«Ganz bestimmt will ich fürs Parlament kandidieren»
Awadiya Koko, Teefrau und Aktivistin.
Von Amir Ali, Monika Bolliger (Text) und Salih Basheer (Bilder), 06.12.2019
«Hierher, hierher!», winkt Awadiya Koko dem Van zu, der angefahren kommt. Ein kurzer Wortwechsel mit dem Fahrer, Koko verhandelt den Preis, dann signalisiert sie uns einzusteigen. Die füllige Mittfünfzigerin rafft ihr lila, weiss und grau gestreiftes Gewand zusammen und hievt sich in den Minibus. Sie hat gerade ein Radiointerview beendet, und wir begleiten die ehemalige Teefrau, die es bis zu einem Treffen mit dem früheren US-Präsidenten Barack Obama geschafft hat, zum Sitz ihrer gemeinnützigen Organisation. Awadiya und ihre Begleiterin stecken uns unterwegs Maiskolben zum Knabbern zu.
Diese Serie entstand aus drei Recherchereisen, zu denen die Republik-Reporter Amir Ali und Monika Bolliger Ende August aufbrachen. Sie reisten vom Libanon nach Ägypten, in den Sudan und in den Irak und sind der Frage nachgegangen: Was haben die Menschen in der arabischen Welt heute für Perspektiven, bald neun Jahre nach dem Arabischen Frühling? Zur Übersicht mit allen Episoden.
Nach einer halbstündigen Fahrt durch die holprigen Strassen Khartums führt uns Awadiya zum Souk Shaabi, übersetzt etwa Volksmarkt, wo sie früher einen jener Teestände betrieb, die man in Khartum an jeder Ecke sieht.
Die Teefrauen richten sich mit ihren Holzkohleöfen und ein paar Plastikhockern meist unter einem Baum oder an einem anderen schattigen Ort ein, wo die Hitze erträglicher ist. Sie sind ein beliebter Treffpunkt. Bei den Teefrauen gibt es für wenig Geld aromatischen sudanesischen Kaffee und Tee, je nach Geschmack gewürzt mit Kardamom, Zimt oder Ingwer. Sie sind aus dem Stadtbild nicht wegzudenken. Ihre Geschichten sind Geschichten von Elend und Resilienz. Die meisten sind Flüchtlinge der blutigen Konflikte in den südlichen Gebieten Sudans – Darfur, Blue Nile, Südkordofan. Die Armut zwang sie, auf der Strasse zu arbeiten, obwohl sie damit in der konservativen sudanesischen Gesellschaft stigmatisiert werden und ihnen sexuelle Belästigung droht.
«Wir arbeiten, damit wir unseren Kindern eine Ausbildung ermöglichen können», sagt Awadiya, die 20 Jahre lang in Khartum Tee verkaufte. Sie selber wurde im Nuba-Gebirge in Südkordofan geboren und floh von dort als Kind mit ihrer Familie nach Khartum. Wir folgen ihr durch einen Markt, in dem gebrauchte Autoteile verkauft werden. Ab und zu tuckert eine Rikscha über die staubige, ungeteerte Strasse. Im Schatten eines aufgespannten Tuches sitzt eine Teefrau; hinter ihr, über dem Eingang zu einem einfachen Betongebäude, steht auf einem Schild «Sudanesische Gemeinschaft für Entwicklung». Eine Gruppe Frauen, alle in bunten Gewändern, begrüsst Awadiya.
Vom Gefängnis bis ins Weisse Haus
Awadiya hat 1990 die erste Kooperative für Teefrauen und Essensverkäuferinnen gegründet, weil es keine Gewerkschaft gab, welche die Teefrauen verteidigte. Diese litten darunter, dass die Polizei sie belästigte oder ihre Ausrüstung konfiszierte. «Viele glaubten nicht daran, dass wir etwas tun können. Aber ich sagte, lasst uns geduldig sein, damit Gott uns hilft. Ich liess nicht locker, trommelte Frauen zusammen.» Die Kooperative begann gegen eine kleine Mitgliedergebühr die Frauen zu unterstützen, führte mit Nichtregierungsorganisationen Kurse zu rechtlichen Fragen durch für den Fall, dass ihr Equipment von der Polizei konfisziert wird. Die Nachfrage war gross, bald eröffneten die Frauen weitere Kooperativen, ihre Mitgliederzahl stieg auf mehrere tausend.
2016 gelangte Awadiyas Erfolgsgeschichte bis ins Weisse Haus, wo sie zusammen mit 13 anderen Frauen den International Women of Courage Award erhielt.
Der Weg dahin war steinig in vieler Hinsicht. Von 2007 bis 2011 sass Awadiya im Gefängnis wegen einer gescheiterten Investition. Im Sudan können Schuldner so lange in Haft gehalten werden, bis sie das Geld zurückbezahlt haben. Deswegen musste Awadiya ihr Haus verkaufen. Aber davon liess sie sich nicht aufhalten. Zwei Jahre später wurde sie zur Präsidentin der Gemeinschaft für Entwicklung gewählt, in deren Sitz wir uns jetzt bei einem Tee unterhalten.
