Die bessere Bank
Wer sich fragt, ob Banking in der Schweiz eine Zukunft hat, sollte das Genfer Geldhaus Pictet studieren. Deren «Wölfe der Finanzwelt» waren zu gerissen, um sich durch so etwas wie eine globale Finanzkrise ausbremsen zu lassen.
Von Myret Zaki, 14.02.2020
Kennen Sie Pictet? Wahrscheinlich kaum. Zumindest nicht, wenn Sie in der Deutschschweiz leben und nur ab und zu den Wirtschaftsteil durchblättern. Den dominieren seit Jahren Skandale: Beschattung bei der Credit Suisse, die üppigen Saläre der UBS oder die krummen Managementdeals bei Raiffeisen. Aus Genf, dem zweiten grossen Schweizer Finanzstandort, wird selten berichtet.
Ein Versäumnis. Denn dort ist weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit eine Bank zur drittgrössten der Schweiz aufgestiegen: die Pictet-Gruppe. Sie verwaltet 576 Milliarden Franken. Das ist zwar weniger, als die Riesen UBS und Credit Suisse betreuen – aber 150 Milliarden Franken mehr als die viertgrösste Vermögensverwalterin der Schweiz, Julius Bär.
Pictet wächst kontinuierlich. 25 Milliarden Franken an neuen Kundengeldern kamen vergangenes Jahr hinzu. Mehr noch: Während viele Banken 2019 im grossen Stil Jobs strichen, stellte die Genfer Bank rund 370 Mitarbeitende neu ein. Sie beschäftigt heute nach eigenen Angaben gut 4500 Leute: fast anderthalbmal so viele wie 2012 und zehnmal so viele wie vor 30 Jahren.
Auch während der Finanzkrise geriet die Bank nicht in die roten Zahlen. Gleichzeitig hat sie es geschafft, viele Finanzplatz-Skandale der letzten Jahre zu umschiffen. Selbstverständlich verwaltete auch Pictet unversteuerte Vermögen aus Frankreich und Deutschland. Im Steuerstreit mit den USA ist gegen sie gar ein Verfahren hängig.
Doch sie hat es bislang geschafft, ihre Altlasten diskret zu bereinigen. Auch von Ränkespielen in der Teppichetage und plötzlichen Chef-Absetzungen wie jüngst bei der Credit Suisse hört man bei Pictet nie. Stattdessen kommt aus Genf die regelmässige Meldung: Gewinne, Wachstum, Jahr für Jahr.
Was macht diese Bank besser als andere?
1. Der Stil
Pictet ist eines der ältesten Institute der Schweiz – eine Familiendynastie in der achten Generation. Die Ursprünge der Gründerfamilie lassen sich bis 1344 in der Pfarrei des französischen Dorfes Neydens zurückverfolgen. Die Familie brachte Notare, Pfarrer, Offiziere und Professoren hervor, bevor sie 1805 ihre Bank gründete. Bis heute respektieren die Genfer das Haus Pictet, die Nummer eins am lokalen Finanzplatz. Auch kritische Beobachter zollen der Bank Respekt: für ihren Stil – und ihre geschickte Imagepflege.
Viele Jahrzehnte lang residierte die Privatbank in der Genfer Altstadt, in einem Gebäude voller Wandteppiche, Porzellantassen und Gravuren aus dem 18. Jahrhundert. 2005 verlegte sie ihren Sitz vom alten Zentrum in die Acacias, ein unglamouröses Vorstadtquartier. Statt Antiquitäten findet man hier einen modernen Designpalast aus Marmor und Glas mit Platz für 2000 Mitarbeitende. Wer hineinwill, muss durch eine Sicherheitsschranke, ähnlich wie am Zoll.
Eine Hommage an die Vergangenheit aber bleibt. In der Eingangshalle steht ein roter Pic-Pic, einer jener berühmten Oldtimer, gebaut 1914 in den Werkstätten des Ingenieurs Lucien Pictet. Das Automobil erinnert daran, dass die Familie zwischen 1905 und 1921 auch Autos baute. Weltweit existieren noch wenige Exemplare: Eine Limousine und ein Cabriolet beispielsweise stehen abwechselnd bei Pictet, drei besitzt die Fondation Gianadda in Martigny, eines steht im Luzerner Verkehrshaus und eines in der Cité de l’automobile in Mulhouse.
