Rückschlag für die Grünen, ein politisches Beben im Tessin – und ein Besuch bei Putin
Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (78).
Von Philipp Albrecht, Dennis Bühler, Bettina Hamilton-Irvine und Carlos Hanimann, 21.11.2019
Marionna Schlatter fehlten am Sonntag in Zürich fast 70’000, Regula Rytz in Bern rund 13’000 Stimmen für den Einzug in den Ständerat. Bedeuten die Niederlagen in den beiden bevölkerungsreichsten Kantonen der Schweiz, dass die grüne Welle bereits wieder abgeebbt ist? Sollte die Partei auf eine Bundesratskandidatur verzichten?
Nein.
Es wäre eine Sensation gewesen, hätte Schlatter den Bisherigen Ruedi Noser überflügelt, zumal der Freisinnige vor dem zweiten Wahlgang mit 185’000 Franken siebenmal mehr in Werbung investiert hatte. Und noch vor einem Monat wäre es ähnlich sensationell interpretiert worden, hätte Rytz sich gegen ihre Konkurrenten Hans Stöckli (SP) und Werner Salzmann (SVP) durchgesetzt.
Die beiden Rückschläge vom Sonntag ändern nichts daran, dass die Grüne Partei strahlende Siegerin der Parlamentswahlen ist. Und dass der Einzug in die Landesregierung nicht nur inhaltlich, sondern auch arithmetisch gerechtfertigt ist.
Vor den Wahlen hatte man den Grünen im Ständerat keine Zugewinne zugetraut. Nun kommen sie auf mindestens 4 Sitze, 3 mehr als bisher: In Glarus besiegte Mathias Zopfi den amtierenden SVP-Vertreter, in der Waadt und in Neuenburg holten die Grünen je einen Sitz auf Kosten der SP. Und zum Abschluss der zweiten Wahlgänge könnte ihnen am kommenden Sonntag Maya Graf folgen, die im Baselbiet als Favoritin gilt.
Ihre Nationalratsdelegation haben die Grünen vor einem Monat von 11 auf 28 Vertreterinnen ausgebaut. Rechnet man die beiden Linksaussen aus der Romandie hinzu, die sich für die kommende Legislatur ihrer Fraktion angeschlossen haben, kommen die Grünen gar auf 30 Sitze. Kurzum: Betrachtet man die grosse und die kleine Kammer gemeinsam, haben die Grünen neu dreimal so viele Sitze wie bisher.
Morgen Freitag entscheiden die Grünen, ob sie bei den Bundesratswahlen am 11. Dezember mit einer eigenen Kandidatin antreten. Klar ist: Die Chance, dass sie tatsächlich einen Bundesratssitz ergattern, sind gering. Doch eine Kandidatur kann auch den Boden bereiten für einen möglicherweise erfolgreichen Versuch in vier Jahren oder bei einer Vakanz im Laufe der Legislatur.
Etwas Positives hat der jüngste Rückschlag für die Grünen: Mit Regula Rytz könnte die Parteipräsidentin, die sich für den Fall ihrer Wahl in den Ständerat vorsorglich aus dem Rennen genommen hatte, nun doch für den Bundesrat kandidieren.
Und damit zum Briefing aus Bern.
Tessiner Erdbeben: Lombardi und die FDP abgewählt
Worum es geht: Marco Chiesa (SVP) und Marina Carobbio (SP) vertreten den Kanton Tessin in den nächsten vier Jahren in der kleinen Kammer. Filippo Lombardi (CVP) verpasste die Wiederwahl am vergangenen Sonntag um 45 Stimmen, während Giovanni Merlini (FDP) den Sitz seines abtretenden Parteikollegen Fabio Abate nicht halten konnte. Der Ausgang des zweiten Wahlgangs ist gleich in dreifacher Hinsicht historisch:
Erstmals überhaupt vertritt eine Frau das Tessin im Ständerat.
Nach 126 (!) Jahren verliert die FDP ihren Sitz.
Wegen der Abwahl Lombardis braucht die CVP einen neuen Fraktionschef.
Warum das wichtig ist: Überraschend ist vor allem die Abwahl von CVP-Fraktionschef Lombardi, der die Bundespolitik während zweier Jahrzehnte geprägt hat. Noch ist offen, wer das Amt übernimmt, das durch die Einverleibung der 3 EVP- und der 3 BDP-Nationalräte jüngst noch interessanter geworden ist. Die neue Mittefraktion dürfte die Schweizer Politik in den nächsten vier Jahren prägen. Zum einen, weil sie hinter der SVP und der SP wohl die drittstärkste Fraktion wird. Zum anderen, weil die CVP dank der verstärkten Polarisierung im Nationalrat oft Zünglein an der Waage sein kann. Die SP wiederum büsst dank Carobbios Überraschungscoup nur 3 ihrer bisher 12 Ständeratssitze ein und nicht wie zuletzt erwartet 4. Dennoch ist die Partei, die nun keine Kandidaten mehr im Rennen hat, die grösste Verliererin der diesjährigen Ständeratswahlen. Die FDP kann ihre 13 Sitze im Stöckli nur halten, wenn neben dem Aargauer Topfavoriten Thierry Burkart auch Daniela Schneeberger die Wahl schafft – ihr könnte im Baselbiet aber die Grüne Maya Graf vor der Sonne stehen.
