Es gibt nur einen Rand – und der ist rechts
Erst Sachsen und Brandenburg, jetzt Thüringen. Seit Sonntag ist die AfD in drei ostdeutschen Bundesländern zweitstärkste Kraft. Eine Zäsur, nicht nur für die Politik im Osten. Was nun?
Eine Analyse von Matthias Quent, 29.10.2019
Die Wählerinnen im kleinen Freistaat Thüringen haben der Politik am vergangenen Sonntag eine beinahe unlösbare Aufgabe gegeben. Weder das amtierende Bündnis aus Linkspartei, SPD und Grünen noch eine bürgerliche Konstellation hat eine Mehrheit: Nicht einmal eine 4-Parteien-Koalition aus SPD, CDU, Grünen und FDP könnte in Thüringen regieren.
Grund dafür ist insbesondere das starke Abschneiden der AfD: 23,4 Prozent erreichte die rechtsradikale Partei und wurde somit zweitstärkste Kraft – wie schon bei den Wahlen in den Bundesländern Sachsen und Brandenburg.
Bereits mit den ersten Prognosen ist ein Deutungskampf darüber ausgebrochen, ob die Thüringer AfD dieses Ergebnis trotz oder wegen ihres Spitzenkandidaten Björn Höcke erzielte. Höcke steht selbst in der AfD rechts aussen. Seine Beliebtheitswerte sind mies, doch ein harter Kern bejubelt ihn wie einen Heilsbringer. Er provoziert mit Bezügen zum Nationalsozialismus und will um jeden Preis verhindern, dass sich seine Parteikollegen in das demokratische Establishment integrieren. Das Verwaltungsgericht Meiningen urteilte jüngst, man könne Höcke «auf einer überprüfbaren Tatsachengrundlage» als «Faschisten» bezeichnen. Für seine innerparteilichen Kritiker ist er ein Hindernis zu breiteren Wählerschichten und zu Koalitionsoptionen mit der CDU.
Doch Höcke steht nicht allein. In Brandenburg hat mit Andreas Kalbitz ein AfD-Spitzenkandidat, der sich einen Teil seines Lebens in Neonazikreisen bewegte, bei den Landtagswahlen vor wenigen Wochen 23,5 Prozent der abgegebenen Stimmen erreicht. In Sachsen erreichte die AfD sogar 27,5 Prozent. Ihr Spitzenkandidat Jörg Urban hatte sich für völkische Homogenität ausgesprochen – und dafür, das «derzeitige Regime» zum «Einsturz» zu bringen. All diese drei ostdeutschen AfD-Landesverbände sind dem völkisch-nationalistischen «Flügel» innerhalb der AfD zuzuordnen.
Was ist los im Osten der Bundesrepublik?
Eine Frage, die mich in mindestens dreifacher Hinsicht umtreibt: als Bürger; als Rechtsextremismus-Forscher und nicht zuletzt als jemand, der selbst in Ostdeutschland geboren wurde und noch immer dort lebt. Die Antwort, die ich im Folgenden geben will, besteht aus fünf Thesen.
Erstens: Die soziale Frage wird missbraucht
Auch die Republik hat zu Recht daran erinnert, dass sich Pauschalisierungen über «den Osten» verbieten. Denn so vielfältig das Leben im Osten Deutschlands ist, so unterschiedlich wird auch in einzelnen Regionen gewählt. Trotzdem gibt es in der Gesamttendenz eine massive Verschiebung der politischen Verhältnisse nach rechts, und wer diese erklären will, sollte auch jene Regionen in den Blick nehmen, in denen besonders wenige Menschen rechts wählen.
In Sachsen war die AfD dort besonders schwach, wo die sorbischen Katholikinnen stark vertreten sind, die stets CDU wählen. Das gilt auch im katholischen Eichsfeld in Thüringen – dem Wahlkreis von Höcke. Schon im 20. Jahrhundert haben Katholiken den Nationalsozialismus weniger stark unterstützt als andere Bevölkerungsgruppen. In Brandenburg ist das Ergebnis der AfD in der unmittelbaren Umgebung von Berlin deutlich schlechter: Das vielfältige politische und zivilgesellschaftliche Leben der Hauptstadt strahlt aus.
