Der blinde Fleck im Kohlenstoffbudget
Etwa zehn Jahre: So lange können wir nach bisherigen Schätzungen ungebremst CO2 in die Luft pusten, bevor das 1,5-Grad-Ziel verfehlt ist. Doch es könnte sogar noch weniger Zeit bleiben.
Von Arian Bastani, 24.02.2020
Stellen Sie sich eine Badewanne vor. Sie lassen Warmwasser einlaufen und gehen noch rasch zurück ins Arbeitszimmer, um eine E-Mail zu schreiben.
Nach kurzer Zeit merken Sie: Es bildet sich mehr Schaum, als Sie gedacht haben – viel mehr! Blöderweise klemmt jetzt auch noch der Wasserhahn. Und der Abfluss, durch den die Flüssigkeit abfliessen könnte, ist verstopft.
Die Zeit rast, und die Katastrophe rückt unerbittlich näher: So ungefähr muss sich ein Klimawissenschaftler fühlen, wenn er sich mit dem Kohlenstoffbudget beschäftigt – der Restmenge an CO2-Emissionen, auf die sich die Menschheit beschränken muss, wenn sie das 1,5-Grad-Ziel erreichen will.
Das Kohlenstoffbudget
Die verbleibende Zeit bis zum Tag X war «auf lange Sicht» schon mehrmals ein Thema.
Wir haben aufgezeigt, wie die Erdtemperatur generell auf eine CO2-Zunahme reagiert: Doppelt so viel Kohlendioxid in der Atmosphäre führt langfristig zu etwa 3 Grad Erwärmung.
Und wir haben erklärt, wie der Weltklimarat das verbleibende Kohlenstoffbudget berechnet: Bei unverändertem Ausstoss und je nach Temperatursensitivität beträgt es um die zehn Jahre.
Doch damit ist die Angelegenheit noch nicht fertigdiskutiert.
Klimaprognosen sind eine komplexe Angelegenheit. Man muss zahlreiche Feedbacks berücksichtigen – selbstverstärkende Rückkopplungsprozesse, welche die Erderwärmung verstärken. Manche von ihnen sind in den Berechnungen des Klimarats bereits explizit modelliert. Andere sind im Kohlenstoffbudget nur mit einem Pauschalbetrag enthalten: 100 Gigatonnen. Das ist so viel Kohlendioxid, wie global in etwa zweieinhalb Jahren ausgestossen wird.
Dieser Betrag könnte allerdings zu klein angesetzt sein.
Nicht so permanenter Frost
Ein Grund für diese Annahme ist der Permafrost im hohen Norden. Wie die Bezeichnung suggeriert, handelt es sich um permanent gefrorenen Boden. Man findet ihn vor allem im nördlichen Russland, in Kanada und Alaska. Er enthält organische Überreste von Pflanzen und Tieren, die einst in diesen Regionen lebten.
Normalerweise werden diese Überreste im Boden weitgehend zersetzt, und der darin enthaltene Kohlenstoff entweicht in die Luft. Doch durch die tiefen Temperaturen wurde dies verhindert. Die Überreste haben sich angesammelt. Das macht den Permafrost reich an Kohlenstoff: Er enthält etwa dreimal mehr davon, als seit der Industrialisierung von Menschen ausgestossen wurde.
Wenn aber der Permafrost wegen der steigenden Temperaturen auftaut, kommt die Zersetzung in Gang, und der Kohlenstoff wird freigesetzt. Dass dieser Prozess bereits angelaufen ist, zeigen Daten. Unter anderem eine der längsten ununterbrochenen Messreihen aus der Tundra in Alaska.
Die Grafik zeigt, dass der Kohlenstoffausstoss im Jahresverlauf jeweils schwankt: Im Sommer, wenn der Permafrost taut, werden Gase freigesetzt; das meiste davon ist Kohlendioxid, aber teilweise auch Methan, das eine etwa 30-mal stärkere Treibhauswirkung hat. Im Winter gefriert der Boden wieder: Der Prozess verlangsamt sich, weniger Gase entweichen.
Über die acht abgebildeten Jahre hinweg hat der Ausstoss aber klar zugenommen: von etwa 0,5 auf knapp 1 Gramm pro Quadratmeter und Tag. Damit kommt über die gesamte Permafrostregion einiges zusammen: Jedes Jahr werden inzwischen etwa 0,3 bis 0,6 Gigatonnen Kohlenstoff freigesetzt.
Die Schmelze des Permafrosts ist möglicherweise bereits unumkehrbar. Und bis Ende des Jahrhunderts dürfte der jährliche Ausstoss aufgrund der Erwärmung noch zunehmen: auf das Doppelte oder – neuesten Forschungsergebnissen zufolge – sogar auf das Dreifache. Damit wäre bereits ein beträchtlicher Teil der 100 Gigatonnen aufgebraucht, die als Pauschalbetrag für diverse Feedbacks im Kohlenstoffbudget enthalten sind.
Hinzu kommen weitere, nicht berücksichtigte Feedbacks.
Grossflächigere Brände
Die verheerenden Brände im Südosten Australiens machten unlängst deutlich, dass die Folgen des Klimawandels bereits heute spürbar sind.
Doch die Brände sind nicht nur Folge, sondern gleichzeitig vermutlich Ursache weiterer Erwärmung. Denn sie setzen jede Menge CO2 frei: fast so viel wie Stromproduktion, Industrie und Verkehr jedes Jahr in ganz Australien.
Weltweit lässt sich zwar keine eindeutige Zunahme der Brandflächen feststellen. Das hat unter anderem damit zu tun, dass sich die Bewirtschaftung von Landflächen verändert. Statt durch traditionelle Brandrodungen werden Flächen etwa mit motorisierten Fahrzeugen freigelegt. Die wachsenden Landwirtschaftszonen sind ausserdem weniger anfällig für Brände.
Doch wenn es brennt, dann richtig. Beobachten lässt sich dies zum Beispiel in den USA. Speziell im Westen wird das Wetter immer trockener und wärmer. Das begünstigt heftige Brände und trägt dazu bei, dass immer grössere Flächen den Feuern zum Opfer fallen: Seit Mitte der 1980er-Jahre hat sich die Brandfläche, überlagert von jährlichen Schwankungen, mehr als verdreifacht.
Der voranschreitende Klimawandel bringt ausserdem einen weiteren entscheidenden Effekt mit sich: Die zunehmend trockenen Verhältnisse verhindern die Regeneration der Waldflächen. Der freigesetzte Kohlenstoff wird dann nicht durch nachwachsende Bäume wieder aus der Luft entfernt. Das erhöht über kurz oder lang die CO2-Konzentration. Und belastet das Kohlenstoffbudget.
Auf den Kohlenstoff im Wald greifen wir aber nicht nur indirekt über den Klimawandel ein, sondern auch direkt – in dem wir ihn abholzen.
Kollabierende Wälder
Fast 5 Gigatonnen CO2 pro Jahr werden momentan durch die Rodung tropischer Wälder freigesetzt. Im grössten davon, dem Amazonas, hat die Abholzung nach einer Phase, in der weniger gerodet wurde, zuletzt wieder zugenommen. 2019 verschwanden 9700 Quadratkilometer – fast ein Viertel der Fläche der Schweiz.
Setzt sich dieser Trend fort, könnte das auch die unberührten Waldflächen zerstören. Denn der Regenwald ist von einem Klima abhängig, das er zum Teil selbst erzeugt: Durch die Verdunstung an ihren Blättern befördern die Bäume Wasser aus dem Boden in die Luft. Der Dampf bildet Wolken, und diese sorgen für Regen. Rund die Hälfte des Regens generiert der Wald so selbst. Seine Bezeichnung ist also treffend.
Dieser Zyklus wird nun aber gestört. Durch den Klimawandel verschieben sich die Niederschlagsmuster ohnehin schon zu Ungunsten des Amazonas. Mehr CO2 in der Luft bewirkt, dass aus dem Blattwerk der Bäume weniger Wasser verdunstet. Wird der Wald zusätzlich abgeholzt, bilden sich noch weniger Wolken – und noch weniger Niederschlag fällt.
Auf die Dauer verkraftet das der Wald nicht: er stirbt ab. Mit der Folge, dass 150 bis 200 Gigatonnen Kohlenstoff, die darin gespeichert sind, entweichen könnten.
Schätzungen zufolge könnte diese Negativspirale bereits einsetzen, wenn ein Fünftel der Gesamtfläche des Waldes verschwunden ist. Diesem Punkt ist der Amazonas zumindest in Brasilien bereits gefährlich nahe.
Die Zeit läuft immer schneller
Um zu unserem Eingangsbild zurückzukommen: Das Klima ist keine Badewanne. Sondern ein komplexes System, das von physikalischen, chemischen und biologischen Prozessen abhängt. Greift der Mensch irgendwo ein – etwa indem er fossile Energieträger verbrennt oder Wälder abholzt –, ist nur schwer vorhersehbar, was genau passieren wird.
Einiges deutet darauf hin, dass das System anfälliger auf menschliche Einflüsse reagieren könnte als bisher angenommen. Oder, um beim Bild zu bleiben: dass das Badewasser schneller überschwappen wird.
Das ist kein Grund, die Wissenschaft nicht ernst zu nehmen. Es liegt in ihrer Natur, dass laufend neue Erkenntnisse hinzukommen, Annahmen präzisiert werden und das Verständnis ihres Forschungsgegenstandes verfeinert wird.
So ist das letzte Wort betreffend das Kohlenstoffbudget wohl noch nicht gesprochen. Nach heutigem Kenntnisstand scheint aber wahrscheinlich, dass uns fürs 1,5-Grad-Ziel noch weniger Zeit bleiben wird, als wir dachten.