«‹Refugees welcome› ist für mich eine Antwort auf den Zynismus»
Die Winterthurer Nationalrätin Mattea Meyer will die taumelnde Sozialdemokratische Partei als Co-Präsidentin ins neue Jahrzehnt führen. Ein Gespräch über Solidarität in einer egoistischen Gesellschaft.
Von Daniel Ryser (Text) und Florian Kalotay (Bilder), 03.02.2020
Ausgerechnet im Jahr des Frauenstreiks folgte der historische Absturz der Schweizer Sozialdemokratie: 16,8 Prozent, so wenig wie noch nie seit hundert Jahren. Noch etwas mehr Aufregung um den Klimawandel, und die Grünen werden die SP in knapp vier Jahren als stärkste linke Kraft der Schweiz ablösen. Und die Sozialdemokraten werden nach Sinn suchen wie Gerhard Pfister für seine CVP in einem Land, wo Kirchen selbst an Heiligabend höchstens Beachtung bekommen, wenn sie brennen.
Immerhin ist jetzt klar, wer die Sozialdemokratie aus der Krise führen soll. Entweder werden es die Zürcher Nationalrätin Priska Seiler Graf und der Unterwalliser Nationalrat Mathias Reynard sein oder aber das Duo Cédric Wermuth und Mattea Meyer. Kann Fluch oder Segen sein: Die bestgewählte SP-Nationalrätin Jacqueline Badran hat ihre Vize-Kandidatur an die Bedingung geknüpft, dass im April Wermuth und Meyer gewählt werden.
Aber wer ist eigentlich Mattea Meyer? Über Cédric Wermuth, der Alexandria Ocasio-Cortez der Schweizer Linken, wurde nach Bekanntwerden der Doppelkandidatur ziemlich viel geschrieben. Etwa von Ringier-Publizist Frank A. Meyer. Der alte weisse Mann behauptete in seiner wöchentlichen Sonntagspredigt, die zweigeteilte Kandidatur sei ein rein machiavellistischer Schachzug des Aargauer Politikers, denn «ohne den Beistand einer Co-Kandidatin hätte der gewiefte Aargauer Macho wohl kaum Aussicht auf das Amt des SPS-Präsidenten».
«Was haben sich nach dem #frauenstreik all diese Herren Chefredaktoren und ‹Meinungsmacher› den Mund fusselig geredet über die Gleichberechtigung», twitterte daraufhin die ehemalige Co-Präsidentin der SP-Frauen Natascha Wey. «Konkret schaffen sie es nicht im Ansatz, eine Frau ernst zu nehmen und sich mit ihren Inhalten zu beschäftigen.»
Ich treffe die Winterthurer Nationalrätin Mattea Meyer zum Gespräch in einem Café in der Nähe des Zürcher Hauptbahnhofs. Natürlich reden wir irgendwann über die Reaktionen auf die Doppelkandidatur.
Auch solche von links: dass es Meyer doch genauso gut allein gekonnt hätte.
«Warum sagen die Leute nicht: ‹Wir anerkennen und respektieren ihren Entscheid, denn mit ziemlicher Sicherheit hat sie sich das sehr gut überlegt›?», sagt sie.
Das gelte für Rechte, die sowieso immer viel besser wüssten, was die Linke tun müsse, aber auch für Linke, sagt Meyer. «Frauenstreik hin oder her: Man nimmt die Frau nicht wirklich ernst, wenn man sie darüber belehrt, es allein doch eigentlich mindestens so gut gekonnt zu haben. Das ist ein Ausdruck davon, es doch noch ein bisschen besser zu wissen als sie. Ich kenne Cédric Wermuth seit fünfzehn Jahren. Sie können darauf vertrauen, dass ich mir diesen Schritt sehr gut überlegt habe, und mehr noch: dass wir uns beide zusammen diesen Schritt sehr gut überlegt haben.»
