Serie «Die gefährlichste Frau der Schweiz?» – Folge 3

Hugentoblers Theorie

Caroline H. legte in einem früheren Verfahren ein falsches Geständnis ab. Der Informant lüftet sein Geheimnis. Und ein Anwalt bekommt kalte Füsse. «Die gefährlichste Frau der Schweiz?», Folge 3.

Von Carlos Hanimann (Text) und Joan Wong (Illustration), 07.11.2019

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Vorgelesen von Patrick Venetz
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Caroline H. hat in ihrer Jugend über 40 Brände gelegt. Daran gibt es keine Zweifel. Sie gestand umfassend und detailliert. Sie zeichnete der Polizei mit Kugel­schreiber auf gehäuseltem Papier auf, wie sie sich etwa einem Stall näherte und ihn mit Brand­beschleuniger anzündete. Sie sammelte in einem Ordner Zeitungs­berichte über ihre Brandstiftungen.

Deshalb wurde sie 1993 und 1994 zu einer mehrjährigen Zuchthaus­strafe verurteilt, nur mit Glück entging sie einer Verwahrung.

Nachdem sie aus der Haft entlassen worden war, legte sie wieder Feuer: über 50 Mal. Auch da gibt es keine Zweifel. Der Brand­ermittler, dem Caroline H. die Taten gestand, hat sie Dutzende Male einvernommen und die Tatorte mit ihr erkundet. Er fuhr mit ihr durch Zürich und liess sich zeigen, welche Gebäude und Schuppen sie angezündet hatte. Sie habe dabei detailliert beschrieben, wann, wo und wie sie diese Brände gelegt hatte, sagte mir der Polizist. «Das Ziel war immer, dass sie mich an die Örtlichkeiten heranführt. Das war ganz wichtig für die Beweisführung.»

Serie «Die gefährlichste Frau der Schweiz?»

Nur wenige Kriminalfälle in der Schweiz haben so viel Aufsehen erregt wie jener von Caroline H. 2001 wurde sie dafür verurteilt, in den 1990er-Jahren zwei Frauen getötet und eine Dritte schwer verletzt zu haben. Doch hat hat Caroline H. tatsächlich zweimal gemordet? Vier Jahre hat Republik-Reporter Carlos Hanimann zum Fall recherchiert. Zur Übersicht.

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Hu­gento­blers Theorie

Folge 4

Fantasie und Wirk­lich­keit

Folge 5

Handwerker X

Die Polizisten seien zu zweit durch die Stadt gefahren, durch kleine Quartier­strässchen. Und plötzlich habe Caroline H. «Stopp» gerufen. Hier sei irgendwas gewesen.

«Ich kannte die Akten nicht», sagte mir der Polizist. «Ich sah nur, da war ein neues oder saniertes Gebäude. Hinweise auf einen Brand waren keine zu sehen. Und Frau H. sagte dann: ‹Da hinten war ein Schopf, den habe ich angezündet.› Später holte ich die Akten und sah, dass die mit ihren Aussagen überein­stimmten. Das ist uns bei sehr vielen Fällen geglückt.»

Caroline H., die Brand­stifterin. Aber ist sie auch eine Mörderin?


Es gab die Zweifel von Hugentobler.

Es gab zwei Personen aus dem Justiz­bereich, die ebenfalls skeptisch waren.

Es gab einen Leserbrief in der NZZ aus dem Jahr 2002.

Es gab vereinzelt Aussagen in der Medien­bericht­erstattung zum Fall: Der Bruder des Opfers vom China­garten beispiels­weise sagte der «Schweizer Illustrierten», er zweifle, «ob Caroline H. wirklich die Täterin ist. Die beiden Mordfälle [im Urania-Parkhaus und beim China­garten] sind doch sehr verschieden.» Und Caroline H.’s ehemaliger Psychiater sagte der «Sonntags­Zeitung» über den Parkhaus­mord, er «zweifle, ob sie diesen Mord wirklich begangen hat. Von der Entwicklung her ist dieser Mord zu früh. Er passt einfach nicht rein.»

