Serie «Die gefährlichste Frau der Schweiz?» – Folge 4

Fantasie und Wirklichkeit

Wem Caroline H. von ihren Mord­träumen erzählte. Wie die Polizei sie überführte. Und warum man an den Geständnissen der jungen Frau hätte zweifeln können. «Die gefährlichste Frau der Schweiz?», Folge 4.

Von Carlos Hanimann (Text) und Joan Wong (Illustration), 08.11.2019

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Vorgelesen von Patrick Venetz
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Nachdem Caroline H. die Strafe für über 40 Brand­stiftungen in der Inner­schweiz abgesessen hatte, zog sie im Sommer 1995 nach Zürich. Sie trat eine Lehrstelle als Elektro­monteurin an und lebte in einem begleiteten Wohnheim für entlassene Straftäter. Dort lernte sie Klein­kriminelle wie Schwer­verbrecher kennen. Sie war 22 Jahre alt, eine drahtige und zutiefst unsichere Person. Wegen ihres burschikosen Aussehens wurde Caroline H. häufig getriezt.

Zwei Menschen traf Caroline H. regelmässig: eine Psycho­therapeutin und einen Bewährungs­helfer. Die Treffen waren eine begleitende Massnahme nach ihrer Entlassung.

Vermutlich war die Therapeutin die erste Person, der Caroline H. von ihren Mord­fantasien erzählte. Laut Urteil sagte sie ihrer Therapeutin im März 1998 beispiels­weise, dass sie sich eine Waffe gekauft habe und andere Menschen umbringen werde. Ein halbes Jahr später sagte sie ihr, sie habe Angst davor, eine Serien­mörderin zu werden.

Serie «Die gefährlichste Frau der Schweiz?»

Nur wenige Kriminalfälle in der Schweiz haben so viel Aufsehen erregt wie jener von Caroline H. 2001 wurde sie dafür verurteilt, in den 1990er-Jahren zwei Frauen getötet und eine Dritte schwer verletzt zu haben. Doch hat hat Caroline H. tatsächlich zweimal gemordet? Vier Jahre hat Republik-Reporter Carlos Hanimann zum Fall recherchiert. Zur Übersicht.

Folge 3

Hu­gento­blers Theorie

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Fantasie und Wirk­lich­keit

Folge 5

Handwerker X

Als Caroline H. diese Aussagen machte, waren die Delikte schon geschehen: Im Januar 1997 soll sie eine 61-jährige Passantin beim China­garten erstochen haben, im März 1998 eine 76-jährige Buchhändlerin in der Kirchgasse mit mehreren Messer­stichen schwer verletzt haben – vier Tage bevor sie ihrer Therapeutin sagte, sie wolle Menschen töten.

Die Therapeutin hat sich nie öffentlich zu Caroline H. geäussert. Auch meine Interview­anfrage lehnte sie ab. Sie habe eine ärztliche Schweige­pflicht, schrieb sie in einem Brief. Zudem habe sie mit Caroline H. «ganz explizit eine Abmachung» getroffen, dass sie nicht mit der Presse rede – «und zwar lebens­länglich». Als ich sie dennoch fragte, ob sie es für möglich halte, dass Caroline H. mindestens eines der Tötungs­delikte gar nicht begangen habe, brach sie den Kontakt ab.

Ihrem Bewährungs­helfer erzählte Caroline H. ebenfalls von Tötungs­fantasien. Sie hatte einen guten Draht zu ihm, weil er ein direkter Typ war ohne falsche Rücksicht­nahme. Caroline H. mochte ihn. Sie respektierte, dass er sich nicht von ihr einschüchtern liess.

Caroline H. habe Stärke gesucht, weil sie Schwäche ablehnte – «besonders bei Frauen», schrieb der Gerichtspsychiater Andreas Frei in einer wissenschaftlichen Fallstudie.