Wie es weitergeht: 241 der 246 Parlamentssitze sind vergeben. Anders als im Tessin kam es am Sonntag in Solothurn, St. Gallen und Zug genauso wenig zu Überraschungen wie in Bern und in Zürich: Gewählt wurden in Solothurn Roberto Zanetti (SP), in Zug Matthias Michel (FDP), in St. Gallen Benedikt Würth (CVP) und Paul Rechsteiner (SP). In drei Tagen werden die Parlamentswahlen mit den zweiten Urnengängen in den Kantonen Aargau und Schwyz (je 2 Sitze) sowie Basel-Landschaft (1 Sitz) endgültig abgeschlossen. Am 2. Dezember beginnt die neue Legislatur.
Referendum: Piraten kämpfen gegen «Urheber-Unrecht»
Worum es geht: Ein Komitee rund um die Piratenpartei ergreift das Referendum gegen das neue Urheberrecht. Von diesem würden einzig die grossen Konzerne profitieren.
Warum das wichtig ist: Nachdem zuvor fast zehn Jahre lang darüber debattiert worden war, hat das Parlament die Revision des Urheberrechts Ende September beschlossen. Der Bundesrat will damit Internetpiraterie bekämpfen und Kulturschaffende besserstellen, indem die Schutzfrist der Werke von 50 auf 70 Jahre verlängert wird. Wenig Gefallen daran findet Jorgo Ananiadis, Co-Präsident der Piratenpartei, der das neue Gesetz als «Urheber-Unrecht» bezeichnet und sagt, Bürger, Konsumenten und Kreative blieben auf der Strecke. Die einzigen Gewinner seien die Medienkonzerne und Rechteverwerter, die weiterhin einen Grossteil des Geldes erhielten. Zudem seien Klagewellen zu erwarten, weil schon das Teilen von Fotos in einer Whatsapp-Gruppe illegal sein könne. Schliesslich habe die öffentliche Hand im Zusammenhang mit Abgaben für Schulen und Bibliotheken mit massiven Kosten zu rechnen.
Wie es weitergeht: Das Komitee hat bis Mitte Januar 2020 Zeit, um 50’000 Unterschriften zu sammeln. Unterstützt wird das Referendum auch von den Jungen Grünen.
AHV: Gewerkschaften wollen eine 13. Rente für alle
Worum es geht: Der Gewerkschaftsbund will eine 13. AHV-Rente einführen. Die Delegierten haben am letzten Freitag in Bern beschlossen, eine entsprechende Volksinitiative zu lancieren.
Warum das wichtig ist: Weil sich die globale Wirtschaft langsamer als erwartet erholt, bleiben die Zinsen historisch tief. Darunter leidet die berufliche Vorsorge besonders stark: Die Pensionskassen zahlen immer tiefere Renten aus. Darum wollen die Gewerkschaften Menschen mit tiefen Einkommen und Bezüger von Ergänzungsleistungen mit einer zusätzlichen AHV-Rente stützen – vergleichbar mit einem 13. Monatslohn. Es gehe jetzt um die Existenzsicherung, sagte Pierre-Yves Maillard, Präsident des Gewerkschaftsbunds, in der SRF-«Tagesschau»: «Wir müssen die erste Säule stärken, um die Existenzsicherung zu gewährleisten, wie es die Verfassung vorschreibt.» Eine zusätzliche Monatsrente wäre faktisch eine Rentenerhöhung von 8,33 Prozent. Rund 300 Franken zusätzlich pro Monat sollten für Rentner drinliegen. Finanziert werden soll das durch die Gewinne, welche die Schweizerische Nationalbank mit ihrer Tiefzinspolitik erzielt.
Wie es weitergeht: Bevor der Gewerkschaftsbund eine Unterschriftensammlung beschliesst, will er es über den parlamentarischen Weg versuchen. Scheitert er, müssen 100’000 Unterschriften gesammelt und eine Volksabstimmung gewonnen werden. Schwierig wird es ohnehin, sind doch in der Vergangenheit ähnliche Versuche gescheitert, die erste Säule zu stärken.
Ueli Maurer: Ein Herz für autoritäre Herrscher
Worum es geht: Bundespräsident Ueli Maurer ist gestern nach Moskau abgereist und trifft heute Donnerstag den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Am Freitag wird Maurer zudem für einen Arbeitsbesuch in Kasachstan sein, wo er von Präsident Kassym-Schomart Tokajew empfangen wird. Beide Treffen werden von Nebengeräuschen begleitet.