Und dann war da noch Caroline H. selber: Sie hat laut Gericht nach 2004 in der Therapie von ihren Geständnissen Abstand genommen.

Ich habe rund 1000 Seiten Untersuchungs­akten aus Caroline H.s erstem Gerichts­verfahren in Luzern eingesehen. (Die Einsicht in die Akten aus dem Mordprozess von 2001 wurde mir vom Obergericht Zürich und von Caroline H. verwehrt.) Was auffiel: Schon damals gab es vereinzelt Unklarheiten bei den Geständnissen. Caroline H. hatte teilweise nur vage Erinnerungen daran, wann und wo sie Brände gelegt hatte. Sie erklärte es damit, dass sie sich am Tatort schlecht ausgekannt habe oder dass sie ob der schieren Menge an Straf­taten schlicht den Überblick verloren habe.

Es gab aber auch einen Fall, wo sie eine Brand­stiftung gestand, die sie wohl gar nicht begangen hat. Zumindest zweifelten die Ermittlerinnen und Ermittler an ihren Aussagen. Und später auch das Obergericht Luzern.

Bei der Polizei hatte Caroline H. eine Brand­stiftung zunächst energisch bestritten, dann gestanden und am Ende wieder bestritten. Von der Polizei auf Wider­sprüche im Geständnis angesprochen, sagte sie bei einer Einvernahme: «Ich wüsste nicht, weshalb ich etwas zugeben sollte, was ich nicht begangen habe.»

Das Obergericht Luzern erklärte es so: Falsche Geständnisse seien «eine besonders häufige Fehler­quelle bei der Wahrheits­findung», eine Gefahr, der insbesondere «junge, alte oder labile Beschuldigte» ausgesetzt seien.

Caroline H. habe sich stets als «wenig bewunderte Einzel­gängerin» gefühlt und deshalb auffallen wollen. Die Brand­stiftungen hätten «zur Stärkung ihres Selbstwert­gefühls» geführt. Deshalb habe sie Artikel über ihre Brand­stiftungen gesammelt (nicht aber in diesem einen Fall). Es sei «möglich, dass sie sich selber als Täterin dieses Brandes bezeichnete, um ihr Selbstwert­gefühl zu stärken». Dem Gerichts­psychiater hatte Caroline H. gesagt, dass sie «Schwer­verbrecherin» werden wolle.

Das Obergericht sprach Caroline H. wegen Ungereimtheiten in ihrem Geständnis in diesem Punkt frei und schrieb im Urteil, «dass die Persönlichkeits­struktur der Angeklagten für eine Falsch­aussage geradezu prädestiniert» sei.

Erst gestehen, dann widerrufen – das tat Caroline H. auch bei den Tötungs­delikten in Zürich. War das ein Muster ihrer Persönlichkeit? Ein Hinweis darauf, dass sie vielleicht mindestens ein Tötungs­delikt gar nicht begangen hatte? Oder hatte ich mich zu sehr vom Verdacht eines Informanten einnehmen lassen? Bedeutete das alles am Ende gar nichts?

Ich musste mehr über die Ermittlungen gegen Caroline H. erfahren, über allfällige Momente des Zweifels. Ich brauchte Gerichts­akten, Gutachten, Zugang zu Personen, die direkt mit Caroline H. und der Straf­untersuchung zu tun hatten. Und natürlich zu Caroline H. selber.

Aber zuerst wollte ich noch einmal mit Hugentobler reden.


Ein heisser Sommer­nachmittag, stickige Luft, im Büro von Hugentobler herrscht an diesem Tag grosse Unordnung.

Dem Treffen sind einige Telefonate voraus­gegangen. Ich musste Hugentobler lange bitten, dass er mich noch einmal empfängt. Auch jetzt will er mir kein Interview auf Band geben. Er ist aber in seiner eigentümlichen Art bereit, mir zu diktieren, was er weiss.

Seit zwanzig Jahren sitzt Hugentobler auf einem Geheimnis und weiss nicht recht, wie er es lüften soll. Bei unserem letzten Treffen hat er mir eine Artikel­serie vorgeschlagen, in der er und sein Wissen nicht vorkommen sollten. Jetzt denkt er offenbar an das Leben nach dem Tod.