«‹Refugees welcome›?» – «Die Tür steht offen»
Ein halbes Jahr vor diesem Gespräch mit Meyer war ich Gast an einer privaten Wahlkampfveranstaltung der Nationalrätin, wo sie als Aktivistin und Co-Präsidentin der nationalen Plattform zu den Sans-Papiers ziemlich hart angegangen wurde. Und zwar von links: Wie sie es als Linke vertreten könne, in der gleichen Partei zu sein wie Regierungsrat Mario Fehr, das rote Tuch der Zürcher Asylbewegung.
Ich dachte, damit könnten wir doch jetzt gut in dieses Gespräch starten. Sie dachte das eher nicht. «Ich möchte nicht schon wieder öffentlich Mario Fehr kritisieren.»
Okay, dann anders: In der WOZ hatte die Nationalrätin gesagt, die SP müsse verstärkt die Anliegen von Bewegungen ins Parlament tragen – aber wie viel street credibility hat eine Partei denn überhaupt, wenn ihre bekanntesten Politiker im Dauerkonflikt mit diesen Bewegungen liegen? Wie will Mattea Meyer als mögliche Co-Präsidentin dieses Dilemma lösen?
«Ich habe mir diese Frage vor langer Zeit gestellt: Will ich Mitglied sein einer homogenen, aber dementsprechend kleinen Partei? Wo ich mit fast allem einverstanden sein kann, dafür aber die Wirkungsmacht eingeschränkt ist? Oder will ich Teil einer Volkspartei im positiven Sinne sein, die gerade in der Asylpolitik inhaltlich keine homogene Gruppe ist?»
Sie habe für sich die Entscheidung gefällt: «Das bedeutet aber auch, dass man bereit sein muss, inhaltliche Auseinandersetzungen zu führen. Ich kritisiere nach wie vor Eingrenzungen im Asylbereich. Den Umgang mit Menschen in den Bundesasylzentren. Ausschaffungen in Länder wie Afghanistan.» Jedes Parteimitglied habe seine eigene Geschichte. Sie engagiere sich seit Jahren in der Sans-Papiers-Bewegung, in der asylpolitischen Bewegung. «Wenn man sich für Freiheit und Menschenrechte einsetzt, dann gilt das für alle, und nicht nur für jene mit dem roten Pass. Das ist meine Überzeugung. Und die trage ich auch in ein Parteipräsidium hinein.»
Sie stehen als mögliche Co-Präsidentin der SP also für eine andere Sozialdemokratie als diejenige in Dänemark, die 2019 mit einer strengen Asylpolitik die Wahlen gewonnen hat, während die Rechte abgestürzt ist?
Ich finde das Beispiel Dänemark völlig verheerend.
Schweiz: noch nicht einmal 17 Prozent. Dänemark, mit linker Wirtschaftspolitik und rechter Einwanderungspolitik: 26 Prozent und Sieg auf der ganzen Linie.
Dänemark hat eine unglaublich fortschrittliche Sozialpolitik, die aber auf ethnischer Herkunft basiert. So fortschrittlich die Sozialpolitik ist, so unglaublich restriktiv ist die Asylpolitik. Wenn Menschen in Würde ein selbstbestimmtes Leben führen sollen, dann soll das für alle gleichermassen gelten.
Was bedeutet für Sie persönlich der Slogan «Refugees welcome», den man an jeder linken Demo sieht?
Für mich heisst das, dass Menschen, die aus welchen Gründen auch immer aus ihrem Herkunftsland flüchten, ihr Daheim und ihre Familie zurücklassen mussten, vom ersten Moment an Teil unserer Gesellschaft sind, wenn sie hier ankommen. Die Tür steht offen. Der Slogan ist auch eine Antwort auf die abstruse Tatsache, dass wir Waffen in Kriegsgebiete liefern. Und dass wir Menschen, die vor ebendiesen Waffen flüchten müssen, die Tür vor der Nase zuschlagen. «Refugees welcome» ist für mich eine Antwort auf den Zynismus.
Können Sie verstehen, dass die Leute hierzulande Angst haben, dass ihnen etwas weggenommen wird?