Frei erzählte mir eine Anekdote dazu. Als er Caroline H. für den Mordprozess 2001 begutachtete, wurde er in einem ganz anderen Fall von einem Patienten brutal angegriffen. Dieser ging auf Frei los und versuchte, ihm die Augen einzudrücken. Caroline H. hatte etwa zur gleichen Zeit ebenfalls eine Pflegerin in einer Klinik angegriffen und galt als unberechenbar und gefährlich. Psychiater Frei ging also auf sie zu und sagte ihr: «Hören Sie, es gibt Leute, die sind gehemmt. Ich nicht. Sie fassen mich einmal an, und ich schlage zurück.» Die Ansage wirkte. Er hatte unzählige Sitzungen mit ihr, allein, ohne Fesselung. Nie gab es Probleme.

Psychiater Frei hält die Angriffe von Caroline H. auf Pflegerinnen und Polizisten denn auch für überbewertet. Die Angriffe seien von ihr «inszeniert» gewesen. «Frau H. suchte das Image als Schwer­verbrecherin», sagt Frei.

War Caroline H. so gefährlich, wie sie die Behörden hatte glauben lassen?

Ich rief den Bewährungs­helfer an. Anders als die Therapeutin war er gesprächig. Er schien sich ebenfalls eine Zeit lang mit der Frage beschäftigt zu haben, ob Caroline H. wirklich das brutale Monster sein konnte, als das sie beschrieben wurde. Ich traf den Bewährungs­helfer zum Interview, auf Band.

Der Mann hatte Caroline H. zwischen 1996 und 1998 eng begleitet, er traf sie einmal im Monat. Im Interview beschrieb er eine ganz andere Caroline H., als sie mir bisher geschildert worden war: kein Monster, vielmehr ein armer Teufel, der mit der Welt nicht zurechtkam.

Doch als es um die Veröffentlichung seines Interviews ging, zog er – wie schon der ehemalige Verteidiger Franz Ott – plötzlich alle Aussagen zurück. Er bat mich gar, die Tonband­aufnahmen zu löschen.

«zu ihrer information», schrieb er mir in einer Mail in Kleinbuchstaben. «mein ‹rückzug› liegt weder an ihnen noch am medium republik – ich habe beides als professionell erfahren. vielmehr habe ich feststellen können, dass mein ‹O-Ton› für viele ohren zu sehr nach einem ‹spaghettiwestern a la sergio leone› klingt und daher missverstanden werden kann. Und dies wird weder den opfern, C.H. noch den weiteren involvierten personen und parteien gerecht. Insbesondere weisen meine aussagen keinen mehrwert auf bzw. enthalten keine neuen erkenntnisse betreffend besagtem kriminalfall.»


Drei Jahre lang versuchte Caroline H. ein geordnetes Leben zu führen: Sie machte eine Lehre, traf Therapeutin und Bewährungs­helfer regelmässig, lernte sogar einen jungen Mann kennen, mit dem sie eine Beziehung einging. (Der Mann wurde später in den Medien als «Rütlibomber» bekannt, weil er am 1. August 2007 einen Sprengsatz auf der Rütliwiese detoniert haben lassen soll. Das Verfahren gegen ihn wurde 2011 eingestellt.)

Doch offenbar hatte Caroline H. Mühe mit dem Alltag. Sie wurde wieder straffällig, legte über 50 Brände in der Stadt Zürich und Umgebung. Am Ende belief sich der Schaden auf über 11 Millionen Franken.

Sie sei manchmal «wie neben den Schuhen» gestanden, sagte mir jemand, der sie damals gut kannte. Wie unter Strom sei sie mit einer Art Tunnelblick durch die Strassen gehetzt. Sie habe beispiels­weise entgegen­kommenden Menschen auf der Strasse nicht ausweichen können, habe einen um den anderen angerempelt und sei weitergehetzt.

«Neben den Schuhen» sei sie auch im Frühling 1998 gestanden, als sie sich wegen sadistischer Träume freiwillig in eine psychiatrische Klinik begab – aus Angst, die Fantasien würden Wirklichkeit.

In der Klinik erzählte sie nicht nur von ihren Träumen, sondern auch von neuen Bränden, die sie gelegt hatte. Sie blieb nicht lange in der Klinik. Nach wenigen Tagen brach sie aus, lieferte sich wieder ein – und wurde dann ins Gefängnis gebracht: Sie hatte in der Klinik einen Sicherheits­beamten angegriffen.

Und dann, Caroline H. befand sich seit mehreren Monaten in Untersuchungs­haft, erzählte sie der Polizei plötzlich von mörderischen Träumen.