Nicht nur für diesen nostalgischen Charme schätzt man die Pictets in Genf. Die Familie sorgt auch mit grosszügigen Spenden und politischem Engagement dafür, dass die Stadt nicht vergisst, was sie ihr verdankt. Seit Jahrzehnten wirken Familienmitglieder in der Genfer Liberalen Partei, der heutigen FDP. Sie unterstützen Organisationen wie die Ärzte ohne Grenzen, das Rote Kreuz, das Centre Social Protestant, das Foyer Handicap, die Caritas, aber auch das Grand Théâtre de Genève, das Orchestre de la Suisse Romande oder das Musée international de la Réforme. Pictet sponsert mit 100’000 Franken auch einen der renommiertesten – und am höchsten dotierten – Fotografie-Preise.
Über viele der wohltätigen Aktivitäten ist in den Medien nichts zu erfahren; man sorgt diskret dafür, dass jeder sie kennt. Protzerei und Angeberei gelten in der protestantischen Familie als Todsünde. «Wir zeigen unser Geld nicht», sagte Ivan Pictet, ab den 1990er-Jahren eine der prägenden Figuren der Dynastie, gegenüber einem der ersten Journalisten, der überhaupt ins Bankhaus gelassen wurde. Traf man ihn als Journalistin, war er immer die Ruhe selbst – mit makellosen Manieren. Selbst wenn das, was er sagte, eigentlich eine Kampfansage war.
«Wir müssen verstehen, dass wir uns jetzt in einer faktischen Kriegssituation befinden und unseren einzigen wirklichen Konkurrenten, den Vereinigten Staaten und Grossbritannien, gegenüberstehen», sagte Ivan Pictet – Jahre bevor sich die amerikanischen Anklagen gegen Schweizer Banken wegen Beihilfe zu Steuerdelikten am Horizont abzeichneten. «Ihr Ziel scheint, den Ruf der Schweiz in der Vermögensverwaltung durch einen Angriff auf das Bankgeheimnis zu zerstören.» Nach der Finanzkrise bezeichnete Pictet die Schweizer als «Chorknaben» und erinnerte daran, dass die Briten «alle Möglichkeiten von Trusts zu nutzen wissen» und dass die «grossen amerikanischen Vermögen praktisch keine Steuern zahlen».
Als Zürcher Kollegen dasselbe sagten, lösten sie damit öffentliche Empörung über ihre Uneinsichtigkeit aus. Pictet liess man es durchgehen.
Unter anderem deshalb, weil die Bank ihren Ruf nicht schon zuvor ruiniert hatte. Während so manche Bankerkollegen in Zürich und Genf der Grössenwahn packte, bewahrte man bei Pictet die Nerven. Und überstand später nicht nur den Steuerstreit mit den USA, sondern auch die Subprime-Krise, welche die UBS fast umgebracht hätte und bei der Credit Suisse letztlich dazu führte, dass heute dort Grossaktionäre aus Saudiarabien und Katar den Takt angeben.
2. Die Zurückhaltung
Einer der grossen Trends der Nullerjahre war die Spekulation an der Börse. Konkret: der Aktienhandel im Auftrag von Grosskunden. Anders als die Deutschschweizer Grossbanken jedoch hielt sich Pictet aus dem Brokerage-Geschäft stets heraus. Sie verzichtete ab 2008 auch auf das angelsächsisch inspirierte Investmentbanking, also den Handel mit Wertpapieren und die Beratung bei Börsengängen, Fusionen und Übernahmen. Dieses volatile Geschäft ist unberechenbar und teuer, mit seinen stratosphärischen Boni und den talentierten, aber kapriziösen Händlern, die zu Stars gehypt wurden.