Das deutet bereits an: Lokale Gegebenheiten und Traditionen – man könnte auch schlicht «kulturelle Gepflogenheiten» sagen – spielen eine sehr viel grössere Rolle als häufig angenommen, wenn die Erklärung in aktuellen politischen Sachfragen oder gesellschaftlichen Grossthemen gesucht wird.
Bei den Bundestagswahlen 2017 zeigte sich in Ost wie West ein starker Zusammenhang zwischen dem Abschneiden der AfD und den Wahlergebnissen der Neonazipartei NPD 2013. Vormalige Erfolge der NPD haben eine gewisse Normalisierung des Rechtsradikalismus in der lokalen politischen Kultur bewirkt – und diese wirkt fort.
Sogenannte multivariate Analysen zeigen, dass dieser NPD-Effekt stärker ins Gewicht fällt als ökonomische Faktoren. Dasselbe lässt sich in Thüringen übrigens auch auf Gemeindeebene nachweisen. Ausserdem wird die AfD dort besonders stark gewählt, wo Gemeinden aussterben und wo durch Abwanderung ein Männerüberschuss entstanden ist.
Insgesamt zeigt sich in Ostdeutschland (wie in vielen westlichen Staaten): Die Erfolge der radikalen und populistischen Rechten sind keineswegs in erster Linie als Protest gegen materiellen Mangel zu erklären, sondern vor allem als reaktionärer Widerstand gegen kulturelle Veränderungen durch Globalisierung, Migration, wissenschaftliche Fortschritte und den Bedeutungsgewinn postmaterieller Werte.
Heisst das nun, die soziale Frage spielt allenfalls eine Nebenrolle?
Auch das wäre falsch. Die Alternative von sozialer Frage oder Identitätspolitik verkennt, dass das eine für das andere instrumentalisiert wird. Konkret: Seit dem Bucherfolg von Thilo Sarrazins «Deutschland schafft sich ab» werden in der Bundesrepublik soziale Konflikte zunehmend kulturalisiert. Das heisst, Probleme, die sich aus wirtschaftlicher Ungleichheit und einer Spar- und Wohnungsmarktpolitik ergeben, die Perspektivlosigkeit unter Jugendlichen oder soziale Brennpunkte hervorbringen, werden auf Sündenböcke projiziert – meist Migrantinnen, Muslime und Musliminnen oder – wie auf grellste Weise durch den Anschlag in Halle deutlich geworden – Jüdinnen und Juden.
Wir haben es also mit einer Ethnisierung sozialer Fragen zu tun, wie man sie auch in den Landeswahlprogrammen der AfD lesen kann. Ökonomische Ungerechtigkeiten werden nicht hinterfragt, sondern Frustrationen auf schwache Gesellschaftsgruppen umgeleitet. Dieser Rassismus ist keineswegs ein falscher Hilferuf der Schwächsten. Er schützt die Privilegien der relativ Starken.
Zweitens: Die Spaltung vertieft sich
«Hoffnung: Ostdeutschland. Gegner: Grüne» – so wurde im Sommer 2019 die politische Agenda von Götz Kubitschek, dem zentralen Ideengeber des neu erstarkten Rechtsradikalismus in Deutschland, auf dessen Website «Sezession» zusammengefasst. Damit sind die Konfliktlinien beschrieben.
Das Wahlverhalten überdurchschnittlich vieler Ostdeutscher bietet ein Einfallstor für einen globalen reaktionären Kulturkampf gegen Modernisierungsprozesse, derzeit vor allem in Einwanderungsfragen und im ökologischen Bereich verortet.
Bei der Europawahl im Mai 2019 konnten die Grünen in Westdeutschland 22,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, in Ostdeutschland 11,6 Prozent. Dagegen erreichte die AfD im Westen 8,8 Prozent, im Osten 21,1 Prozent der Stimmen. Millionen Menschen auf den Strassen zeigen, dass die Menschheitsfrage im 21. Jahrhundert die sozioökologische Frage sein wird.
Die AfD hat kürzlich Klimapolitik zu ihrem nächsten grossen Thema bestimmt und den antiökologischen Backlash ausgerufen. So erklärt sich die populistische und radikale Rechte nach ihrer Logik folgerichtig zum entschiedenen Verteidiger der bestehenden weltweiten Klimaungerechtigkeiten und der damit verbundenen Privilegien der Menschen in den Industriegesellschaften. Gerade in ländlich geprägten Regionen wie in Thüringen lassen sich Wählerstimmen gewinnen mit der Botschaft, dass nachhaltige Politik den Menschen Autos und Ölheizung wegnehmen oder massiv verteuern wird. Solange alltagstaugliche und sozial verträgliche Alternativen fehlen, können die Grünen hier nicht punkten. In Thüringen haben sie – entgegen dem Bundestrend – sogar an Stimmanteilen verloren.
