Wohlstand, aber fremdbestimmt
Viele Ostdeutsche sehen in der Wiedervereinigung keinen Grund zum Feiern. Das liegt daran, wie sie beschlossen wurde: unter dem Diktat der Alternativlosigkeit.
Von Tim Guldimann, 09.11.2019
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 tanzten die Menschen auf der Berliner Mauer. Die Mauer fiel, die Stadt jubelte, und schon kurz danach verkündeten Demonstrationsbanner: «Deutschland einig Vaterland.» Muss das Jubiläum nun, 30 Jahre später, nicht Anlass geben zum Jubeln?
Gemäss einer Umfrage bleibt für drei Viertel der Ostdeutschen die Teilung noch «stark bis sehr stark im Bewusstsein». Im Jahresbericht zur Deutschen Einheit 2019 räumt die deutsche Regierung ein: 57 Prozent der Ostdeutschen fühlen sich als Bürgerinnen zweiter Klasse, kaum mehr als ein Drittel halten die Wiedervereinigung für gelungen, «bei den Menschen unter 40 sind es sogar nur rund 20 Prozent». Daran hat sich in den letzten Jahren nichts geändert. Die Prophezeiung von Willy Brandt, dass nach dem Fall der Mauer «zusammenwächst, was zusammengehört», hat sich nicht erfüllt.
Tim Guldimann stand viele Jahre im diplomatischen Dienst und war zuletzt bis 2015 Botschafter der Schweiz in Berlin. Er sass von 2015 bis 2018 für die SP im Nationalrat. Er unterstützte die Operation Libero im vergangenen Wahlkampf; das Mandat ist beendet.
Zu den Bildern
Zwischen Dezember 1991 und April 1993 hielt der deutsche Fotograf Dirk Krüll den Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie nach der Wende fest. Die Bilder widerspiegeln die Verunsicherung der Mitarbeitenden, ihre Angst vor dem Jobverlust, die Resignation angesichts der drohenden Kündigung.
Die Volksrevolution zur Wende degradiert
Die DDR endete 1989 in einer friedlichen Volksrevolution. Schon 1953, im Aufstand vom 17. Juni, war die ostdeutsche Bevölkerung die Avantgarde im antikommunistischen Widerstand, der in Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen seine Fortsetzung fand. Doch bereits 1990 wurde die ostdeutsche Revolution zur «Wende» degradiert – ein Begriff, der den Urhebern ihre historische Rolle aberkennt. Die Bürgerinnen hatten ihre Angst vor staatlicher Repression überwunden, als sie sich in immer grösserer Zahl auf den Strassen von Leipzig, Dresden und Berlin dem Regime entgegenstellten. Der damalige KPdSU-Generalsekretär der UdSSR, Michail Gorbatschow, liess sie gewähren: «Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.»
Anders als in der Schweiz, die von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts verschont wurde, haben tiefe Bruchstellen die deutsche Geschichte erschüttert: zwei Weltkriege, der Nationalsozialismus und die Schoah. Ein weiterer, tiefer Bruch in der ostdeutschen Lebenserfahrung ist das Ende der DDR. Diesen Bruch können die Westdeutschen nicht nachempfinden.
Dabei geht es nicht nur um den Verlust des Staates DDR an sich. Es ist die zutiefst empfundene Fremdbestimmung bei der Integration in den Westen, die tiefe Wunden hinterlassen hat. Sie sind bis heute nicht verheilt. Auch sie sind Teil des Nährbodens der rechtspopulistischen AfD, die in den drei ostdeutschen Landtagswahlen der letzten Wochen über einen Viertel der Wählerschaft gewinnen konnte.
Die Nach-Wende-Zeit ist entscheidend für das Selbstverständnis der Ostdeutschen. Ausser die über 70-Jährigen haben alle Bürger mehr Zeit seit der Wende als in der DDR gelebt. Und über diese Nach-Wende-Zeit gibt es zwei Erzählungen zur ostdeutschen Realität: eine des Verstandes und eine des Herzens. Sie könnten widersprüchlicher nicht sein.
Verstand vs. Gefühl
Einerseits lässt sich auf der Ebene des Verstandes nachweisen, dass der grosse wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungsschub zu einem Wohlstand geführt hat, der schon fast das westliche Niveau erreicht. Dieser Erfolg zeigt sich in allen «objektiven» Parametern. Das ist auch der Grundtenor des zuvor bereits erwähnten Regierungsberichts: Gewaltiges wurde geleistet, die «Angleichung der Lebensverhältnisse kommt voran», jetzt gilt es, die Wirtschaftskraft «weiter zu stärken», um «die soziale Einheit zu vollenden».
