«Es gibt keine Ausreden»
Mohammed al-Mounir, Gründer einer Kampfsportschule.
Von Amir Ali, Monika Bolliger (Text) und Salih Basheer (Bilder), 06.12.2019
Die Abenddämmerung legt sich über das Industriegebiet in der Nähe des Flughafens von Khartum. Mohammed al-Mounir hat gerade sein Training beendet und sich ein trockenes T-Shirt übergezogen. Jetzt sitzt er barfuss auf dem Bürostuhl vor dem riesigen Ventilator in der Wand und erzählt die Geschichte, die ihn und seine Kampfsportschule diesen Sommer berühmt gemacht hat.
«Nach dem Massaker des Sit-ins hatte ich das Gefühl, dass wir alle mal eine Pause vom Demonstrieren und von der Politik brauchten. Also meldete ich einige meiner Schüler zu einem Turnier in Nairobi an. Mit dem Geld, das wir zur Verfügung hatten, hätten ich und eine weitere Person hinfliegen können – das war mir zu wenig. Also rechnete ich ein paar Varianten durch, und schliesslich mieteten wir einen Kleintransporter. So konnten wir die Reise nach Kenia zu zehnt antreten.» Für die knapp 3000 Kilometer habe Google Maps zwei bis drei Tage berechnet.
Doch es kam anders: «Wir verfuhren uns in den Bergen Äthiopiens, und der Bus ging unterwegs kaputt. Nach fast einer Woche on the road kamen wir am Morgen des 11. August um 6 Uhr in Nairobi an. Alle waren müde, hungrig und erschöpft, und fünf Stunden später, um 11 Uhr, begann der erste Kampf. Aber wir waren da. Wir hatten getan, was wir tun mussten.»
Mounirs Truppe kehrte mit neun Medaillen aus Kenia zurück: viermal Gold, einmal Silber und viermal Bronze. Und die Geschichte passt gut zu Mounirs Lebensphilosophie: «Es gibt keine Ausreden. Jeder bewirkt etwas mit dem, was er tut. Es wird nichts von oben kommen.»
Durch die Maschen des Systems
Mounir, 32 Jahre alt, spricht ein nuschelndes Englisch, das einen mitnimmt in die USA, wo seine Mutter herkommt und er selbst zehn Jahre lebte. Den ersten Teil seines Lebens verbrachte er im Sudan, im Land seines Vaters. Er wuchs in Soba auf, einem Randbezirk von Khartum, wo das Leben schon sehr ländlich und von Landwirtschaft geprägt ist. Sein Vater hatte sich dort eine Farm gekauft. Als er mit 17 seiner Mutter in die USA folgte, konnte er kaum Englisch.
«Ich wurde zu Hause unterrichtet und hatte nicht mal das durchschnittliche sudanesische Bildungsniveau. Nach einer Woche in den USA hatte ich mir einen Job im Dollar Store organisiert, daneben besuchte ich an einer Abendschule einen Englischkurs. Das Gute am Sudan ist, dass du hier von Anfang an lernst zu arbeiten.»
Er rutschte durch die Maschen des Systems, weil er wie aus dem Nichts in die USA kam, in einem Alter, in dem die jungen Leute dort mitten in der Ausbildung sind. Sein Schlupfloch, sagt er, waren Kurse für schwierige Jugendliche, solche, die gerade aus dem Jugendstrafvollzug entlassen worden waren. Dort lernte er schreinern, arbeitete auf dem Bau. Dann bildete er sich zum Krankenpfleger weiter, ohne den Beruf aber je auszuüben. «In jener Zeit entdeckte ich den Kampfsport wieder. Ich hatte bereits mit 15 hier in Khartum mit Taekwondo angefangen. Mach etwas, was du liebst, sagte ich mir. Darum geht es im Leben. Wenn du das nicht tust, wirst du dein Leben irgendwann hassen. Und ich wollte kein Krankenpfleger sein.»
Diese Serie entstand aus drei Recherchereisen, zu denen die Republik-Reporter Amir Ali und Monika Bolliger Ende August aufbrachen. Sie reisten vom Libanon nach Ägypten, in den Sudan und in den Irak und sind der Frage nachgegangen: Was haben die Menschen in der arabischen Welt heute für Perspektiven, bald neun Jahre nach dem Arabischen Frühling? Zur Übersicht mit allen Episoden.
Mounir ging morgens zum Community College, wo er African American Studies belegte. Nachmittags trainierte er, abends und in der Nacht fuhr er für Fedex. Nach zehn Jahren in den USA, mit 27, hatte er genug von den Staaten. Obwohl er sein Studium noch nicht abgeschlossen hatte, kehrte er zurück in den Sudan.
«Ich will nach meinen eigenen Regeln leben», weicht er der Frage aus, warum genau er den USA den Rücken kehrte. Um dann nachzuschieben: «Ich konnte es nicht länger mit meinem Gewissen vereinbaren, in den USA Steuern zu zahlen und damit das System und die Armee zu unterstützen. Das hart erarbeitete Geld der Mittelklasse finanziert die Kriege, die die USA in der ganzen Welt führen.»
Kampfsport-Business auf Hochtouren
Zurück in Khartum fing er mit ein paar Sportkollegen an, in einem Park auf der Wiese zu trainieren. «Ich hatte ursprünglich nicht die Absicht, mich hier niederzulassen. Aber als ich sah, dass die Leute sehr interessiert waren am Training, beschloss ich zu bleiben. Wir bekamen diesen Raum hier, und mein Vater half mir, ihn in Ordnung zu bringen und auszurüsten. Die Dinger hier», sagt er und zeigt auf die Matten, die den ganzen Boden des Trainingsraumes bedecken, «die sind sauteuer. Am Anfang konnten wir uns nur vier Stück leisten.»