Die Landtagswahlen markieren eine Zäsur in den ungleichzeitigen Entwicklungen zwischen Ost und West sowie zwischen Stadt und Land.
Ein Einschnitt sind die AfD-Wahlerfolge schon deshalb, weil sie erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik überhaupt die rechnerische Option zur Bildung konservativ-reaktionärer Koalitionen in Parlamenten auf Kommunal- und auf Landesebene bieten. Die Gefahr der Einbindung von Rechtsradikalen in Verantwortung (zum Beispiel mit dem Ziel, sie zu «entzaubern», oder um «Sachpolitik» zu betreiben) kann nicht nur die Suche nach Antworten auf existenzielle Herausforderungen wie Klimakrise, Digitalisierung und demografische Entwicklung lähmen. Sie könnte erstmals zur Rückabwicklung liberaler Fortschritte führen, beispielsweise in der Bildungs-, Wissenschafts-, Umwelt- und Gleichstellungspolitik. In Österreich ist das mit der Kollaboration zwischen ÖVP und FPÖ bereits geschehen. Überdies würde es zu einer Radikalisierung der Gegenkräfte führen und – dieses Mal nicht nur auf Youtube – zur «Zerstörung» der CDU, wie wir sie kennen.
Denn laut einer repräsentativen Umfrage in der Thüringer Bevölkerung würden 60 Prozent der CDU-Anhänger nicht mehr CDU wählen, wenn diese in Thüringen eine Regierungskoalition mit der AfD einginge. Die Konservativen stecken in der Zwickmühle, die durch friendly fire nur umso heikler wird: Schliesslich wird auch die rechtskonservative «Werteunion» innerhalb der Christdemokratie den parlamentarischen Rechtsruck im Osten für ihre Interessen nutzen. Vor allem ihr bekanntestes Mitglied, der frühere Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maassen, mischt im Wahlkampf mit und verwischt bei Twitter regelmässig mit reaktionärer Niedergangsrhetorik die Grenzen zwischen rechtskonservativ und rechtsaussen.
Drittens: Die AfD radikalisiert sich weiter
Ausgerechnet der frühere Geheimdienstchef Maassen betreibt damit das Geschäft, für das Götz Kubitschek und sein rechtsradikales Institut für Staatspolitik seit Jahrzehnten werben: die Grenzen zwischen moderatem Konservatismus und reaktionärem Extremismus einzureissen. Sie sind weit gekommen.
In der AfD hat sich der unter dem Einfluss von Kubitschek 2015 gegründete völkisch-nationalistische «Flügel» fest etabliert. Die Wahlerfolge des «Flügels» in Ostdeutschland im Herbst 2019 markieren eine neue Etappe eines derart massiven Rechtsrucks der AfD, dass es mittlerweile verharmlosend ist, sie als eine nur rechtspopulistische Partei zu begreifen.
Die offizielle Gründung des «Flügels», zwei Parteispaltungen, das gescheiterte Ausschlussverfahren gegen Höcke, zahllose verfassungsfeindliche Äusserungen von Spitzenpolitikerinnen, der Schulterschluss mit Neonazis, Hooligans und späteren Rechtsterroristen in Chemnitz 2018 waren Dammbrüche – ausgelöst durch ostdeutsche Rechtsaussen-Hardliner, die kontinuierlich ihren bundesweiten Einfluss ausgebaut haben. Mittlerweile unterstützt auch die AfD-Co-Vorsitzende und Wahlschweizerin Alice Weidel den intellektuellen Rechtsextremismus des eng mit der Identitären Bewegung verstrickten Instituts für Staatspolitik sowie den Höcke-Wahlkampf in Thüringen. Der AfD-Bundesverband und Westverbände unterstützen die Radikalen im Osten durch finanzielle und personelle Wahlkampfhilfen.
«Selbstverharmlosung» heisst das Konzept, das Götz Kubitschek im Jahr 2013 vorschlug. