Überleben in Europa
Auf der Insel Lesbos in Europas grösstem Flüchtlingslager stecken so viele Männer, Frauen und Kinder fest wie noch nie. Für den türkischen Präsidenten Erdoğan sind sie ein Mittel der Machtpolitik. Und in der EU fühlt sich schon lange niemand mehr für sie verantwortlich. Ihre Situation ist erbärmlich.
Von Franziska Grillmeier (Text) und Christian Grund (Bilder), 03.01.2020
Auf der Strasse, die von Moria zur Hafenstadt Mytilene führt, stehen rund hundert Frauen. Vor ihnen haben sich Polizisten mit Schutzschildern in einer Reihe aufgestellt. Die Frauen rufen nach «Sicherheit», «Schutz» und «Menschenrechten». Manche halten Kartonstücke und Stoffbanner in die Höhe, auf denen steht: «Was ist unsere Sünde?»
Direkt hinter den Frauen haben sich etwa dreimal so viele Männer auf dem Asphalt versammelt. Die meisten hocken auf ihren Fersen, Kinder und Wasserflaschen im Schoss. An diesem letzten Tag im September ist für alle klar, dass die Männer den Frauen den Vortritt lassen.
Vierundzwanzig Stunden zuvor war im Flüchtlingslager von Moria auf der griechischen Insel Lesbos ein Feuer ausgebrochen. Eine Bewohnerin des Camps verbrannte in einem der Container. Ausgelöst wurde der Brand durch eine kaputte Glühbirne an einem losen Stromkabel. Panik bricht aus in dem Lager, das einst als Militärlager für 2800 Personen angelegt wurde und in dem damals bereits über 13’000 Menschen leben. Als die Bewohner später sehen, wie die tote Frau aus dem Container getragen wird, fangen einige wenige an, Steine auf Polizisten zu werfen. Aus Wut, dass sie zu spät gekommen sind. Die Polizei reagiert mit Tränengas, Tausende Menschen verlassen innerhalb von wenigen Minuten ihre Zelte, Kinder verlieren ihre Eltern im Rauch. An jenem Tag des Feuers und der Panik ist das Krankenhaus von Mytilene dreifach überbelegt.
Auf sich allein gestellt
«Wir kommen aus dem Krieg und finden wieder Krieg», sagt die 27-jährige Naima Mousavi. Sie heisst eigentlich anders, die Namen aller Geflüchteten sind in diesem Beitrag zu ihrem Schutz geändert. Mousavi steht beim Protest am Tag danach ganz vorn, direkt bei den Polizisten. Ihren Mund hat sie mit einem bunten Schal verhüllt, um ihre Identität nicht preiszugeben. An ihre Beine klammert sich ihre 7-jährige Tochter.
Mousavi drückt der Kleinen ein Stück Watte tiefer ins Ohr. Der Knall einer Tränengaspatrone habe ihr Trommelfell platzen lassen, sagt die Mutter. Zum Arzt konnten sie noch nicht. Sie kamen nicht zum Schlafen, nicht zum Essen. Es gibt keine reguläre Schule. Die Zelte, in denen viele der Menschen von Camp Moria leben, haben keine Türen, nur Reissverschlüsse, die sich nicht abschliessen lassen.
Naima Mousavi trägt ihre Tochter auf den Schultern mit zur Essensausgabe, die an manchen Tagen bis zu sechs Stunden dauert. Nimmt sie mit, wenn sie für die Toilette ansteht oder zum Zähneputzen. Oder, wie an diesem Tag, wenn sie vor einer Reihe bewaffneter Polizisten steht und mit anderen Frauen für mehr Sicherheit demonstriert.
Zwei Monate später, Anfang Dezember, steht Farad Agari im Nieselregen zwischen den Olivenbäumen vor einem Haufen Zeltplanen. Hammerschläge und Babygeschrei hallen durch den Hain. Es ist vier Uhr nachmittags, in einer Stunde wird es dunkel im Camp.
