Der Exodus
Mit der Mauer fielen auch die Illusionen: Die Wirtschaft der DDR war noch schlechter dran, als viele glaubten. Ein politischer Entscheid des Westens gab ihr den Todesstoss.
Von Olivia Kühni, 04.11.2019
Zwei Wochen bevor die Mauer fiel, rechneten die Funktionäre der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands mehr als je zuvor.
Während die Bürgerinnen auf die Strassen gingen, redeten die Herren des Zentralkomitees in ihrem Berliner Sitz hinter verschlossenen Türen Klartext: Es ging um «ein ungeschminktes Bild unserer wirtschaftlichen Lage», hielt der damalige Vorsitzende der Staatlichen Plankommission Gerhard Schürer in einem vertraulichen Dokument fest.
Dieses zeigte: Es stand wirtschaftlich nicht gut um die Deutsche Demokratische Republik.
Seit knapp 20 Jahren hatte die Partei immer weniger in die produzierende Industrie und die Logistik investiert – nur noch jährlich 9,9 Prozent der Ausgaben gegenüber 16,1 Prozent im Jahr 1970. Die Folgen waren drastisch: Fabrikanlagen, Altbauten, Strassen und Geleise verlotterten.
Gleichzeitig kämpften die Betriebe mit den Tücken einer zentralisierten Planwirtschaft. Sie waren mittlerweile so ineffizient und damit teuer, dass sie ihre Waren nur dank massiver staatlicher Subventionen exportieren konnten. Einfache Elektronikschaltungen beispielsweise kosteten in der DDR-Produktion 40 Mark, wie Planchef Schürer vorrechnete, der Weltmarkt zahlte dafür allerdings längst nur noch 1 Mark. Um die Schaltungen trotzdem loszuwerden, legte der Staat jedes Mal noch einmal 40 Mark «Stützung» dazu.
Gleichzeitig verfolgte das Politbüro seit 1971 ein aufwendiges Programm namens «Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik»: Um die längst unzufriedenen Bürger zu besänftigen, erhöhte es die Löhne trotz schwächelnder Wirtschaft jedes Jahr um durchschnittlich 4,4 Prozent und baute derart viele Wohnblöcke, dass die Hälfte der Bürgerinnen seither einen Neubau bezogen hatte. All diese Ausgaben finanzierte die SED über heimliche Schulden im westlichen Ausland, insbesondere in der BRD.
Kurz: Die DDR lebte seit Jahren über ihre Verhältnisse.
«Die Verschuldung im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet», hielt der Planchef nüchtern fest, «ist auf eine Höhe gestiegen, die die Zahlungsfähigkeit der DDR infrage stellt.»
Wie zerbrechlich die ostdeutsche Wirtschaft wirklich war, sollte sich nur wenige Wochen später zeigen: als nach knapp 30 Jahren die innerdeutsche Grenze fiel.
Doch erst ein Blick zurück – denn die Weichen zum langsamen Abstieg wurden früh gestellt.
Kalter Krieg statt Kooperation
Bereits kurz nach der Staatsgründung 1949 fällten die SED-Eliten unter Einfluss ihrer sowjetischen Berater einen folgenschweren Entscheid, wie der ostdeutsche Ökonom Udo Ludwig schreibt: Sie entschieden sich gegen den internationalen Handel und für die Abschottung. Statt den Konsumentinnen zu dienen, sollte die Wirtschaft die militärische Überlegenheit sicherstellen und den «Sieg der sozialistischen Wirtschaftsformen» garantieren.
Mit anderen Worten: Die DDR – als Vasallenstaat der Sowjetunion – setzte auf Kalten Krieg statt auf Kooperation.
Damit war der Abstieg gegenüber der Bundesrepublik programmiert. Fortan musste die DDR fast jedes technische Gerät selber entwickeln, während die Bundesrepublik die neuesten Maschinen einfach aus den USA übernehmen konnte, wie Wirtschaftsautorin Ulrike Herrmann von der Berliner «Tageszeitung» in ihrem Buch «Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen» schreibt. «Die Ostdeutschen hatten keine Chance, den Wohlstand der Westdeutschen zu erreichen.»
Möglicherweise war der Wettlauf der Systeme allerdings bereits entschieden, bevor er überhaupt richtig losgehen konnte. Schon in den ersten Nachkriegsjahren bedienten sich die Sowjets nämlich «ungehemmt in ihrer Zone», wie Herrmann weiter schreibt. Sie bauten 3400 Betriebe in Ostdeutschland ab und transportierten sie nach Hause. 80 Prozent der Fahrzeugindustrie, 75 Prozent des Maschinenbaus sowie 66 Prozent der Elektro- und der optischen Industrie – bis dahin Stärken der Region – waren deshalb verloren, bevor die DDR überhaupt gegründet wurde.
1948 blieben dem Osten noch 74,3 Prozent der Industriekapazität der Vorkriegszeit. Der Westen hingegen, unterstützt von den Briten und den Amerikanern, war bereits bei 111 Prozent angelangt. Es war ein Abstand, der mit den Jahren nur noch grösser werden sollte. Als sich die ostdeutschen Arbeiter 1953 in einem Streik zum ersten und für lange Zeit letzten Mal vergeblich gegen ihre Unterdrückung erhoben, waren ihre westdeutschen Nachbarn bereits doppelt so reich wie sie.