Zwar erreichten auch bei Pictet die individuellen Boni vor der Finanzkrise mehrere Millionen Dollar pro Jahr. Die Partner – der exklusive Zirkel von Führungspersonen, die sich in die Bank eingekauft haben – verdienen im Vergleich zu anderen Privatbanken sogar mehr Geld. Ihre jährlichen Gewinnbeteiligungen liegen im achtstelligen Bereich – die «Bilanz» spricht von 25 bis 35 Millionen Franken. Doch in ihrem Geschäftsmodell blieb Pictet stets zurückhaltend: kein übermässiges Engagement in Hedgefonds, im Gegensatz zu anderen Privatbanken wie Julius Bär (GAM), UBP und Edmond de Rothschild; keine Expansion in den Rohstoffhandel wie BNP Paribas, Hinduja Bank oder die Genfer Kantonalbank.
All diese Entscheide waren nicht so einfach, wie sie im Nachhinein scheinen. Denselben Weg wie die UBS oder die Credit Suisse zu gehen, wäre verlockend gewesen: Von 2003 bis 2007 flossen Ströme von Geld in Kreditverbriefungen, Wertpapieremissionen, den Aktien- und Anleihenhandel, strukturierte Produkte, in Absolute-Return-Fonds, alternatives Management und Unternehmensbeteiligungen. Die Bilanzen der Grossbanken explodierten damals förmlich, ihre Handelsräume in New York und Connecticut wurden zum Nervenzentrum der Finanzwelt.
Später fielen sie wieder schmerzlich in sich zusammen.
Die Zurückhaltung kam Pictet später zugute. Alle diese Geschäfte erwiesen sich als sehr risikoreich und produzierten ab 2008 Verluste. Die Subprime-Krise in den USA brockte der UBS Verluste über 50 Milliarden Dollar ein und dezimierte die Hedgefonds-Anteile von UBP und Edmond de Rothschild.
Fidelity, einer der grössten Vermögensverwalter der Welt, schloss seine Türen in Genf, und die meisten Tochtergesellschaften ausländischer Banken wurden aufgekauft. Strategische 180-Grad-Wenden wurden im Private Banking die Regel: Citigroup und Merrill Lynch, zwei Ableger amerikanischer Grossbanken, verloren in der Schweiz fast ihr ganzes Geschäft.
Glück und Belohnung für Pictet: Sie war eine der ersten Adressen, an die sich die Kunden in der Krise wandten. Dieser Zustrom von Geld hält bis heute an.
3. Der Alleingang
Trotzdem steckte Pictet in einer schwierigen Position. Sie hatte eine unglückliche mittlere Grösse: gefangen zwischen grossen Banken mit ihrem Investmentbanking und kleinen Finanzboutiquen, die ein fast intimes Vertrauensverhältnis zu ihren Kunden pflegen.
Und wieder entschied sich Pictet gegen die eigentlich naheliegende Lösung: sich mit einem anderen Institut zusammenzutun.
Sie liess sich nie aufkaufen und fusionierte nie mit einer anderen Bank, so wie es die SBG und der Bankverein getan hatten (1997) oder später Lombard Odier und Darier Hentsch taten (2002). Als Genfer Wirtschaftsjournalistin erfuhr man immer wieder von Übernahmeofferten und Angeboten an Pictet – alle blieben unerwidert. Man wollte wachsen, aber langsam und aus eigener Kraft. Nicht so wie die Zürcher Bank Julius Bär, deren Mitarbeiterzahl sich durch eine grosse Übernahme 2013 auf einen Schlag veranderthalbfachte – und wo in der Folge zahlreiche Angestellte entlassen wurden. Auch in Genf.
Kein schlechter Entscheid. Nicht nur aus strategischer Sicht, sondern auch wegen der für Pictet so wichtigen Imagepflege und Unternehmenskultur. Immer wieder tragen Mitarbeitende anderer Banken, die mit einer Fusion unzufrieden sind, Interna nach draussen – ihre Geschichten sind ein unerschöpflicher Nährboden für die Wirtschaftspresse. Pictet ist für Finanzjournalisten jedoch eine fast uneinnehmbare Festung geblieben: Nur wenige Ex-Mitarbeitende wollen sich jeweils äussern. Die Rahmenbedingungen sind relativ stabil, die interne Kultur ist stark und homogen geblieben.