Farad Agari, 39 Jahre alt, ist an diesem Morgen mit seiner Familie in einem Schlauchboot auf Lesbos angekommen. Sieben Mal hatten sie die Überfahrt versucht, bis sie es an der türkischen Küstenwache vorbeischafften. Im Norden der Insel kamen sie zuerst in ein Zwischenlager, dann ging es mit dem Bus nach Moria. «‹Sucht euch einen Platz›, haben sie zu uns gesagt, aber wo bekomme ich eine Schaufel? Wo Nägel? Und wo ein Licht?»
Agari und seine Familie sind einige von Tausenden, die nach dem Feuer und der Massenpanik im September auf der Ägäisinsel ankommen. 6000 waren es in zwei Monaten. Anfang Dezember haben die griechischen Behörden knapp 19’000 Geflüchtete in Moria registriert. Was nicht mitgehalten hat: die Zahl der Ärzte, Zelte, Medikamente, Windelpackungen, Anwältinnen, Busse in die Hafenstadt und die Zahl der Beamten, die Asylanträge bearbeiten.
Die Menschen müssen sich selber helfen.
Ankommen und stecken bleiben
Schon lange gibt es für Neuankömmlinge keinen Platz mehr in den witterungsfesten und kälteisolierten Containern im Camp. Sie müssen sich Zelte in den umliegenden Olivenhainen aufbauen. Dabei wird nicht unterschieden, ob es sich um eine schwangere Frau, einen 15-jährigen Jungen oder einen Menschen im Rollstuhl handelt. Abgeschnitten von Wasser, Toiletten und Stromversorgung verbringen sie ihre Tage nach der Ankunft in Europa mit – Überleben.
Die Lage auf den Ägäischen Inseln ist nicht neu. Seit Jahren fehlt der politische Wille, die Situation zu verbessern. Als die EU im März 2016 mit der türkischen Regierung ein Abkommen schloss, war das erklärte Ziel, dass weniger Geflüchtete die EU erreichen. Die Türkei kontrolliert die Grenzen zu Griechenland, dafür überweist die EU der Türkei 6 Milliarden Euro.
Ebenfalls Teil des Deals: Die Türkei nimmt alle abgelehnten Asylbewerber zurück, die es von der türkischen Küste auf eine der griechischen Inseln geschafft haben. Doch bis heute hat Griechenland offiziell nur etwa 2000 Menschen in die Türkei zurückgeschickt. Die griechischen Behörden sind trotz Milliardenzahlungen aus Brüssel notorisch überlastet. Asylverfahren ziehen sich über Jahre hinweg, und jene, die ankommen, bleiben auf den Inseln stecken. Und in Brüssel fühlt sich für all das schon lange niemand mehr verantwortlich.
Einer der Gründe für die steigende Zahl der Neuankömmlinge: Für viele ist die Türkei nicht mehr sicher, das Leben dort schwierig bis gefährlich.
Afghanen etwa, die bis vor einiger Zeit mit Arbeit auf Gemüseplantagen oder auf dem Bau ihren Lebensunterhalt verdienen konnten, werden jetzt von der Polizei aufgegriffen, verlieren ihre Jobs und stossen verstärkt auf Ablehnung in der türkischen Bevölkerung. Seit Januar wurden nach Angaben der Regierung in Ankara über 300’000 Flüchtlinge ohne Papiere verhaftet und Zehntausende Afghanen deportiert. Ihre Lage in der Türkei führt dazu, dass viele die Fahrt über das Meer nach Griechenland in Angriff nehmen.
Spielball der Geopolitik
Dabei sind die Geflüchteten im Land ein wichtiger Machtfaktor für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Immer wieder droht er damit, den Flüchtlingsdeal mit der EU platzen zu lassen und die Grenzen nach Europa zu öffnen. Eine Strategie, die aufzugehen scheint: Als Erdoğan im vergangenen Herbst völkerrechtswidrig Truppen nach Nordsyrien einmarschieren liess, um eine sogenannte Sicherheitszone zu errichten, reagierte die EU nur mit verhaltener Kritik.
