine Alternative zum Deal mit der Türkei und ihrem unberechen­baren Präsidenten.

Aber warum hat es die EU nicht geschafft, ihre Migrations­politik in den vier Jahren, in denen die Türkei die Flüchtlinge fernhielt, auf eine nachhaltige Lösung umzustellen?

Vielleicht, weil das nie vorgesehen war.

«Bei der Migrations­frage ist die Politik der EU seit zwei Jahr­zehnten auf dem gleichen Kurs – Abschottung und Auslagerung um jeden Preis», sagt Ayata.

Ayata hat unter­sucht, dass die EU und ihre Mitglieds­staaten bei Flüchtlings­deals immer wieder zu demokratisch fragwürdigen Mitteln greifen. «Auf autoritäre Regimes wie das Erdoğans zu setzen, ist Teil des europäischen Migrations­managements in der Abwehr von ungewollter Zuwanderung», sagt sie.

Das macht durchaus Sinn: Wenn Sie ein unliebsames Migrations­abkommen, dessen Gültig­keit unter inter­nationalem Recht frag­würdig ist, aushandeln müssten – gehen Sie damit lieber zu einem Diktator oder einer demokratisch gewählten Regierung?

«Ben Ali, Ghadhafi, Erdoğan – mit ihren Migrations­kooperationen legitimiert die EU wieder und wieder autoritäre Macht­haber, die durch Repressionen in ihren eigenen Ländern wiederum neue Flüchtlinge erzeugen», sagt Ayata. «Ein irrsinniger Kreis­lauf, der sich durch sein eigenes Scheitern am Leben erhält.»

Das Fazit der Migrations­forscherin: Die katastrophalen bis lebens­gefährlichen Zustände, in denen Flüchtlinge vor und knapp hinter Europas Toren leben, sind eine direkte Folge der europäischen Auslagerungspolitik.

Das Verhalten der EU gegenüber Erdoğan nach der jüngsten Eskalation ordnet sie auch der Furcht vor der weiteren Erstarkung ultra­rechts­populistischer Parteien in Europa zu. Doch statt sich diesem Gedanken­gut entgegenzustellen, riegelt man die Grenzen einfach ab.

«Auch die Rhetorik hat sich verändert», stellt Ayata fest: Das ehemalige Migrations­ressort der EU heisst jetzt «Schutz unseres europäischen Lebens­stils», Griechen­land ist laut von der Leyen «der Schild Europas», und Hotspot ist ursprünglich ein Militär­begriff, der gefährliche Zonen kennzeichnet.

Vor ein paar Jahren forderten Politiker der AfD, an der Grenze zu schiessen. «Jetzt wird geschossen – noch nur mit Gummi­schrot, aber es wird geschossen», sagt Ayata.

Und fragt: «Führen wir an der griechisch-türkischen Grenze gerade einen Krieg gegen Flüchtlinge?»

Der «Schild Europas» gegen Menschen, die Hilfe brauchen: Griechische Polizisten an der Grenze zur Türkei. Emin Ozmen/Magnum Photos/Keystone

Damit sich die Situation in Griechen­land nachhaltig entspannen kann, müsste die EU Flüchtlinge nicht länger in Grenzländer und Drittstaaten abschieben, sondern aufnehmen, sagt Ayata. Doch davon ist man weit entfernt. Das Einzige, worauf man sich in der EU in Sachen Migrations­politik bislang hat einigen können, ist:

  • mehr Grenzschutz,

  • demokratisch fragwürdige Abkommen mit demokratisch fragwürdigen Drittländern, die als Auffang­becken dienen sollen,

  • und den Hotspot-Approach, der dafür sorgt, dass die Flüchtlinge vor allem in den Grenz­ländern bleiben.

«Das ist keine zukunfts­weisende Migrationspolitik», sagt Ayata.

Gemäss einer Studie der World Bank werden bis 2050 140 Millionen Menschen ihr Zuhause wegen der Folgen des Klima­wandels verlassen müssen. «Und die EU bricht jetzt fast zusammen weswegen? Vier Millionen in der Türkei? Nur ein paar Tausenden an der Grenze», fragt Bilgin Ayata rhetorisch.

«Die Einsicht, dass man sich verhakt hat und auch mit der Dublin-Reform nicht weiter­kommt, scheint sich hinter den Kulissen bei den meisten Mitglieds­staaten durchgesetzt zu haben», sagt Politik­wissenschaftler Bossong. Der Migrations­pakt der EU-Kommission und die halb offiziell bereits kursierenden Papiere der deutschen Regierung deuten dies an.

Dort verabschiedet man sich von der Vorstellung, dass alle Staaten dabei mitmachen würden, die Grenz­länder zu entlasten, sondern begnügt sich mit einer Koalition der Willigen. Und hofft darauf, dass sie gross genug sein wird.

Dass eine Art «Hotspot 2.0» eine Lösung sein könnte, glaubt Ayata nicht. «Der Hotspot-Ansatz selber ist das Problem. Es hat zu einer weiteren Militarisierung der Migrations­abwehr und Aushöhlung der Genfer Flüchtlings­konvention geführt – die humanitären Auswirkungen sind fatal.»

Was die jüngsten Ereignisse an der Grenze zur Türkei zeigen: Die EU steht am Scheideweg – will sie eine reine Wirtschafts­union sein? Oder auch eine Werte­gemeinschaft?

Zerbricht die Union am Ende an der Asylfrage?

«Politisch vorerst nicht», sagt Bossong, «moralisch womöglich schon.»