Das hat durchaus auch Nachteile. Die wenigen Mitarbeitenden, die reden, berichten von einer starren Atmosphäre, mit schwer erreichbaren Partnern und einer Kultur der Geheimhaltung. Lange Zeit blieb die Kleiderordnung strenger als anderswo: Anzug und Krawatte für Männer, Kostüm für Frauen. Erst 2019 liess sich der abtretende geschäftsführende Partner Nicolas Pictet dazu hinreissen, Teilzeitarbeit und andere neuen Moden im Institut zuzulassen. Doch dieser Konservatismus hat Pictet auch zu einer der vertraulichsten Banken auf dem Markt gemacht. Sie bleibt weitgehend fern vom Medienrummel.
Stattdessen konzentrierte sie sich auf ihre Stärken: die solide Vermögensverwaltung in Genf und in Wachstumsmärkten wie Asien, wo wohlhabende Familien Sympathien für die lange Tradition bei Pictet hegen. Ausserdem baute Pictet frühzeitig ein Geschäft auf, das den wohl schwierigsten Einbruch der jüngeren Geschichte kompensieren sollte: das Ende des Bankgeheimnisses in Europa.
4. Die Neuausrichtung
2005, noch während der euphorischen Jahre, trat zwischen der Schweiz und der EU das Zinsbesteuerungsabkommen in Kraft. Die EU verlangte fortan, dass die rund 1000 Milliarden Euro in der Schweiz deponierten europäischen Vermögenswerte versteuert würden. Zunächst konnte dies vertraulich geschehen – also unter Wahrung des Bankgeheimnisses.
Auch das sollte sich bald ändern. Die USA forderten die Schweizer Banken rigoros auf, Listen amerikanischer Kunden auszuhändigen. Ab 2016 wurde dann der automatische Informationsaustausch international obligatorisch.
Das Ende des internationalen Bankgeheimnisses traf den Genfer Finanzplatz hart. Er verlor viele Offshore-Kunden, die Margen im Private Banking sanken. Zwar stand Ivan Pictet, damals Präsident des Finanzplatzes Genf, 2009 in der Nachrichtensendung «Téléjournal romand» an vorderster Front, um das Bankgeheimnis zu verteidigen. Doch privat hatten die Partner der Genfer Bank – die «alten Wölfe» der Finanzwelt – längst ihre Schlüsse gezogen.
Zwar nahm auch Pictet, wie viele andere Schweizer Banken, fliehende UBS-Kunden bei sich auf. Doch die Bank war zu gerissen, um im grossen Stil in die Falle zu tappen. Im Gegensatz zu vielen Privatbanken hat Pictet keine Geldstrafe aus dem US-Offshore-Geschäft bezahlt. Zumindest vorläufig: Die Bank sagt seit 2012, dass sie mit den US-Behörden kooperiert. Dass noch eine Busse kommt, wird mit jedem Jahr, das vergeht, unwahrscheinlicher.
Ivan Pictet prophezeite damals, das Ende des Bankgeheimnisses werde den Finanzsektor hierzulande halbieren. Das sollte sich nahezu bewahrheiten: Im Kanton Genf ist der Finanzsektor von 25 Prozent des BIP auf heute 12 Prozent gesunken, auf nationaler Ebene von 14 auf 9 Prozent. Vor der Finanzkrise hatten in der Schweiz 327 Banken eine Lizenz. Heute sind es noch 248.
Pictet hat sich der Negativspirale entzogen, indem die Bank früh neben dem Private Banking auf ein anderes Geschäft gesetzt hat: aufs Asset Management, die Verwaltung von institutionellen Geldern, zum Beispiel von Pensionskassen. Ihre frühen Investitionen in die Vermögensverwaltung in London, aber auch in Luxemburg und Singapur erwiesen sich als Gewinn. Damit konnte die Bank den Zusammenbruch des Offshore-Privatbankgeschäfts aus Europa kompensieren. Im Gegensatz zur Rivalin Julius Bär, die nur private Vermögen verwaltet, kommt inzwischen die Hälfte der verwalteten Vermögen bei Pictet von institutionellen Kunden.
Es ist dieses Geschäft mit den institutionellen Kunden, das in den vergangenen Jahren am stärksten wuchs. Und dem in der nächsten Zeit weiterhin das höchste Wachstum vorhergesagt wird.
5. Die Brüche
Selbstverständlich läuft auch bei Pictet nicht alles perfekt. Nachdem die Bank Wegelin in den USA 74 Millionen Dollar Strafe wegen Beihilfe zu Steuerdelikten zahlen musste, gab Pictet Ende 2013 ihren 200 Jahre alten Status als Kommanditgesellschaft auf. Pictet wurde zur Aktiengesellschaft. Seither ist im Fall einer zivil- oder verwaltungsrechtlichen Auseinandersetzung die AG als juristische Person erste Ansprechpartnerin. Die Partner hafteten nicht mehr mit ihrem persönlichen Vermögen – etwas, mit dem man sich zuvor stets gerühmt hatte. Für die Öffentlichkeit war es ein Schock, für die Bank ein Traditionsbruch. Es sollte nicht der einzige bleiben.
2018 nahm Pictet Boris Collardi, den damaligen CEO von Julius Bär, als einen der sieben geschäftsführenden Partner der Bank auf. Auch das überraschte, nein, schockierte viele Branchenkenner. Collardi gilt als Turbo-Banker, als Ehrgeizling, der schnelle Übernahmen liebt. Er war neun Jahre lang Solist an der Spitze einer grossen, SMI-gelisteten Gruppe, nachdem er zuvor an der Seite von Oswald Grübel in den oberen Rängen der Credit Suisse gearbeitet hatte. Ihm wird ein Hang zum Glamour nachgesagt und die Gewohnheit, ehemalige Kollegen abzuwerben und um sich zu scharen. All dies steht in krassem Gegensatz zur Kultur bei Pictet, der wohl konservativsten Bank der Schweiz. Konnte das jemals gut gehen?
Zweifel bestehen bis heute – auch innerhalb der Bank. «Boris Collardi hat nicht die DNA eines Privatbankiers», sagt eine Quelle. «Es gibt Spannungen.» Dem Zürcher Banker wird zugeschrieben, dass die Geschäftsstrategie neuerdings darauf abziele, höhere Gebühren zu verlangen, um mit bisherigen Kunden mehr Geld zu verdienen. Andererseits zögere man nicht, in Asien neue Kunden mit Dumpingpreisen anzuwerben. All dies sei nicht der Stil der Bank. Der langjährige Verantwortliche für die ultrareichen Kunden, Patrick Prinz, habe die Bank aus kulturellen Gründen verlassen, heisst es.
Doch es gibt eine andere Seite. Erstens bescheinigen interne Quellen Collardi eine besondere Hartnäckigkeit beim Bereinigen von Privatkonten, die noch nicht ausreichend dokumentiert sind. Er stelle Fragen an Manager und externe Vermögensverwalter, «die in der Vergangenheit nicht gestellt wurden» und die einige verärgerten und dazu veranlassten, sich nach weniger wählerischen Depotbanken umzuschauen.
Zweitens spricht für Collardi das Wachstum, das Pictet bei allem Konservativismus und allem Stil immer stoisch verfolgte. «Wenn eine Bank über dieses Thema nachdenkt, steht Collardis Name ganz oben auf der Liste», gibt ein Veteran der Branche zu bedenken. Auch die Kritiker von Collardi erkennen im vertraulichen Gespräch dessen Fähigkeiten an. Die Bank muss in einem schwierigen Markt überleben, ist einem verstärkten Wettbewerb zwischen den globalen Finanzzentren ausgesetzt und kommt wie alle Banken nicht darum herum, in Asien ein starkes Standbein aufzubauen.
So betrachtet, fällt die Aufnahme Collardis gar nicht so sehr aus dem Rahmen. In den 215 Jahren ihres Bestehens hat Pictet nämlich nie nur auf Tradition gesetzt, sondern immer auch auf einen Schuss Unternehmertum. Auch der erste Pictet war ein Outsider: Edouard Pictet trat 1841 in die Bank ein, die damals noch De Candolle, Turrettini & Cie hiess. Erst 1926 wurde der Firmenname zu Pictet. Seither findet man im Leitungsgremium stets beides: Vertreter der Familien und Neulinge von aussen, die nicht zum Serail der Familien Pictet, Demole oder De Saussure gehörten. Aktuell etwa Laurent Ramsey, der als Analyst einstieg und das Asset Management mit aufbaute, oder Rémy Best, ein ehemaliger McKinsey-Mann.