Walter Felder sitzt im Büro von Marco Cortesi, dem Sprecher der Stadtpolizei Zürich, und zögert.

Felder ist der Polizist, der Caroline H. überführte. Der «Blick» titelte damals: «Er durchschaute die Mörderin».

Polizist Felder ist unsicher, was er sagen darf und was nicht: Amtsgeheimnis, ein alter Fall, ein unbekannter Journalist. Darum sitzt Cortesi, der Sprecher, wie ein Polizist neben ihm und passt auf, dass ich nichts Falsches frage und Felder nichts Falsches sagt.

Mit Mord und Totschlag hat Felder eigentlich nichts zu tun. Heute ist er bei der Stadtpolizei für Einbrüche zuständig. In den Neunziger­jahren war er Feldweibel bei der Fachgruppe Brände/Anschläge. So traf er auf Caroline H.: als Brand­ermittler, der eine Brand­serie aufklären sollte.

Caroline H. war in Zürich keine Unbekannte. Bereits im Luzerner Verfahren war sie von den Zürcher Straf­verfolgern verhört worden, weil sie neben den Bränden in der Inner­schweiz auch in Zürich einzelne Feuer gelegt hatte. Felder war damals nicht beteiligt gewesen. Aber die Kollegen hatten ihm schon eine Ahnung davon vermittelt, was für eine Person Caroline H. war. Er ging ruhig und zurück­haltend auf sie zu.

Schon bei den ersten Einvernahmen habe Caroline H. einige Brand­stiftungen gestanden, sagt Polizist Felder. Er hatte einen guten Draht zu ihr. Anders als andere Polizisten, bei denen sie blockte und bereits getätigte Aussagen widerrief. «Ich konnte ihr Vertrauen gewinnen, wodurch sie sich ein wenig öffnete.»

Felder vernahm Caroline H. über 30 Mal. Er war auf mindestens 20 Tatort­fahrten mit ihr. Am Ende ging es um über 50 Brandstiftungen. «Das Motiv war bei den Brand­stiftungen natürlich immer ein Thema. Aber da machte sie einfach zu», sagt Felder. «Ich merkte, da gibt es ein Problem. Irgendwann sagte sie: ‹Ich habe Albträume.› Ich sagte zu ihr: ‹Okay, dann erzählen Sie mir doch von diesen Träumen. Wir vergessen das Protokoll›, sagte ich, ‹aber ich zeichne das Gespräch auf Band auf, und Sie erzählen.› Damit war sie einverstanden.»

«Sie hat eine Stunde lang geredet», sagt Felder. «Sie hat regelrecht gesprudelt. Sie erzählte dabei Details, die mich stutzig machten. Sie sagte zum Beispiel, dass sie am Morgen nach einem Traum aufgewacht sei und ihre Kleidung war voller Blut. Da fragte ich: ‹Reden Sie denn jetzt noch von einem Traum oder von der Wirklichkeit?› So ging es hin und her, bis ich den Zusammen­hang zu einem Tötungs­delikt erkannte. Ich ging mit den Aufnahmen zu Bezirks­anwalt Edwin Lüscher. Er leitete die Unter­suchung zum Tötungs­delikt beim China­garten. Er wurde sofort hellhörig.»

Caroline H. vertraute Felder. Darum blieb er weiter in den Fall involviert. Sie sagte bei Befragungen, sie wolle im Gefängnis bleiben, weil sie sich vor Schlimmerem fürchte: dass sie in der Fantasie Menschen umbringe.

Laut Urteil machte Caroline H. Anfang September 1998 erste Andeutungen zu den Tötungs­delikten – «vorerst in der Form eines Traumes», wie es heisst.

Zuerst sagte sie über den Mord beim Chinagarten: Sie träume, dass sie sich in einer Parkanlage verstecke und warte, bis eine Frau allein daherkomme.

Dann sprach sie über den Mord im Urania-Parkhaus: Sie habe geträumt, dass sie in einem Parkhaus eine Frau erstochen habe.

Nach der Tatort­begehung beim China­garten wurde Caroline H. erneut von der Polizei befragt. Erstmals sagte Caroline H. nun, es handle sich bei ihren Träumen nicht um Fiktion, sondern um die Wirklichkeit.