Ich kann und will nicht vertreten, dass man zwar für eine anständige Rente für unsere Rentnerinnen und Rentner kämpft, aber gleichzeitig bereit ist, Flüchtlingen ein Drittel der Sozialhilfe zu kürzen. Das Gegeneinander-Ausspielen von Menschen aufgrund ihrer sozialen Zugehörigkeit oder ihrer Passfarbe ist ein riesiges Problem. Jedesmal, wenn ich mich öffentlich für Flüchtlinge einsetze, kriege ich postwendend Mails von Leuten, die schreiben: Denk doch zuerst einmal an die Armen im eigenen Land und an die eigenen Rentnerinnen und Rentner.»
Was antworten Sie diesen Menschen?
Zwei Dinge. Erstens, dass wir uns natürlich genauso einsetzen für Armutsbetroffene in diesem Land. Und für anständige Renten. Dieses «Switzerland first» ist zum Teil auch ein Hilferuf. Ausdruck eines Gefühls, dass die Politik die Menschen im Stich lässt. Dass sie gegen die Menschen entscheidet. Dagegen, dass sie von ihrer Rente leben können. Und es stimmt ja auch. Unsere Politik sorgt nach wie vor dafür, dass die Krankenkassenprämien steigen, dass die Mieten steigen. Ein erheblicher Teil des Parlaments propagiert eine Politik für Privilegierte auf Kosten aller anderen.
Und zweitens?
Dass ich es falsch finde, Prekarisierte gegeneinander auszuspielen. Der Schweizer Sozialhilfebezüger erhält keinen Franken mehr Sozialhilfe, wenn man Asylsuchenden die Sozialhilfe kürzt.
Und Meyer fordert, wie sie sagt, «im Sinne einer solidarischen Politik» kollektive Regularisierungen für die Zehntausenden oder gar weit über hunderttausend Sans-Papiers in der Schweiz, die mit billiger und unversicherter Schwarzarbeit Wohnungen putzen, Felder bestellen, Häuser bauen, Alte pflegen und Kinder betreuen.
«So, wie das in Spanien möglich war, und so, wie das 2017 mit dem Projekt Operation Papyrus in Genf unter FDP-Regierungsrat Pierre Maudet möglich war: Auf einen Schlag konnten 1500 Papierlose, die jahrelang in Angst gelebt und gearbeitet hatten, regularisiert werden.»
Sie sagt, es sei ärgerlich, dass sich der Kanton Zürich bei diesem Thema, wo laut Statistik jeder siebzehnte Mensch in der Stadt Zürich papierlos ist, komplett querstelle. «Während FDP-Regierungsrat Pierre Maudet in Genf eine beeindruckende Rolle gespielt hat, stellt sich SP-Mann Mario Fehr in Zürich gegen die Regularisierung von Papierlosen. Das ist brutal frustrierend.»
«Aber wer soll das bezahlen?» – «Die Erben»
Mattea Meyer fordert eine Gleichstellungspolitik, die das Leben der Pflegefachfrau und der Verkäuferin an der Migros-Kasse verbessert. «Mit einem garantierten Mindestlohn. Viertausend Franken sind das absolute Minimum.» Sie sagt, dass der Steuerfreibetrag erhöht werden soll. Dass sie steuerfinanzierte Krippenplätze will. Dass Lohngleichheit und Arbeitszeitreduktion eine gerechte Verteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit erlaubt. Dass sich «die katastrophale Rentensituation vieler Frauen» verbessern müsse. Tiefere Krankenkassenprämien, tiefere Mieten. «Es geht um ökonomische Fragen, denn Frauen sind nach wie vor schwächer unterwegs als Männer», sagt Meyer. Und sie sagt, dass man Gewalt an Frauen viel breiter thematisieren und Massnahmen ergreifen müsse. «So viele Frauen werden in ihrer Integrität angegriffen und verletzt. Und dafür auch noch verantwortlich gemacht. Das ist unerträglich.»