«Ich könnte Sie in meinem Testament erwähnen», sagt Hugentobler. Bei seinem Ableben würde er mir seine gesammelten Unter­lagen über den Fall von Caroline H. vermachen: verschriftlichte Erinnerungen, Zeitungs­artikel über die «Parkhaus­mörderin», ein paar Dokumente über den verdächtigen Handwerker – und einen Umschlag, den er vor zwanzig Jahren in seinem Keller versteckt habe. Der Inhalt: ein Zigaretten­stummel des Handwerkers, den er hinter dem Mord beim China­garten vermutete. Den habe er damals heimlich eingesteckt. «Eine DNA-Probe», sagt er.

Ich frage mich, ob ich das weitsichtig oder hilflos finden soll: Was soll der Zigaretten­stummel bringen? Doch Hugentobler will ihn mir ohnehin nicht überlassen. Erst wenn er stürbe. Ausserdem müsse er den Umschlag zuerst suchen. Und das würde eine Weile dauern. Wir kommen nicht weiter.

Hugentobler sitzt da wie der Kommissar in Friedrich Dürrenmatts «Das Versprechen» und wartet darauf, dass der wahre Mörder eines Tages doch noch auftaucht und sich seine Überzeugung in Wirklichkeit verwandelt.

Wir sitzen uns ein paar Stunden gegenüber. Er erzählt mir Details aus dem Leben des Handwerkers. Ich tippe mit. Wo er aufwuchs, wo er sich rumtrieb, mit welchen Leuten er verkehrte. Und dass er auch straffällig wurde – wegen Gewalt­delikten. Er diktiert mir, wann er den Handwerker traf, welchen Eindruck dieser hinterliess und warum er glaubt, dass der Mann der wahre Täter hinter dem Mord beim China­garten ist.

Die Details sollen an dieser Stelle nicht genannt werden. Denn: Was ist, wenn der Handwerker nur wütend war und fantasierte, wie er jemanden töten könnte – im Konjunktiv? Was ist, wenn er zu Unrecht verdächtigt wird? Was ist, wenn Hugentobler sich täuscht?

Hugentobler erzählt mir, dass er sich schon vor zwanzig Jahren einzelnen Leuten anvertraut und sie um Rat gebeten habe.

Er fragte einen Anwalt, ob er das Gespräch mit dem Handwerker der Polizei melden sollte. Der meinte: Nein, da sei überhaupt nichts bewiesen.

«Typisch Anwalt», sagt Hugentobler.

Er fragte einen angesehenen Psychiater, der den Handwerker sehr gut kannte. Der meinte: Hände weg von diesem Satan! Wenn er den melde, brauche er für den Rest seines Lebens Polizeischutz.

«Da habe ich Angst bekommen», sagt Hugentobler.

Am Schluss liess er sogar gegenüber einem Staats­anwalt durchblicken, dass der Handwerker als Täter für den Mord im China­garten infrage käme. Der meinte: Der Fall sei schon fast gelöst. Und fügte lapidar an: Aber der Handwerker sei «noch nicht ganz aus dem Schneider».

«Mehr wollte er nicht sagen. Aber den Ausdruck vergesse ich nie», sagt Hugentobler.


Dann berichtet mir Hugentobler von einer späteren, zufälligen Begegnung mit dem Handwerker. Dieser war aufgebracht, weil ihn die Polizei einvernommen hatte. Er habe eine DNA-Probe abgeben müssen – wegen eines Tötungsdelikts.

«Ich erinnere mich noch genau, dass er mir das erzählte und am Ende sagte: ‹Det bin ichs nöd gsi.›»

Ich sage Hugentobler, dass das nichts beweise.

«Ich weiss. Aber es ist mir geblieben. Und es zeigt, dass die Behörden ihn im Auge hatten. Ich hatte ja einen Staats­anwalt auf diese Möglichkeit hingewiesen.»