«Demnach kann ich Ihre Aussagen als ein Geständnis werten?», fragte der Ermittler laut Urteil.

«Ja.»


Vom ersten Geständnis bei der Polizei im September 1998 bis zur Schluss­einvernahme im April 2000 vergingen über eineinhalb Jahre. Den Mord­versuch an einer Buch­händlerin in der Kirchgasse gestand Caroline H. erst im Sommer 1999, kurz bevor Staats­anwaltschaft und Polizei vor die Medien traten und über die Morde beim China­garten und im Urania-Parkhaus aufklärten. Am Tag nach der Presse­konferenz stritt Caroline H. den Mord­versuch an der Buchhändlerin wieder ab: «Ich habe mich zwar dort aufgehalten und hatte auch eine Auseinander­setzung mit dieser Frau», sagte Caroline H. laut Urteil. «Aber ich habe sie nicht getötet.»

Ich frage Felder, ob er so einem Aussage­verhalten oft begegnet sei.

«Es gibt die, die sagen sofort alles. Und dann gibt es die, die nur Stück für Stück rausrücken. Frau H. blockte immer, wenn es um andere beteiligte Personen ging. Da sagte sie nichts. Sie würde nie jemanden verpfeifen. Ihr ging es um sie selber. Sie wusste, was sie getan hatte. Mehrmals sagte sie: ‹Mich darf man nicht mehr rauslassen.›»

«Hatten Sie je Zweifel an ihren Aussagen?»

«Ja, die hatte ich immer wieder. Darum wollte ich auch Details hören, die sie nicht aus der Presse haben konnte. Ich hatte diesen Gedanken im Hinterkopf: Will sich die nur wichtig machen? Sich als Märtyrerin präsentieren? Darum war es ganz entscheidend, dass man ein Detail hörte, das nur der Täter kennen konnte.»

«Hatte sie dieses Täterwissen?»

«Ja.»

«Zum Beispiel?»

«Bei den Bränden führte sie mich an die Tatorte und zeigte mir, wie sie vorgegangen war. Und bei den Tötungs­delikten waren das die Tatwaffen. Wie sehen die aus? Passt das zum Spuren­bild? Es gab Übereinstimmungen.»

Für Felder war der Fall von Caroline H. der grösste und aufreibendste seiner Karriere. «Ich ging abends nicht immer gut aus dem Büro», sagt der Polizist. «Normaler­weise vergesse ich die Arbeit, wenn ich nach Hause gehe. Aber damals war das anders. In Gedanken war ich immer beim Fall.» Aufgehört habe das erst, als das Urteil des Richters fiel: schuldig. «Da habe ich den Deckel draufgemacht. Erledigt.»


Caroline H. zog die Geständnisse während der Unter­suchung nicht mehr zurück. Sie bestätigte ihre Aussagen bis zum Mordprozess im Dezember 2001. Nach dem Urteil nahm sie aber von den Geständnissen Abstand. Wann genau, ist unklar. Offiziell dokumentiert ist, dass sie die Tötungs­delikte ab 2004 in der Psycho­therapie bestritten hat.

Im Urteil vom Obergericht Zürich heisst es, der psychiatrische Gutachter sehe keinen Grund, «an den Aussagen der Angeklagten zu zweifeln». Gewisse Unschärfen in den Geständnissen seien «auf den Verdrängungs­prozess der Angeklagten» zurückzuführen.

Der Psychiater Andreas Frei hat Caroline H. für den Mordprozess 2001 begutachtet. Über 30 Mal hat er sie zum Gespräch getroffen und ein 72-seitiges Gutachten verfasst. Später veröffentlichte er seine Erkenntnisse in einer Fachzeitschrift unter dem Titel «Female Serial Killing». Er beurteilte ihren Fall als einzigartig in der wissenschaftlichen Literatur. Sie sei eine untypische Serienmörderin.

Frei hatte in seiner Karriere immer wieder Mörder als Patienten, auch einige der bekanntesten Schweizer Schwer­verbrecher hat er psychiatrisch begutachtet. «Caroline H. war ein Highlight», sagt Frei rückblickend, und er meint das nicht zynisch, sondern sehr ehrlich: «Ich verdanke dem Fall ein Stück weit meine Karriere.»