Dem gegenüber stehen andererseits auf der Gefühlsebene die subjektiven Erfahrungen. Sie sind stark, auch wenn sie sich nicht quantifizieren lassen. Hier geht es um verletzte Würde und Entmündigung, um Identitätsverlust und Entwertung der eigenen Lebensleistung. Viele Bürger empfinden, dass man ihnen verweigert hat, den Wandel aktiv mitzugestalten. Sie haben das Gefühl, abgehängt worden zu sein. Und vor allem haben sie die Grundlage ihrer nationalen Identität verloren, nämlich ihr eigenes Land: Die DDR gibt es nicht mehr.
Die als demütigend erlebten Erfahrungen entstanden vor allem in der neuen Abhängigkeit von all den «Aufbauhelfern», den Politikern, Kadern und Expertinnen, die vom Westen rübergekommen waren, um die DDR «abzuwickeln» und den Reformprozess voranzubringen. Daraus entstand ein neues Herrschaftsverhältnis, in dem die «Wessis» immer alles besser wussten. Natürlich: Ohne das Engagement und die harte Arbeit dieser sehr zahlreichen Westdeutschen wäre der Aufbau einer modernen Verwaltung, des Rechtsstaates und konkurrenzfähiger Betriebe in so kurzer Zeit wohl nicht möglich gewesen. Doch das tiefe Empfinden, fremdbestimmt worden zu sein, bleibt.
Die bis heute gärende Unzufriedenheit wird nicht gebührend wahrgenommen, weil die Deutungshoheit westlich geprägt ist. Ostdeutsche sind in den Eliten des Landes nach wie vor unterrepräsentiert. Die ostdeutsche Autorin Jana Hensel stellt fest, «dass wir Ostdeutschland immer noch vornehmlich aus einer westdeutschen Perspektive beschreiben, mit einem fremden Blick, ist eines der grössten Probleme der inneren Spaltung, die wir haben».
Keine Chance auf gleichberechtigtes Zusammenwachsen
Ein Grund für die ungleiche Beziehung: Ostdeutschland hatte – aller euphorischer Beteuerungen zum Trotz – von Anfang an keine Chance auf ein gleichberechtigtes Zusammenwachsen. Als die Mauer fiel, lag die Arbeitsproduktivität der DDR-Wirtschaft bei geschätzten 30 bis 45 Prozent unter jener der westdeutschen. Der technologische Rückstand der ostdeutschen Betriebe betrug 10 bis 20 Jahre. Alleine für ökologische Sanierungen kontaminierter Fabriken musste die mit der Privatisierung des DDR-Volksvermögens beauftragte Treuhand 44 Milliarden D-Mark aufbringen, wie der Autor Richard Schröder festhielt.
Kurz: Der Abstand zum Westen war wesentlich grösser, als viele, im Osten wie im Westen, erwartet hatten – mit dramatischen Folgen.
In Ostdeutschland wurden 4000 Betriebe geschlossen, zweieinhalb Millionen Menschen verloren ihre Arbeit. Dabei war die Erwerbslosigkeit an sich nicht die einzige Härte. 85 Prozent der Menschen waren zuvor in Kombinaten, landwirtschaftlichen Betriebsgenossenschaften und im Staatsdienst angestellt, wie Schröder ebenfalls in Erinnerung ruft. Für sie bedeutete das Ende der DDR-Arbeitsgesellschaft mit ihrer «Rundumversorgung» auch einen schmerzhaften Abbruch ihrer sozialen Beziehungen und des sozialen Zusammenhalts – ein Umbruch, den der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk als «soziale Katastrophe» bezeichnete. Eine «Blut, Schweiss und Tränen»-Rede zur Ankündigung des Bevorstehenden wäre darum nach dem Mauerfall ehrlicher gewesen als die vom westdeutschen Bundeskanzler Helmut Kohl 1990 versprochenen «blühenden Landschaften».
«Eine Übernahme»
Es stimmt: Der Umbau von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft war in allen Ostblockstaaten brutal, und den Bürgern der DDR erging es dabei oft besser als denen der ehemaligen Bruderstaaten. Die vom Westen übernommenen rechtlichen Rahmenbedingungen verhinderten das Raubrittertum der Privatisierung, mit der sich in anderen Oststaaten eine Handvoll Oligarchen bereicherte.
Ebenso rettete die Währungsreform die östlichen Sparguthaben, die anderswo durch Inflation dezimiert wurden. Und – was oft vergessen wird – Ostdeutschland wurde mit der Einheit automatisch in die EU aufgenommen, was auch neue Finanzquellen und bald die Arbeitsmöglichkeit in ganz Europa öffnete.