Das alles klingt in meinen vom Neoliberalismus geschundenen Ohren wie zarte Harfenmusik. Schon kurz davor, euphorisch eine SP-Mitgliedschaft anzufordern, haucht mir im letzten Moment mein innerer Klaus Kinkel eine Frage ins Ohr: Wer bitte, liebe Mattea Meyer, soll denn das alles bezahlen?
«Nehmen wir die Krankenkassenprämien. Die Frage ist nicht: Können wir uns das leisten? Sondern wer welchen Beitrag zahlt an die Gesundheitsausgaben. Werden die Kosten jedem Einzelnen übertragen, oder zahlen wir es gesellschaftlich solidarisch durch Steuereinnahmen?»
Eine linke Steuerpolitik stelle die Frage, «was wir als Gesellschaft für lebensnotwendige Güter und Dienstleistungen allen zur Verfügung stellen wollen».
Okay, okay, okay.
Aber nochmals: Wer soll das bezahlen?
Die Frage nach der Finanzierung ist klar: mit einem Steuersystem, das von denen einen höheren Beitrag verlangt, die mehr tragen können. Das steht so in der Verfassung. Nur ist in den letzten Jahren das Gegenteil passiert: Das grosse Geld wurde steuerlich entlastet, während Einkommen und Renten stärker belastet wurden.
Weitere Ideen?
An Geld zu kommen?
Ja.
In diesem Jahr wurden in der Schweiz über 90 Milliarden Franken vererbt.
90?
Milliarden.
Wo?
In der Schweiz.
Wie viel?
90.
Milliarden?
Ja.
In einem Jahr?
«Wenn man immer von dieser Leistungsgesellschaft spricht, dann reden wir hier von Unsummen leistungsfreier Gewinne. Man müsste über eine neue Erbschaftssteuer nachdenken», sagt die Nationalrätin.
«Hatten wir doch schon einmal», sage ich.
«Ich rede nicht von kleinen Erbschaften. Aber ab einer gewissen Höhe. 10 Millionen zum Beispiel.»
Kleine Erbschaften – 10 Millionen?
Das Problem bei der Erbschaftssteuerinitiative war, dass man ab 2 Millionen einen Erbschaftssteuersatz von 20 Prozent festgelegt hat. Viele Leute dachten: Da bin ich vielleicht selbst auch noch davon betroffen mit dem Einfamilienhaus meiner Eltern.
Persönliche Betroffenheit als Motor für Politisierung – das scheint zu funktionieren. Sie aber stehen für eine andere Behauptung: Dass eine solidarische Gesellschaft möglich ist. Ist sie das?
Zuerst einmal finde ich es gar nicht schlecht, wenn man aus persönlicher Betroffenheit empört ist. Wenn jemand erfährt, dass ein Kind aus der Schulklasse seiner Tochter ausgeschafft wird, und dadurch realisiert, dass hinter den Ausschaffungszahlen Schicksale stehen, und das der Grund ist, dass die Person sich fragt, ob unsere Asylpolitik richtig ist, kann das ein erster Schritt zu einer Politisierung sein. Zu einem Bewusstsein für Probleme, die grösser sind als der Einzelfall.
Dieser Schritt, sagt Meyer, müsse geleistet werden, und hier spielten Parteien und Politikerinnen eine wichtige Rolle. «Gleichzeitig ist es natürlich auch ein Problem, dass viele Leute erst über die Angst politisiert werden: Es könnte ja mein Arbeitsplatz sein, der verloren geht! Statt dass sie die Problematik als Ganzes betrachten und erkennen, dass das System als Ganzes verkehrt ist.»
«Frauenwahl?» – «Damit ist es nicht getan»
Das System als Ganzes, das verkehrt ist: Je länger ich mit Meyer spreche, desto klarer wird mir, dass die Zukunft der SP in einem pointiert linken Kurs liegt, sofern sie gewählt wird.
Ich frage Mattea Meyer, wie es passieren konnte, dass im Juni eine halbe Million Menschen am Tag des Frauenstreiks auf die Strasse gingen, aber die SP, eine wichtige politische Kraft jenes Tages, nur vier Monate später einen historischen Absturz erlebte. Ging es am Frauenstreik in erster Linie um reine Repräsentanz und gar nicht um weiterführende politische Inhalte? War der Frauenstreik etwa nicht eine selbstverständlich linke Angelegenheit?