Frei besuchte Caroline H. auch nach dem Urteil weiterhin im Gefängnis. Als Privat­person, nicht als Arzt. Er habe sich dazu verpflichtet gefühlt, sagt er, als ich ihn in seiner Praxis in Luzern treffe.

«Warum?»

«Was soll ich sagen? Sie hatte einen burschikosen Charme. Das entspricht meiner Vorliebe bei Menschen. Sie hat mich als Person angesprochen.»

«Sie wurde weitherum als Monster beschrieben.»

«Ich habe sie mir sehr genau angesehen, auch bei den privaten Besuchen. Einmal war ich in Hindel­bank im Gefängnis und habe in ihre Augen geschaut, ganz tief, die sind so bernsteinfarben – und da dachte ich schon: Das sind die Augen eines Velociraptors. Aber das fiel mir nur dieses eine Mal auf. Als ich sie intensiv für das Gutachten befragte, sah ich das nicht so.»

«Ist es gewöhnlich, dass Täter Delikte gestehen, widerrufen, bestätigen, widerrufen?», frage ich Frei.

«Nein, nicht in diesem Ausmass.»

«Wie erklären Sie dieses Verhalten von Caroline H.?»

«Ich kann das nicht erklären», sagt der Psychiater.

Die Diagnose, die er stellte und später auch in der wissenschaftlichen Fallstudie veröffentlichte, lautet: Borderline-Persönlichkeits­störung. Caroline H. selbst erzählte im Herbst 2018 einer Reporterin der «SonntagsZeitung», die sie im Gefängnis besuchen durfte, sie habe ein Asperger-Syndrom.

«Ihr Krankheitsbild ist so, dass man schon fast eine Autismus­spektrums­störung annehmen müsste», sagt Frei. «Oder eine massive frühkindliche Verwahrlosung oder Missbrauch. Aber darauf gibt es keine Hinweise. Und ich muss auch sagen: Die Diagnose, die ich gestellt habe, ist nicht einfach eine Variante. Sie besagt, dass Frau H. schwerst gestört ist. Und das heisst: in vielen Situationen nicht nachvollziehbar.»

«Ihre Krankheit dient als Erklärung für das Unerklärliche?»

«Eine Borderline-Persönlichkeits­störung ist ein Etikett. Es erklärt einen Teil, aber ganz vieles eben nicht.»


Im Jahr 1989 wurde in einer US-amerikanischen Kleinstadt im Bundes­staat Nebraska eine 68-jährige Frau vergewaltigt und getötet. Drei Männer und drei Frauen gestanden, die Frau gemeinsam ermordet zu haben. Eine der geständigen Frauen kann auch drei Jahrzehnte nach der Tat in ihren Fingern spüren, wie sie damals das Kissen in der Hand hielt und die Frau erstickte.

Zwanzig Jahre lang glaubte sie, sie sei eine Mörderin.

Dann bewies eine nachträgliche DNA-Unter­suchung ihre Unschuld. Heute ist sie eine freie Frau.

In der Kriminologie weiss man, dass Geständnisse eine häufige Fehler­quelle sind. Es gibt Fälle, bei denen Beschuldigte ein falsches Geständnis ablegen und derart internalisieren, dass sie irgendwann glauben, sie hätten die Tat wirklich begangen.

Das Phänomen falscher Geständnisse kann viele Ursachen haben: suggestive Befragungen, polizeilicher Zwang, die Aussicht auf eine mildere Strafe. Nicht zuletzt liegen die Gründe aber in der Persönlichkeits­struktur der Beschuldigten. Besonders junge, alte und labile Personen sind für falsche Geständnisse anfällig, Personen mit einem höheren Mass an Persönlichkeits­störungen und Personen mit Dissozialität neigen eher dazu. Im kriminalistischen Fachbuch «Wahre und falsche Geständnisse in Vernehmungen», das von der Deutschen Gesellschaft für Kriminalistik ausgezeichnet wurde, heisst es: «Personen mit einer psychischen Erkrankung weisen oft Störungen der Realitäts­kontrolle auf. Geständige können auch aufgrund eines Irrtums der Überzeugung sein, Täter der eingeräumten Straftat zu sein.»