Der neue Einheitsstaat sanierte öffentliche Einrichtungen, Schulen und Universitäten, Krankenhäuser und Verwaltungsgebäude, ja die gesamte Infrastruktur im Osten. Sie ist heute teilweise in besserem Zustand als im Westen. Und selbstverständlich: Das Ende der DDR war das Ende eines Unrechtsstaates und seiner politischen Repression, kultureller Gängelung und Stasi-Überwachung.
Trotzdem sind viele der damals gerissenen Wunden nie verheilt. Das liegt nicht daran, dass, sondern wie die Wiedervereinigung beschlossen wurde: in unglaublichem Tempo und unter dem Diktat der Alternativlosigkeit.
Die ostdeutsche Autorin Daniela Dahn gibt dem Empfinden vieler Ostdeutschen Ausdruck, wenn sie schreibt: «Die Einheit war eine feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen.» Ja, die Ostdeutschen wollten die Einheit. Es war die frei gewählte Volkskammer der DDR, die am 23. August 1990 den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes und damit zur Bundesrepublik beschloss. Den Weg vorgegeben aber hatte Bundeskanzler Kohl, bevor im Osten die Diskussion über politische Alternativen eine Chance bekommen konnte.
Bereits weniger als drei Wochen nach dem Mauerfall trug er im Bundestag überraschend ein 10-Punkte-Programm für den Osten vor, das die deutsche Einheit im letzten Punkt als Ziel nannte. Kohl glaubte sich dabei auf einen Hinweis aus Moskau stützen zu können, dass die Sowjets eine Neuvereinigung der beiden deutschen Staaten zu billigen schienen. Aber er hatte sich weder mit den anderen Parteien im Bundestag noch mit Ost-Berlin noch mit den Westmächten abgesprochen. Selbst Gorbatschow fühlte sich überrumpelt. Kohl sah im Mauerfall die historische Gelegenheit, rasch und klar zu handeln. Das Fenster hätte sich schon sehr bald durch Chaos im Osten oder ein Ende von Gorbatschow wieder schliessen können. Gorbatschow wurde tatsächlich im Sommer 1991 gestürzt. Der mutige Schritt war Kohls historischer Verdienst.
Doch den Takt gab damit von Beginn weg Bonn an. Sachzwänge beschleunigten den Prozess: Die Grenze war offen, und die Leute skandierten: «Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr.» Von November 1989 bis März 1990 verliessen über 350’000 Menschen die DDR. Erst die Ankündigung einer gemeinsamen D-Mark dämmte die Abwanderung ein. Am 1. Juli wurde die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion umgesetzt. Sie verlangte Rechtssicherheit und damit die sofortige Übernahme der westdeutschen Gesetze. Die Übernahme war besiegelt.
Die Mehrheit wollte Bananen
Für Alternativen fehlten die Zeit und der demokratische Wille. «Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat», argumentierten DDR-Bürgerrechtlerinnen wie Bärbel Bohley. Sie traten immer wieder für ein solidarisches Gemeinwesen ein und forderten die Demokratisierung des Sozialismus als Gegenmodell zum Anschluss an den Westen. Ihr «Bündnis 90» erhielt in der Volkskammerwahl im März 1990 aber weniger als drei Prozent der Stimmen. Die Mehrheit wollte Bananen.
Die Nachwendezeit im Osten ist noch nicht vorbei, die Wunden aus all den Kränkungen und Erniedrigungen sind noch nicht verheilt. Auch darauf baut die AfD. Mit dem Slogan «Vollende die Wende» setzt sie bei der erstickten Volksrevolution von 1989 an, um gegen die etablierte Politik und die «Lügenpresse» zu polemisieren. Die Verweise sind ganz offen: «Wie damals», so der Parteivorsitzende Alexander Gauland, «besteht das Regime aus einer kleinen Gruppe von Parteifunktionären, einer Art Politbüro, und wieder steht ein breites gesellschaftliches Bündnis (…) hinter der Staatsführung und bekämpft die Opposition».
Anlass zum Jubeln?
Das 30-Jahr-Jubiläum des Mauerfalls wird heute vom Erfolg der AfD überschattet. Zum Feiern fehlt die Begeisterung. Notwendig wäre eine breite gesamtdeutsche Debatte, die durch ein gegenseitiges Zuhören die erlebte Nachwendezeit aufarbeitet, um die Einheit zu vollenden. Aber dafür fehlt die Bereitschaft. «Alles, was ich heute im Westen spüre», so der Journalist Jochen-Martin Gutsch, «ist komplettes Desinteresse. Schon wieder Ostgeschichte? Schon wieder irgendetwas aufarbeiten?»