Hugentoblers Theorie geht so: Die Strafverfolger hätten den Handwerker als Mörder vom China­garten verdächtigt und ihn befragt. Aber weil es keine Spuren gab, keine Beweise, sei es aussichtslos gewesen, eine Straf­untersuchung gegen ihn zu eröffnen. Als dann Caroline H. von ihren blutigen Albträumen erzählte, sei das den Ermittlern gerade recht gewesen. Den Handwerker habe man schnell wieder aus dem Kreis der Verdächtigen ausgeschlossen.

Es gibt Hinweise, die Hugentoblers Theorie zumindest in Teilen stützen: zwei Justiz­dokumente, die mir im Laufe meiner Recherchen zugespielt wurden.

Erstens: In einem psychiatrischen Gutachten über den Handwerker heisst es, er sei Mitte Januar 1998 von der Polizei festgenommen worden – ein Jahr nach dem Mord beim China­garten. Der Grund: Die Polizei wollte ihn zu zwei ungeklärten Tötungs­delikten befragen. Der Handwerker sei allerdings noch am gleichen Tag wieder aus den Unter­suchungen ausgeschlossen worden. Das zeigt: Der Handwerker stand irgendwann – aus welchen Gründen auch immer und für kurze Zeit – tatsächlich wegen Tötungs­delikten im Fokus der Behörden.

Zweitens: Es gibt einen Brief des damaligen Verteidigers von Caroline H. mit einer Liste von «möglichen Tätern für den Seepark­mord». Er datiert vom 9. Juli 2003, eineinhalb Jahre nach dem Urteil. Hugentobler hatte dem Verteidiger von seinem Verdacht erzählt, dass allenfalls gar nicht Caroline H. die Mörderin vom China­garten sei, sondern der Handwerker. Er wollte dem Verteidiger aber auf keinen Fall dessen Namen nennen. Also einigten sich die beiden darauf, dass der Verteidiger eine Liste mit Verdächtigen aus den Ermittlungen schicke. Hugentobler sollte nur sagen, ob der Name des Handwerkers dabei sei.

Aber: Der Name stand nicht drauf.

Wie konnte das möglich sein, fragte sich Hugentobler, wenn er doch von der Polizei befragt worden war?

Hugentobler vermutet, dass die Polizei den Namen des Handwerkers aus den Akten verschwinden liess, um keine Zweifel an der Täterschaft von Caroline H. aufkommen zu lassen.

Ich halte das für eine abenteuerliche Theorie.

Dabei zeigt der Brief etwas ganz anderes: dass Hugentobler mit seinen Zweifeln nicht allein war. Denn warum sonst sollte der Anwalt von Caroline H. eineinhalb Jahre nach der Verurteilung seiner Klientin eine Liste verschicken mit möglichen alternativen Tätern aus den gleichen Ermittlungen?


Der damalige Anwalt von Caroline H. heisst Franz Ott. Er vertrat sie im Mordprozess von 2001. Ein paar Jahre später gab er sein Mandat ab. 2007 wurde Matthias Brunner vom Obergericht als amtlicher Verteidiger bestellt, ein Rechts­anwalt mit ausgezeichnetem Ruf als Strafrechtler und auch spezialisiert auf Fragen des Straf­vollzugs. Franz Ott befindet sich heute im Ruhestand.

Ich habe Ott ein erstes Mal im Sommer 2016 kontaktiert. Wir trafen uns mehrfach – zu vertraulichen Hintergrund­gesprächen und zu einem formellen Interview, auf Band aufgezeichnet.

Ott sah sich anfangs dazu befugt. Er war der Verteidiger von Caroline H. gewesen und hatte im Rahmen seines Mandats die Erlaubnis von ihr erhalten, den Medien Auskunft zu geben.

Caroline H. hatte er kennengelernt, als sie 1998 im Bezirks­gefängnis Zürich in Untersuchungs­haft sass und verschiedene Brand­stiftungen zugegeben hatte. Er nahm Caroline H. damals als eine einnehmende und sympathische junge Frau wahr. Gleichzeitig wurden ihr schwere Verbrechen zur Last gelegt: Brand­stiftungen, Körper­verletzungen – und zwei Tötungsdelikte.