«Was Hunderttausende Frauen und solidarische Männer auf die Strasse getrieben hat, ist der Unmut darüber, dass es nicht vorwärtsgeht in der Gleichstellung», sagt Meyer. «Dass Frauen unbezahlte Arbeit leisten, die nicht anerkannt wird, was dazu führt, dass sie schlechte Renten haben. Oder die Debatte um sexuelle Belästigung, sexualisierte Gewalt und ja, sicher auch die Frage von Repräsentanz.» Das Problem sei dann gewesen, dass der Frauenstreik schnell in einer reinen Repräsentanzlogik diskutiert wurde: «Das zeigte sich dann auch bei den Wahlen.»
Können Sie das ausführen?
Der 20. Oktober war eine Frauenwahl, und zwar – zumindest bis auf die SVP – über alle Parteien hinweg. Das ist das grosse Verdienst des Streiks vom Juni. Nur ist es damit halt nicht getan. Und es ist auch nicht mit Quoten in den Verwaltungsräten getan, die in erster Linie sowieso schon privilegierten, gut situierten Frauen dienen. Eigentlich müsste es darum gehen, das Leben der Pflegefachfrau zu verbessern. Bei den Wahlen dann aber ging es letztlich nicht mehr in erster Linie um inhaltliche Gleichstellungspolitik, sondern eben vor allem um die Frage, ob im Parlament genügend Frauen vertreten sind. Ich will nicht sagen, dass Repräsentanz kein wichtiges Thema ist.
Aber?
Es ist zentral, dass wir mittlerweile nicht nur eine Bundesrätin haben, sondern drei. Und es ist auch wichtig, dass wir erstmals ein Parlament haben, in dem Frauen durch alle Parteien hindurch anständig vertreten sind. Repräsentanz wird zu Recht eingefordert, auch in der jetzigen Diskussion um das SP-Präsidium. Das garantiert aber nicht, dass eine Verkäuferin zu einer anständigen Rente kommt. Dafür braucht es die richtige Gleichstellungspolitik. Das Wahlergebnis als Folge des Frauenstreiks hat gezeigt: Bei der Repräsentanz ist man sich einig. Beim Rest überhaupt nicht.
«‹Du hast keine Ahnung, Mädchen›» – «Ich bin Nationalrätin»
Wir sitzen da, nach etwa eineinhalb Stunden Gespräch, und trinken koffeinfreien Latte macchiato und alkoholfreies Bier, und ich sage – ich weiss nicht, wie wir plötzlich hier gelandet sind –, das Gespräch war fast vorbei, und vermutlich war es bloss ein komplett blödsinniger Reflex, um ein bisschen Leben in die Bude zu bringen – auf jeden Fall sage ich ihr, dass sie noch gar nie richtig gearbeitet habe und drum niemandem was von Arbeit und so weiter und so fort erzählen soll.
Ich stammelte irgendwas von wegen, dass das natürlich gar nicht meine Meinung sei, läge mir absolut fern und so weiter, aber dass dies die Meinung sei von zahlreichen Männern im Parlament rechts von FDP-Nationalrätin Doris Fiala und natürlich ganz fest die Meinung von Christoph Blocher und von Roger Köppel, dem der rechtsextreme Milliardär Tito Tettamanti eine Zeitung geschenkt hat und der bei jedem beruflichen Telefonat, das wir führen, betont, dass er für höhere Parteiweihen nicht gemacht sei, weil «mein Unternehmen, mein Unternehmen, mein Unternehmen, Herr Ryser, das können Sie sich gar nicht vorstellen».
Kann ich mir tatsächlich gar nicht vorstellen.