Kürzlich hat Erdoğan seinen Plan öffentlich gemacht, ein bis zwei Millionen syrische Geflüchtete aus der Türkei in diese Sicherheitszone im Norden Syriens umsiedeln zu wollen. Die dort ansässigen syrischen Kurden, aber auch Menschenrechtsorganisationen und andere Kritiker Erdoğans unterstellen dem türkischen Präsidenten, er wolle in dieser Zone die Bevölkerungsstruktur verändern. Arabische Syrer, die von anderswo im Land stammen und in die Türkei geflohen sind, sollen im Norden angesiedelt werden.
Die Mehrheitsverhältnisse in dem Gebiet an der Südgrenze der Türkei sollen sich so verändern, dass sich die Ambitionen der Kurden auf mehr Autonomie von selbst erledigen. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch etwa spricht von Plünderungen und Massenhinrichtungen. Der türkische Einmarsch in der nordsyrischen Kurdenstadt Afrin vor rund zwei Jahren dient dabei als Fanal.
Auch diesen Herbst, allein in den ersten Tagen und Wochen nach der Invasion in grössere Gebiete in Nordsyrien, werden nach Uno-Angaben 200’000 Kurden, Araber, Turkmenen, Christen und Jesiden zu Vertriebenen.
Und die 3,6 Millionen Syrer in der Türkei bekommen zunehmend Angst, dass sie zur Rückkehr in ein Land gezwungen werden, in dem noch immer Krieg herrscht. Im September stellte Erdoğan seine Umsiedlungspläne den Vereinten Nationen vor: 26 Milliarden Dollar sollen sie kosten, bezahlt überwiegend von der Uno und der EU. Und erneut drohte Erdoğan: Stelle sich Europa gegen seinen Plan, könne er jederzeit die Grenzen öffnen.
Die Menschen, die sich Tag für Tag durch den nasskalten Winter von Moria kämpfen, sind ein Spielball der Geopolitik.
«Nur etwas Sicherheit»
«Wir sind allen ausgeliefert», sagt Bahadoor Arapi und wiegt dazu seinen Kopf. Der 40-Jährige sitzt auf dem Teppich der einzigen Schule, die es im Lager von Moria gibt. Arapi hat den kleinen Bretterverschlag zusammen mit ein paar anderen Afghanen nach seiner Ankunft im Frühling mitten im Olivenhain selbst zusammengezimmert. Er habe es nicht ertragen können, sagt er, dass die Kinder keine Bücher haben, keinen Unterricht und keine Perspektive. Über 40 Prozent der 19’000 Menschen in Moria sind Kinder.
Mit seiner Familie floh Arapi aus Afghanistan. Von Beruf Journalist, musste er das Land von einem Tag auf den nächsten verlassen. Vor einem Monat wurde sein Asylantrag in Griechenland abgelehnt. Der Grund: Man wisse nicht genug über die Sicherheitslage in Afghanistan. «Was soll ich zu dieser Begründung sagen?», fragt er mit Blick zum Planendach des Schulverschlags.
Hinter ihm hängt die Englischlehrerin ein paar Solarlichter an die Wand, die nach zehn Minuten wieder ausgehen, Strom gibt es seit vier Wochen nicht mehr in den Olivenhainen. Die Lehrer unterrichten hier selbstorganisiert täglich Hunderte Kinder in zwei kleinen Klassenzimmern. «Es kann jeden Tag sein, dass wir schliessen müssen», sagt Arapi.
Im Nebenraum waschen ein paar Schülerinnen Pinsel für den Kunstunterricht aus. Ihre schlammverkrusteten Schuhe sind fein säuberlich vor dem Eingang aufgereiht. «Wir brauchen nicht viel», sagt Arapi, «nur eines: etwas Sicherheit, um einmal klar denken zu können.»
Franziska Grillmeier lebt auf der Insel Lesbos. In ihren Reportagen fokussiert sie auf das Leben einzelner Menschen. Ihre Geschichten handeln oft von Gesundheitsversorgung in Konfliktregionen und den Folgen von Vertreibung. Sie schreibt für deutschsprachige Wochenzeitungen und Magazine.