Ich befragte Ott im Interview zu diesem Wider­spruch, wie er sich diesen erkläre und was ihm vom Fall in Erinnerung geblieben sei. Ich stellte ihm Fragen zur dünnen Beweis­lage, zum Fehlen von DNA, Finger­abdrücken oder anderen Spuren, zu den über ein Jahr dauernden Einvernahmen und zur damals üblichen Praxis, dass er als Verteidiger nicht anwesend war, als Caroline H. der Polizei erstmals ihre Taten gestand. Ich fragte ihn, ob sie ihm gegenüber die Geständnisse je widerrufen habe und ob er je Hinweise auf eine alternative Täterschaft erhalten hatte. Ich fragte ihn, warum er im Sommer 2003 einen Brief geschrieben hatte, in dem er der Frage nach «möglichen Tätern für den Seepark­mord» nachging.

Hatte auch Franz Ott Zweifel, dass Caroline H. eine Mörderin war?

Franz Ott beantwortete viele meiner Fragen – gestützt auf die frühere Entbindung von seinem Berufs­geheimnis. Doch dann, als er das Interview zum Gegen­lesen bekam, packten ihn Zweifel und er wollte sich noch einmal rückversichern: Müsste er vielleicht doch die Einwilligung von Caroline H. erneuern?

Er besprach sich mit seinem Nachfolger, dem Anwalt Matthias Brunner. Brunner liess ausrichten, seine Mandantin wolle nicht, dass Franz Ott sich äussere. Das Interview dürfe mit Verweis auf das Berufs­geheimnis «weder vollständig noch auszugsweise – auch nicht im Lauftext – publik gemacht werden».

Ich meldete mich nochmals bei Ott, in der Hoffnung, dass er mir wenigstens auf eine Frage antworten würde: warum er am 9. Juli 2003, eineinhalb Jahre nach der Verurteilung seiner Mandantin und ein Jahr bevor sie in der Therapie begann, ihre Geständnisse zu widerrufen, möglichen alternativen Tätern nachgespürt habe.

Ott antwortete: Seine frühere Mandantin wolle die geplante Bericht­erstattung nicht. «Ich nehme sämtliche dir gegenüber gemachten Äusserungen zurück», schrieb Ott. «Und erteile dir keinerlei Autorisierung zur Publikation zu diesen Äusserungen.»

Warum wir über den Fall Caroline H. berichten

Warum über ein Verbrechen schreiben, das mehr als zwanzig Jahre zurückliegt? Warum in Kisten wühlen, die längst weggepackt wurden? Warum Antworten suchen, wo niemand eine Frage gestellt hat?

Ein Grund: Weil der Fall der sogenannten Parkhaus­mörderin in der Kriminal­geschichte einzigartig ist – eine Frau, die Frauen tötet. Zwei Menschen fallen der jungen Täterin zum Opfer, scheinbar grundlos und zufällig, mit Messern erstochen, zwischen den Taten liegen ein paar Jahre Abstand. Sie greift eine dritte Frau an, die überlebt nur knapp. Sie plant, sich an einem Mann zu rächen, der sie in einem Austausch­jahr erniedrigt habe. Sie legt Dutzende Brände. Kaum ein anderer Fall der jüngeren Kriminal­geschichte hat die Bevölkerung in der Schweiz derart bewegt. Gerade kürzlich, im Sommer 2019, strahlte das Schweizer Fernsehen SRF wieder einen Dokumentarfilm über «die Parkhausmörderin» aus.

Ein weiterer Grund: Der Mord im Urania-Parkhaus war nicht nur der Anlass für das wohl bekannteste und am häufigsten reproduzierte SVP-Sujet: das Messerstecher­plakat, auf dem eine Frau erstochen wird, verbunden mit dem Slogan «Das haben wir den Linken und den Netten zu verdanken». Der Parkhaus­mord hatte auch konkrete politische Folgen: Seither gibt es in Parkgaragen sogenannte Frauenparkplätze.