Flucht in den Westen
Die Menschen reagierten, indem sie zu Hunderttausenden ihre Heimat verliessen. 2,7 Millionen Menschen zogen bis 1961 in den Westen – rund 13 Prozent aller Erwerbstätigen. Nach den Fabrikanlagen und dem Zugang zum internationalen Handel verlor die DDR den wohl wichtigsten aller Wirtschaftsfaktoren: qualifizierte Arbeiter und Spezialisten. Davon profitierte einmal mehr die BRD: Während die Bevölkerung im Osten schrumpfte, stieg sie im Westen an.
Im August 1961 wusste sich der selbst ernannte Bauern- und Arbeiterstaat nicht mehr anders zu helfen, als seine Bürgerinnen einzusperren: Er zog eine Mauer hoch. «Mitten durch eine Stadt, in der es trotz der administrativen Teilung noch immer täglich vieltausendfache Verbindungen gab», sagte der damalige Berliner Bürgermeister Willy Brandt, «sind die Betonpfähle einer Grenze eingerammt worden.»
Als sie am 9. November 1989 fiel, ging sofort weiter, was das Politbüro mit Gewalt gestoppt hatte: ein Massenexodus in den Westen. Und die westdeutschen Politiker griffen über die folgenden Monate zum gleichen Rezept wie zuvor jahrzehntelang die DDR-Elite, um die Ostdeutschen zu beschwichtigen: Versprechen und finanzielle Zückerchen.
Sie halfen CDU-Kanzlerkandidat Helmut Kohl, die Wahlen zu gewinnen. Und versetzten der ostdeutschen Wirtschaft den Todesstoss.
Angst um die Sozialwerke
Kaum war die Berliner Grenze offen, stürmten die Ostdeutschen in Richtung Westen: Innerhalb weniger Wochen verliessen gemäss offizieller Statistik 70’000 Bürger die DDR – inoffiziell dürften es noch deutlich mehr gewesen sein. Seit 1988 reisten ausserdem monatlich Zehntausende über den Umweg durch Polen und Ungarn aus: Weitere rund 880’000 Menschen waren so der DDR entkommen.
Die Wanderung erschreckte dieses Mal nicht nur die Politiker im Osten, sondern auch jene im Westen. Sie fürchteten eine Masseneinwanderung in die Sozialwerke und chaotische Zustände. Dabei warnte ausgerechnet der damalige Kanzlerkandidat der SPD, Oskar Lafontaine, davor, die Grenzen zu öffnen oder Deutschland gar wieder zu vereinigen – und schürte dabei die Ängste vor einer Überlastung des Sozialstaats. Die CDU mit Kanzlerkandidat Helmut Kohl hingegen versprach den Ostdeutschen vor ihren ersten freien Wahlen im März 1990 «Wohlstand für alle», «blühende Landschaften» und eine mögliche Währungsunion. Die christliche Union gewann im Osten wie auch zwei Monate später haushoch im Westen.
Kohl löste – nach einigen Protesten mit «Wortbruch»-Vorwürfen – seine Wahlversprechen ein. Im April 1990 stiegen erst die Löhne in der DDR auf einen Schlag um durchschnittlich 12 Prozent. Drei Monate später trat die Währungsunion in Kraft: Obwohl Kaufkraft und Produktivität im Osten viel geringer waren als im Westen, tauschte der Westen trotz lautstarker Warnungen etwa der Bundesbank jede ostdeutsche Mark 1:1 gegen D-Mark um, eine der stärksten Währungen der Welt.
Die Bürgerinnen jubilierten – und bescherten den westdeutschen Kaufhäusern Rekordumsätze. Allerdings währte die Freude nicht lange: Kurze Zeit später fiel die DDR-Wirtschaft krachend in sich zusammen, die Arbeitslosigkeit schnellte in die Höhe. Der Grund: Vor dem Mauerfall war eine DDR-Mark eine knappe Viertelmark wert gewesen, wie die Exportbücher zeigten. Mit dem verordneten 1:1-Kurs wurden sämtliche DDR-Produkte auf einen Schlag viermal so teuer wie zuvor – und hatten, da sowieso oft veraltet, im Handel keine Chance mehr.
Der Schock von Lohnerhöhungen und Währungsunion sei bei den Bürgern mit einer «enormen Wohlstandsvermehrung» einhergegangen, schreibt der Ökonom Karl Brenke in einer Analyse zu den Wendejahren 1989 und 1990. Aber er führte «zu einem weitgehenden Zusammenbruch der Wirtschaft».
Nur drei Monate später ist die DDR Geschichte: Am 3. Oktober 1990 geht sie im vereinigten Deutschland auf. Die Verletzungen der gebeutelten Wirtschaft aber wirken bis heute nach: Ostdeutschland hat zwischen 1950 und 2006 rund 7,2 Millionen Bürger verloren – 2,6 Millionen davon seit der Wiedervereinigung. Die Produktivitätsunterschiede zwischen Westen und Osten bestehen bis heute.
Und auch das ungute Gefühl, irgendwie übervorteilt worden zu sein.