Ich will wissen, wie die 32-jährige studierte Human- und Wirtschaftsgeografin, sieben Jahre Anwaltsassistentin in einer Wirtschaftskanzlei mit Schwerpunkt China, diese aktuell ziemlich heftig verbreitete Verunglimpfung einschätzt. Was sie darauf antwortet. Muss man als Politikerin ein Unternehmen geleitet haben, um gute Politik machen zu können? Macht Unternehmensführung bessere Menschen aus uns?
«Ich höre diesen Vorwurf von Rechten immer wieder, vor allem gegen linke Frauen: keine Arbeitserfahrung. Noch nie ein Unternehmen geleitet. Keinen Arbeitsplatz geschaffen. Als wäre jeder Unternehmer automatisch ein guter Politiker. Und es ist völlig absurd zu meinen, nur durch die Leitung eines Unternehmens könne man Führungsqualitäten entwickeln.»
«Worum es hier geht, ist eine Diskreditierungslogik», sagt Meyer dann. «Diese Logik ist sehr stark geprägt von der Vorstellung, ein Politiker – ich sage es bewusst in der männlichen Form – ist ein Stammtischpolitiker, der gleichzeitig auch noch ein kompromissbereiter Unternehmer ist und als Hobby ‹Familie› angibt. Es ist ein Bild von Politikern, das schon lange nicht mehr der Realität entspricht. Denn die Realität ist glücklicherweise vielfältiger. Deshalb ist es offensichtlich, dass es bloss um Diskreditierung geht: ‹Du hast keine Ahnung, Mädchen.› Man wirft mir und generell linken Politikerinnen und auch Politikern vor, keine Ahnung zu haben, nie gearbeitet zu haben, weit weg von der Lebensrealität der Bevölkerung zu sein.»
Was antworten Sie?
Ich bin Nationalrätin. Mein Partner führt eine kleine Firma. Wir teilen uns die Erziehungsarbeit gleichberechtigt auf. Ich bin unter der Woche viel auf dem Spielplatz. Wir führen ein Leben, das wohl viel näher an der Lebensrealität von ganz vielen Menschen in diesem Land ist als das Leben gewisser Politiker, die in fünf verschiedenen Verwaltungsräten sitzen und für ein paar wenige Sitzungen Zehntausende Franken kassieren und das dann als richtige Arbeit bezeichnen.
Würden Sie sagen, dass sich ein Vollzeitjob und die Arbeit im nationalen Parlament überhaupt verbinden lassen?
Die allerwenigsten Politiker in Bern leiten nebenher ein Unternehmen. Wir diskutieren die Rentensituation der nächsten Jahrzehnte. Die Krankenkassensituation. Wir diskutieren über das Energiegesetz. Das sind fundamentale Dinge, die uns alle betreffen. Das macht man nicht nebenbei auf die Schnelle.
SVP-Nationalrat Roger Köppel behauptet das Gegenteil. Jede Session verkündet er es irgendwo, auf seinem Youtube-Kanal oder auf Twitter: Bern, Paradies der Faulenzer und Spesenritter.
Er fehlt ja auch die Hälfte der Zeit. Er wurde gewählt, damit er abstimmt, damit er sich an Sitzungen einbringt. Nicht dafür, dass er nicht dort ist. Sein Verhalten ist absolut respektlos. Aber all das, diese Vorwürfe, wir Parlamentarierinnen hätten nie richtig gearbeitet oder dass man diese Arbeit in der Hälfte der Zeit erledigen könnte, das passiert ja nicht einfach so in einem luftleeren Raum. Diese Angriffe sind kein Zufall. Es hat System, dass Leute aus der SVP, und gerade Leute wie Köppel, die Politik schlechtreden: Es geht bewusst um die Diskreditierung unserer Demokratie, um die Geringschätzung der demokratischen Strukturen, wo wir aushandeln, wie wir zusammenleben wollen.
Hinweis: In einer ersten Version haben wir geschrieben, dass gemäss Statistik jeder siebzehnte Mensch im Kanton Zürich papierlos ist. Das stimmt so nicht. Mattea Meyer hat sich in ihrer Aussage auf die Stadt Zürich bezogen. Wir haben diese Stelle berichtigt.