Caroline H. war ohne Zweifel psychisch krank. Sie suchte Bestätigung, wollte eine «Schwer­verbrecherin» sein. Als Brand­stifterin schnitt sie Zeitungs­artikel über ihre Taten aus und sammelte sie. Sie gab sogar Brände zu, die sie nicht gelegt hatte. Das Obergericht Luzern hatte 1994 festgehalten, dass ihre «Persönlichkeits­struktur für eine Falsch­aussage geradezu prädestiniert» sei.

Die Geständnisse von Caroline H. waren das einzige Beweis­mittel, das sie als Täterin in allen drei Fällen auswies: im Urania-Parkhaus, beim China­garten sowie beim Angriff auf eine Buch­händlerin in der Kirchgasse. Im Urteil heisst es jeweils: Die Anklage basiere auf dem Geständnis der Angeklagten. Die Täterschaft könne «ausschliesslich aufgrund ihrer eigenen Aussagen zugeordnet» werden. Es fehlten «in spuren­kundlicher und erkennungs­dienstlicher Hinsicht rechts­genügende Nachweise für die Täterschaft».

Allerdings waren die Aussagen von Caroline H. nicht immer eindeutig.

In der Schlusseinvernahme zum Parkhaus­mord im Mai 1999 sagte sie, sie sei zum Tatzeitpunkt «nicht ganz da» gewesen. Deshalb wisse sie nicht, ob das Opfer seine Handtasche in der Hand oder über der Schulter getragen habe. Sie könne sich «zum jetzigen Zeitpunkt (…) nicht an den genauen Tathergang erinnern». Zum Mord beim China­garten konnte sie nicht mehr genau sagen, wohin sie nach der Tat ging. Oder die versuchte Tötung der Buch­händlerin in der Kirchgasse: Sie gestand, widerrief, widerrief den Widerruf. Das Gericht erkannte im Urteil von 2001 zwar «Wider­sprüche in Neben­punkten» und «im Handlungs­ablauf», führte diese aber auf die seit den Taten vergangene Zeit und auf «Verdrängungs­prozesse» zurück.


Im Zuge meiner Recherchen hatte ich immer wieder von Zweifeln an der Glaubwürdigkeit der Geständnisse gehört: Caroline H. sei suggestiv befragt worden, sie habe kaum Details nennen können, bei einer Tatort­begehung beim China­garten habe sie die Polizisten zu einer falschen Stelle geführt.

Nur: Das waren Gerüchte.

Dagegen standen die Aussagen von Straf­verfolgern. Caroline H. habe bei den Einvernahmen eindeutig Täter­wissen offenbart: Sie wusste, mit welchen Waffen die Frau im China­garten getötet worden war; sie wusste, dass das Opfer im Urania-Parkhaus Absatz­schuhe trug und einen Autoschlüssel in der Hand hielt.

Der Gerichtspsychiater Andreas Frei sagte mir, sie habe ihre Täterschaft «eindeutig und unmiss­verständlich beschrieben, sodass ich nie auch nur den geringsten Zweifel hatte».

Auch der damalige Gerichts­präsident Pierre Martin zweifelte nicht, dass Caroline H. zwei Menschen getötet hatte. Sie habe den Ablauf der Morde genau geschildert, die Tatorte gekannt – «Dinge, die nur der Täter wissen konnte».

Die Untersuchung sei sehr sorgfältig geführt worden, sagte mir Richter Martin. «Es gab zahlreiche Befragungen über einen grossen Zeitraum hinweg. Sie hätte ja ein phänomenales Gedächtnis gehabt haben müssen, um über Jahre hinweg immer die gleiche Geschichte zu erzählen, ohne den roten Faden zu verlieren.»

Während des Mordprozesses im Dezember 2001 stellte sich für ihn eine andere Frage: warum die Staats­anwaltschaft Caroline H. nur der vorsätzlichen Tötung bezichtigte, nicht aber des Mordes. Der Unterschied in der strafrechtlichen Bewertung liegt darin, dass die Tat bei einem Mord besonders skrupellos sein muss. Richter Martin und seine Richter­kollegen entschieden: «Es war Mord.»