Die Gemeinschaft für Entwicklung ist eine Dachorganisation für 26 Kooperativen mit 27’000 Mitgliedern, so Awadiya. Es sind nicht nur Teefrauen: Manche produzieren Stickereien oder handeln mit Kleidern, manche verkaufen Gebäck oder auch gebrauchte Autoteile, und so weiter. Wenn eine ein Kind habe, das ins Spital müsse, werde sie von den anderen unterstützt. «Wir alle machen das für unsere Kinder. Wir alle haben Kinder mit Abschlüssen. Einer meiner Söhne ist Ingenieur», sagt Awadiya.
«Dann gehen wir wieder auf die Strasse»
Als die Proteste Ende des vergangenen Jahres begannen, zögerte Awadiya nicht. Sie baute eine Küche im Protestlager auf. «Wir machten Essen und Tee und Kaffee im Sit-in für alle, damit sie Kraft hatten zum Protestieren.» Sudanesen im Ausland hätten über ein lokales Komitee die Einkäufe für ihre Küche finanziert. «Es gibt keine Demonstration, bei der wir nicht mitmachten. Ich schlief während 20 Tagen im Sit-in», sagt sie.
Die Räumung des Protestlagers, das Massaker vom 3. Juni, habe sie nicht erlebt. Sie sei Stunden vorher spät in der Nacht nach Hause gegangen. «Ich musste weinen, weil ich nicht mit ihnen war. Sie waren alle meine Kinder! Meine Frauen haben es überlebt, aber es gab zwei Jungs, die starben. Und es gibt Verschwundene. Eine Teefrau aus Omdurman haben wir bis heute nicht gefunden.»
Inzwischen hat Awadiya den Chef der Übergangsregierung Abdalla Hamdok getroffen. Es war ihr erstes Treffen mit einem Regierungsvertreter; als sie 2016 den Women of Courage Award erhielt, wurde sie von der Landesführung ignoriert. Sie glaubt, dass das daran liegt, dass sie aus dem südlichen Teil des Sudan stammt. Damit spielt Koko auf den Rassismus innerhalb der sudanesischen Gesellschaft an. Und auf die Marginalisierung des Südens, vor dessen Konflikten man in Khartum gerne die Augen verschloss. Bis es bei den Protesten erstmals zu einer Solidarisierung kam: Als die Regierung behauptete, die Demonstranten seien in Wahrheit Unruhestifter aus Darfur, konterten die Revolutionäre mit dem Slogan «Wir alle sind Darfur!».
Die Liste der Prioritäten, die Awadiya für das Land nennt, ist so lang wie grundlegend: Bildung, medizinische Versorgung, öffentlicher Transport, Stromversorgung, Arbeitsplätze, Gleichberechtigung, Gerechtigkeit, Demokratie. «Und die Kriege müssen aufhören. Es gab Massaker. Viele Leute sind gestorben im Süden und im Osten. Wir brauchen Frieden.»
Sie habe grosse Hoffnungen in den Übergangspremier Hamdok, sagt Awadiya. Und sie hat grosse Hoffnungen in die Strasse. Die Protestbewegung habe dazu geführt, dass die Leute sich ihrer Rechte bewusst seien. «Wann immer uns etwas nicht gefällt, dann gehen wir wieder auf der Strasse. All die Frauen, die bis zur Erschöpfung arbeiteten, sie kennen jetzt ihre Rechte. Wir wollen in der Landwirtschaft arbeiten, in den Fabriken, wir wollen zur Armee, zur Polizei. Wir Teefrauen wollen in allen Bereichen arbeiten, und wir wollen ins Parlament.» Will sie kandidieren? «Ganz bestimmt, und ich glaube, dass ich gewählt würde», lächelt sie. «Ich habe viele Leute hinter mir.»
Die Arabistin Monika Bolliger arbeitet als Analystin und Forscherin in Beirut und Zürich. Zuvor war sie als Nahostkorrespondentin der NZZ in Jerusalem, Kairo und Beirut tätig. Amir Ali, der ebenfalls fliessend Arabisch spricht, war fünf Jahre Co-Leiter des Strassenmagazins «Surprise». Seit diesem Sommer ist er als freier Journalist tätig, der Schwerpunkt seines Interesses gilt den Ländern im Nahen Osten.
Salih Basheer ist ein sudanesischer Fotograf und Geschichtenerzähler mit Fokus auf sozialen Themen. Seine Arbeit entwickelte sich mehr und mehr Richtung Langzeitdokumentation. Salih berichtete über die Revolutionen im Sudan und die Proteste in Khartum. Er lebt seit 2013 in Kairo.