Nach und nach entwickelte sich daraus eine Kampfsportschule, mittlerweile ist es ein Business, das auf Hochtouren läuft. An sechs Tagen die Woche werden hier vier bis fünf Klassen unterrichtet, sechs bezahlte Instruktoren arbeiten bei Mounir.
«Ich hatte das Glück, dass ich vier Jahre an einer Taekwondo-Akademie in DC trainieren konnte. Dort durchlief ich die ganze Ausbildung, und jetzt mache ich es hier genauso. Die Schüler übernehmen Aufgaben, machen den Social-Media-Auftritt, arbeiten am Empfang oder als Assistenzcoaches. Wir bieten das erste Selbstverteidigungsprogramm für Frauen im Sudan an. Wir organisieren Kämpfe und Turniere. Und jeder kann dabei Verantwortung übernehmen. Ein grosses Problem hier im Sudan ist der Umgang mit Fehlern. Wer etwas falsch macht, bekommt aufs Dach. So lernt man doch nichts. Ich versuche dieses Negative wegzubringen. Ein anderes Problem: Sport hat einen sehr tiefen Stellenwert, alle reden nur vom Studieren und von Bildung. Wenn du nicht Arzt wirst, bist du gescheitert. Sport gilt nicht als ein Bereich, in dem man erfolgreich werden kann. Das will ich ändern.»
An der Wand des Trainingsraumes hängt ein Plakat des Radiosenders Capital FM, 91.6, bei dem Mounir eine eigene Show hat. Er beantwortet dort auch Fragen von Hörern, etwa: Wie kann ich trainieren, wenn ich keine Zeit habe? Wie soll ich trainieren, wenn ich mich nicht dem Verkehrschaos von Khartum aussetzen will? Er gibt dann Tipps, wie man zu Hause trainieren und seine Zeit besser einteilen kann. Auch hier gilt: «Es gibt keine Ausreden.»
Als das Sit-in vor dem Hauptquartier der Armee begann, sagten seine Schüler, sie könnten nicht trainieren, weil sie an den Protesten teilnehmen wollten. «Keine Ausreden», sagte Mounir, und schleppte ein paar Trainingsmatten zum Sit-in. Fortan wurde dort trainiert. Nach dem Massaker vom 3. Juni, bei dem mindestens 128 Menschen getötet worden waren, fiel ihm auf, dass viele seiner Jungs plötzlich jeden Tag im Gym aufkreuzten. «Wir haben nie über das gesprochen, was in jener Nacht passierte. Aber jeder hat ein Familienmitglied oder einen Freund verloren.»
Mounir selbst hatte seine Rolle in der Revolution rasch gefunden. Während seiner Zeit in den USA engagierte er sich zum Darfur-Konflikt. «Da begriff ich, wie wichtig die Dokumentation ist. Damals, 2010, hatte niemand eine Ahnung, was in Darfur passiert.» Deshalb fuhr er während der Revolution mit einem Motorrad durch die Nächte, hinten drauf ein Aktivist, der die Demos und das Vorgehen der Sicherheitskräfte filmte. «Ich mache gerne so Adrenalin-Sachen», sagt Mounir, «Motorradfahren zum Beispiel. Also war das ganz natürlich für mich.» Bis sich die Generäle auf die Machtteilung eingelassen hatten. «Die Leute sahen an einem bestimmten Punkt ein, dass es kein Zurück mehr gab. Dass wir weitermachen müssen und nicht zurück zu dem können, was früher war.»
Da, wo er herkam, wenige Kilometer vom Sit-in entfernt, sahen das manche anders. «Für die einfachen Leute waren die Proteste schädlich. Die Teefrauen, die Arbeiter, die Gemüseverkäufer, die Taxifahrer, sie verdienten weniger Geld deswegen. Und viele wussten zwar, dass es Proteste gab, aber wogegen oder wofür – da hatten sie keine Ahnung.»
Als es nach dem Massaker Aufrufe gab, wieder auf die Strasse zu gehen, fand Mounir: «Das ist Selbstmord.» Stattdessen ging er in sein Quartier und sprach mit den Leuten über das, was sich ereignete. «Viele von ihnen sind Kriegsflüchtlinge. Hier im Viertel haben sie ein einfaches, aber sicheres Leben. Sie können ihre Familien ernähren. Da denkt man doch nicht über das grosse Ganze nach. Würde bedeutet für mich, dass du deine Probleme selbst lösen kannst. Die Leute am Sit-in wollten, dass die USA uns retten und das Land übernehmen. Das hat doch nichts mit Selbstachtung zu tun. Natürlich müssen wir international zusammenarbeiten, aber brauchen wir die Bestätigung des Westens, um uns gut zu fühlen?»
Die Arabistin Monika Bolliger arbeitet als Analystin und Forscherin in Beirut und Zürich. Zuvor war sie als Nahostkorrespondentin der NZZ in Jerusalem, Kairo und Beirut tätig. Amir Ali, der ebenfalls fliessend Arabisch spricht, war fünf Jahre Co-Leiter des Strassenmagazins «Surprise». Seit diesem Sommer ist er als freier Journalist tätig, der Schwerpunkt seines Interesses gilt den Ländern im Nahen Osten.
Salih Basheer ist ein sudanesischer Fotograf und Geschichtenerzähler mit Fokus auf sozialen Themen. Seine Arbeit entwickelte sich mehr und mehr Richtung Langzeitdokumentation. Salih berichtete über die Revolutionen im Sudan und die Proteste in Khartum. Er lebt seit 2013 in Kairo.