Während der Recherchen wurde mir ein Brief zugespielt. Es war die Kopie eines Schreibens, das eine anonyme Absenderin an Franz Ott verschickt hatte, den damaligen Verteidiger von Caroline H. Der Brief war undatiert, muss aber aufgrund des Inhalts nach der Verurteilung von Caroline H. geschrieben worden sein. Der anonymen Verfasserin, so heisst es darin, sei zu Ohren gekommen, dass das Verfahren «wegen neuer Beweis­mittel» einer Revision unterzogen werden sollte.

«Ich wende mich als ehemalige Mitarbeiterin der Justiz an Sie, um Ihnen einen Hinweis zu geben», heisst es in dem Schreiben voller Tippfehler. «In der Justiz und Polizei herrschte z.T. ein Unbnehagen bei der Anklage gegen die Frau. Es wurde zum Teil gemunkelt, das Geständnis sei erzwungen worden. Ich kann dies nicht näher beurteilen. (…) Ich möchte nur bez. den Mord im China Garten einen Hinweis geben betr. mögliche alternative Täterschaft.»

Es folgte eine Beschreibung von Umständen, die mir vertraut vorkamen. Es ging um einen «zurück­gewiesenen gewlattätigen Liebhaber», dessen Ex-Freundin in der Nähe des China­gartens gewohnt hatte. Der Brief nannte «gemäss Akten» Namen, Geburts­datum und Adresse des Mannes. «In der BA [Bezirks­anwaltschaft] wurde er als Verdächtiger ‹gehandelt›, da seine Gewalt­ausbrüche in jenen Taghe und Drohungen bekannt waren.»

Der Brief erzählte dieselbe Geschichte wie Hugentobler. Offensichtlich hatten hier zwei Personen denselben Verdacht, dass der wahre Mörder vom China­garten frei herumlaufe.

Es gab aber einen entscheidenden Unterschied.

Hugentobler sprach immer nur vom «Handwerker X» und wollte dessen Namen auf gar keinen Fall verraten. Im Brief war das anders. Da war nicht nur die Rede von einem anonymen «zurück­gewiesenen gewalt­tätigen Liebhaber». Der Brief nannte einen Namen.

Bildnachweis Coverillustration von Joan Wong: ullstein bild - RDB/Blick; Linda Graedel/Keystone

Warum wir über den Fall Caroline H. berichten

Warum über ein Verbrechen schreiben, das mehr als zwanzig Jahre zurückliegt? Warum in Kisten wühlen, die längst weggepackt wurden? Warum Antworten suchen, wo niemand eine Frage gestellt hat?

Ein Grund: Weil der Fall der sogenannten Parkhaus­mörderin in der Kriminal­geschichte einzigartig ist – eine Frau, die Frauen tötet. Zwei Menschen fallen der jungen Täterin zum Opfer, scheinbar grundlos und zufällig, mit Messern erstochen, zwischen den Taten liegen ein paar Jahre Abstand. Sie greift eine dritte Frau an, die überlebt nur knapp. Sie plant, sich an einem Mann zu rächen, der sie in einem Austausch­jahr erniedrigt habe. Sie legt Dutzende Brände. Kaum ein anderer Fall der jüngeren Kriminal­geschichte hat die Bevölkerung in der Schweiz derart bewegt. Gerade kürzlich, im Sommer 2019, strahlte das Schweizer Fernsehen SRF wieder einen Dokumentarfilm über «die Parkhausmörderin» aus.

Ein weiterer Grund: Der Mord im Urania-Parkhaus war nicht nur der Anlass für das wohl bekannteste und am häufigsten reproduzierte SVP-Sujet: das Messerstecher­plakat, auf dem eine Frau erstochen wird, verbunden mit dem Slogan «Das haben wir den Linken und den Netten zu verdanken». Der Parkhaus­mord hatte auch konkrete politische Folgen: Seither gibt es in Park­garagen sogenannte Frauenparkplätze.