Rémy Best, der als diskret gilt, wurde Boris Collardi denn auch zur Seite gestellt. Für alle wichtigen Entscheide muss er sich mit ihm – und fünf anderen Teilhabern – arrangieren. Und: Es ist nach wie vor das gute alte Kriterium des Dienstalters, das Renaud de Planta vor einigen Monaten nach 22 Jahren zum Seniorpartner von Pictet befördert hat, zum Primus inter Pares unter den sieben also. Er ersetzt damit Nicolas Pictet, der in den Ruhestand geht.
Bei Pictet kann es per Definition keine Stars geben.
6. Die Zukunft
Nein, Sie müssen Pictet nicht zwingend kennen. Aber wenn Sie im Banking arbeiten oder sich zumindest fragen, ob dieses in der Schweiz überhaupt noch Zukunft hat, sollten Sie ihr Beispiel gut studieren. Ebenso, wenn Sie sich dafür interessieren, welche Mischung aus Tradition und Wagemut Unternehmen oder Institutionen allenfalls brauchen, um Jahrhunderte zu bestehen.
Nicht dass irgendjemand Pictet kopieren könnte. Der Genfer Finanzplatz ist einzigartig mit seinem Sinn für Diskretion, der sich darin zeigt, dass auf dem Klingelschild oft nur die Initialen einer Bank standen. Beziehungen, die mit französischen und italienischen Kunden, Erbinnen, Beamten, Unternehmern, Prominenten und Politikerinnen über Jahrzehnte geschmiedet wurden, kann man nicht einfach so replizieren. Speziell nicht in Zürich, wo die Bankenkultur an der Bahnhofstrasse und am Paradeplatz weitgehend «londonisiert» ist.
Doch nach der Krise des Bankgeheimnisses hat eine andere Ära begonnen. Eine, für die Pictet möglicherweise besser gerüstet ist als andere. Nicht zuletzt deshalb, weil sich die Bank früher als viele andere darauf vorbereitet hat: Bereits 1986 sprach Claude de Saussure als Partner von einem massiven Zustrom institutioneller Kunden und sah die Bedeutung dieser Tätigkeit voraus, die inzwischen zu einer der beiden tragenden Säulen geworden ist.
In den nächsten Jahren stehen noch eine ganze Reihe weiterer Herausforderungen an, die auch Pictet stark fordern werden. Die Bank wird eine Synthese finden müssen zwischen den Kulturen von Genf, Zürich, London und Singapur – vielleicht ist es gerade das, wozu Collardi einen wertvollen Beitrag leistet. Pictet wird eine Antwort auf die verschiedenen Zwänge brauchen, denen eine moderne Schweizer Bank unterliegt. Im Private Banking müssen die Margen gesichert werden; im Asset Management müssen die modernsten Produkte zu möglichst kostengünstigen Preisen angeboten werden, und eine neue Generation von Fintechs droht ganz grundsätzlich die traditionellen Domänen der Banken einzunehmen.
Doch Pictet ist offenbar optimistisch. Letzes Jahr kündigte die Bank den Bau eines 90-Meter-Turms an der Place de l’Etoile unweit des jetzigen Standorts an. 54’000 Quadratmeter noch modernere Büroflächen werden entstehen. Und sie verkündete: Wir wollen bis Ende 2020 zu 100 Prozent raus aus fossilen Anlagen. Wieder einen Schritt früher als andere.
Wetten, dass Sie in Zukunft mehr von dieser Bank hören werden?
Myret Zaki ist freie Journalistin mit Schwerpunkt Wirtschaft und Finanzen. Zuvor leitete sie unter anderem den Finanzbereich der Tageszeitung «Le Temps» und war Chefredaktorin der Zeitschrift «Bilan». Die Grundlagen der Aktienanalyse hat sie als Junior-Analystin in einer Genfer Privatbank gelernt. Für das investigative Buch «UBS am Rande des Abgrunds» erhielt sie 2008 den Schweizer Journalistenpreis. Zwischen 2010 und 2016 verfasste sie Bücher über das Ende des Bankgeheimnisses, das Ende des Dollar-Reserve-Status und den Aufstieg des Schattenbankensystems.