Warum das wichtig ist: Nachdem Ueli Maurer Ende Oktober mit einer Finanzdelegation nach Saudiarabien gereist war und dafür einige Kritik erfahren hatte, demonstriert er mit den Reisen zu Wladimir Putin und Kassym-Schomart Tokajew einmal mehr, dass er ein Herz für autoritäre Herrscher hat: In diesem Jahr besuchte Maurer schon den US-Präsidenten Donald Trump sowie den chinesischen Präsidenten Xi Jinping. Russland ist wirtschaftlich für die Schweiz nicht bedeutender als etwa Österreich, der Besuch dürfte aber symbolisch einige Bedeutung haben.
Wie es weitergeht: Nach dem Staatsbesuch in Moskau wird Ueli Maurer nach Almaty in Kasachstan weiterreisen. Dort dürfte er sich mit ein paar unangenehmen Fragen konfrontiert sehen. Denn vor wenigen Tagen stellte die Genfer Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen wegen Geldwäscherei gegen Wiktor Chrapunow ein, den beim kasachischen Regime in Ungnade gefallenen ehemaligen Bürgermeister von Almaty. Chrapunow war in die Schweiz geflohen, in Kasachstan warf man ihm Korruption und Geldwäscherei vor. Als Folge dieses Rechtsstreits flog die sogenannte Kasachstan-Affäre auf.
Verzögerung: Das CO2-Gesetz muss warten
Worum es geht: Das neue CO2-Gesetz wird nun doch nicht mehr in der Wintersession vom Nationalrat behandelt, sondern erst im Frühling.
Warum das wichtig ist: Weil das aktuelle CO2-Gesetz Ende 2020 ausläuft, drängt die Zeit. In der Herbstsession hat der Ständerat – nachdem das Parlament zuvor viel Zeit vergeudet hatte – die aktuelle Version der Vorlage verabschiedet. Jetzt gibt es jedoch bereits wieder Verzögerungen: Offensichtlich schätzt das Büro des Nationalrats die Zeit für einen geordneten Ablauf des Geschäfts als zu kurz ein. Das rot-grüne Lager zeigt sich gemäss «Tages-Anzeiger» enttäuscht, während bürgerliche Parlamentarier die Grünen als «feige» kritisieren, weil sie die ständerätliche Vorlage möglichst unverändert weitergeben wollen – obwohl sie laut Experten nicht genügend Massnahmen enthält, um den CO2-Ausstoss bis 2030 zu halbieren.
Wie es weitergeht: Am Montag beugt sich nochmals die Umweltkommission des Nationalrats über die Vorlage. Weil ein Referendum absehbar ist, wird das Stimmvolk das letzte Wort haben – wohl frühestens Ende 2020. Schon bevor das neue Gesetz steht, hat Links-Grün angekündigt, man habe vor, es später via neue Vorstösse zu verschärfen. Denkbar ist zum Beispiel ein Ausbau der erneuerbaren Energien oder die Einbindung des Schweizer Finanzmarkts in die Klimastrategie des Bundes.
Ausbildung der Woche: Sozialdetektiv
Wie wird man eigentlich Sozialdetektivin? Die Frage ist gerade aktuell, da Unfallversicherer und die IV seit Oktober mutmassliche Betrüger verdeckt beobachten dürfen – den Segen dazu hat ihnen das Stimmvolk vor einem Jahr gegeben. Wer als Sozialdetektiv arbeiten will, braucht dafür eine Bewilligung des Bundes. Und dafür wiederum sind Rechtskenntnisse und eine Observationsausbildung nötig.
Doch als der Bundesrat im Juni die Rahmenbedingungen festlegte, gab es eine solche Ausbildung noch gar nicht. Zwar stellte der Bund ein Angebot in Aussicht – aber erst 2020. Die Lücke füllen nun zwei private Detekteien, wie CH Media berichtet: eine in der Romandie, die ab Frühling Kurse anbietet, sowie eine in Zürich, die im September bereits einen ersten Lehrgang durchgeführt hat.
Nur: Die Nachfrage ist offensichtlich so gering, dass ein zweiter Kurs abgesagt werden musste. Der Geschäftsführer hat zwei mögliche Erklärungen dafür: Die Sozialversicherer müssen ihre Observationen zuerst wieder hochfahren. Und: Die Kurse sind noch nicht so gefragt, weil es in einer Übergangsfrist auch Bewilligungen ohne Kurs gibt.
Eine dritte Möglichkeit wäre: Vielleicht ist Detektiv, ähnlich wie Feuerwehrmann oder Polizistin, einer dieser Berufe, die Kinder sich toll vorstellen, die sie als Erwachsene dann aber doch lieber anderen überlassen? Dabei gäbe es einiges zu lernen: So werden Sozialdetektivinnen in der Ausbildung «gute Kenntnisse auf dem Gebiet der Tarntechnik» erwerben und in der Lage sein, eine Person «diskret per Fahrzeug» zu observieren. Enttäuschend dürfte hingegen für einige sein, dass keine grossen Teleobjektive, Nachtsichtgeräte oder Drohnen eingesetzt werden dürfen.
Illustration: Till Lauer