Ein anderer Grund: Weil die verurteilte Täterin bis heute Rätsel aufgibt. Caroline H. ist eine Brand­stifterin, die zur Serien­mörderin wird. Aber ihren ersten Mord soll sie in Zürich bereits vor ihren grossen Brand­stiftungen begangen haben. Sie ist kaum volljährig, als sie das erste Mal getötet haben soll. Das Motiv für die Tötungs­delikte sei ihr Hass auf Frauen, sagt sie vor Gericht. Im Urania-Parkhaus habe sie das Klackern der Absatz­schuhe einer Frau aufgebracht. Beim China­garten habe sie eine Frau erschrecken wollen; das Töten sei die logische Folge davon gewesen. Sie stach zu. Warum?

Ein weiterer Grund: Weil es viele sonderbare Geschichten über Caroline H. gibt. Nicht alle sind wahr, aber einige merkwürdige Anekdoten sind zumindest in Justiz­unterlagen verbürgt.

Zum Beispiel soll Caroline H. während einer Therapie­sitzung einmal ihr Messer in die Fenster­bank gesteckt haben. Einmal ist sie unmittelbar nach der Therapie in den Dachstock eines Nachbar­hauses gestiegen und hat ein Feuer gelegt – ohne dass es jemand bemerkte. Sie war mit einem gefährlichen jungen Mann liiert, der später in den Medien als «Rütlibomber» bezeichnet wurde.

Mehrmals hat sie Wachpersonal im Gefängnis und in der Psychiatrie angegriffen. Darum habe anfangs im Gefängnis nur speziell ausgebildetes Personal ihre Zelle betreten dürfen. Sie lebte über fünfzehn Jahre in Isolationshaft, in einem Hochsicherheits­trakt, der einst für Terroristinnen geplant und dann für sie umgebaut worden war. Ist Caroline H. die gefährlichste Frau der Schweiz?

Aber dann sagte während der Recherchen für diesen Text einer, der sie gut kannte: «Sie war wie ein Schluck Wasser.» Jemand anderes seufzte: «Ach, die Caroline …» Ein anderer: «Sie war eine Sonne. Aber wo Licht ist, ist auch Schatten.» – So reden Leute über eine Frau, die seit beinahe zwanzig Jahren als Mörderin eingesperrt ist. Wie kann das sein? Liessen sich die Leute, die so fürsorglich von ihr reden, um den Finger wickeln?

Die merkwürdigste Geschichte aber betrifft ihre Geständnisse: Caroline H. erzählte ihrer Therapeutin und den Polizisten, sie träume davon, Frauen zu töten. Dann gestand sie, diese Frauen tatsächlich getötet zu haben. Und widerrief die Taten später. Heute schweigt sie zu den Tötungsdelikten.

Noch ein Grund: Weil niemand in der Schweiz unter einem so harten Haftregime lebt wie Caroline H.: «Wie lebendig begraben», schrieb das «NZZ Folio» über sie. Caroline H. ist verwahrt, das heisst, sie bleibt auf unbestimmte Zeit weggesperrt. Im Frühling 2018 lehnte es das Bundesgericht ab, die Verwahrung von Caroline H. in eine stationäre Massnahme umzuwandeln: Eine delikt­orientierte Therapie sei nicht möglich. «Die Rechtslage ist eindeutig», schrieb das Bundes­gericht. «Im Entscheid­zeitpunkt besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass sich mit der stationären therapeutischen Massnahme die Gefahr weiterer Straftaten deutlich verringern lässt.»

Zwei Morde, mehrfacher versuchter Mord, über 50 Brandstiftungen, einige Körper­verletzungen und mindere Delikte gelten seit dem Urteil des Obergerichts in Zürich im Dezember 2001 als aufgeklärt. Aber was ist, wenn das nur die juristische, die prozessuale Wahrheit über Caroline H. ist?

Das ist ebenfalls ein Grund, den Fall von Caroline H. neu aufzurollen, vielleicht sogar der wichtigste: Weil die Möglichkeit besteht, dass sie mindestens ein Tötungs­delikt gar nicht verübt hat, dass sie falsche Geständnisse ablegte, dass sie die Delikte später aus diesem Grund bestritt; weil der Verdacht besteht, dass jemand anderes hinter dem Mord beim China­garten steckt. Und weil das alles zwangsläufig zur Frage führt, ob Caroline H. überhaupt eine Mörderin ist.

Das ist der Bericht über meine Spurensuche.

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