Ein anderer Grund: Weil die verurteilte Täterin bis heute Rätsel aufgibt. Caroline H. ist eine Brand­stifterin, die zur Serien­mörderin wird. Aber ihren ersten Mord soll sie in Zürich bereits vor ihren grossen Brand­stiftungen begangen haben. Sie ist kaum volljährig, als sie das erste Mal getötet haben soll. Das Motiv für die Tötungs­delikte sei ihr Hass auf Frauen, sagt sie vor Gericht. Im Urania-Parkhaus habe sie das Klackern der Absatz­schuhe einer Frau aufgebracht. Beim China­garten habe sie eine Frau erschrecken wollen; das Töten sei die logische Folge davon gewesen. Sie stach zu. Warum?

Ein weiterer Grund: Weil es viele sonderbare Geschichten über Caroline H. gibt. Nicht alle sind wahr, aber einige merkwürdige Anekdoten sind zumindest in Justiz­unterlagen verbürgt.

Zum Beispiel soll Caroline H. während einer Therapie­sitzung einmal ihr Messer in die Fenster­bank gesteckt haben. Einmal ist sie unmittelbar nach der Therapie in den Dachstock eines Nachbar­hauses gestiegen und hat ein Feuer gelegt – ohne dass es jemand bemerkte. Sie war mit einem gefährlichen jungen Mann liiert, der später in den Medien als «Rütlibomber» bezeichnet wurde.

Mehrmals hat sie Wach­personal im Gefängnis und in der Psychiatrie angegriffen. Darum habe anfangs im Gefängnis nur speziell ausgebildetes Personal ihre Zelle betreten dürfen. Sie lebte über fünfzehn Jahre in Isolations­haft, in einem Hochsicherheits­trakt, der einst für Terroristinnen geplant und dann für sie umgebaut worden war. Ist Caroline H. die gefährlichste Frau der Schweiz?

Aber dann sagte während der Recherchen für diesen Text einer, der sie gut kannte: «Sie war wie ein Schluck Wasser.» Jemand anderes seufzte: «Ach, die Caroline …» Ein anderer: «Sie war eine Sonne. Aber wo Licht ist, ist auch Schatten.» – So reden Leute über eine Frau, die seit beinahe zwanzig Jahren als Mörderin eingesperrt ist. Wie kann das sein? Liessen sich die Leute, die so fürsorglich von ihr reden, um den Finger wickeln?

Die merkwürdigste Geschichte aber betrifft ihre Geständnisse: Caroline H. erzählte ihrer Therapeutin und den Polizisten, sie träume davon, Frauen zu töten. Dann gestand sie, diese Frauen tatsächlich getötet zu haben. Und widerrief die Taten später. Heute schweigt sie zu den Tötungsdelikten.

Noch ein Grund: Weil niemand in der Schweiz unter einem so harten Haftregime lebt wie Caroline H.: «Wie lebendig begraben», schrieb das «NZZ Folio» über sie. Caroline H. ist verwahrt, das heisst, sie bleibt auf unbestimmte Zeit weggesperrt. Im Frühling 2018 lehnte es das Bundesgericht ab, die Verwahrung von Caroline H. in eine stationäre Massnahme umzuwandeln: Eine delikt­orientierte Therapie sei nicht möglich. «Die Rechtslage ist eindeutig», schrieb das Bundes­gericht. «Im Entscheid­zeitpunkt besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass sich mit der stationären therapeutischen Massnahme die Gefahr weiterer Straftaten deutlich verringern lässt.»

Zwei Morde, mehrfacher versuchter Mord, über 50 Brand­stiftungen, einige Körper­verletzungen und mindere Delikte gelten seit dem Urteil des Ober­gerichts in Zürich im Dezember 2001 als aufgeklärt. Aber was ist, wenn das nur die juristische, die prozessuale Wahrheit über Caroline H. ist?

Das ist ebenfalls ein Grund, den Fall von Caroline H. neu aufzurollen, vielleicht sogar der wichtigste: Weil die Möglichkeit besteht, dass sie mindestens ein Tötungs­delikt gar nicht verübt hat, dass sie falsche Geständnisse ablegte, dass sie die Delikte später aus diesem Grund bestritt; weil der Verdacht besteht, dass jemand anderes hinter dem Mord beim China­garten steckt. Und weil das alles zwangsläufig zur Frage führt, ob Caroline H. überhaupt eine Mörderin ist.

Das ist der Bericht über meine Spurensuche.

Folge 3

Hu­gento­blers Theorie

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Folge 5

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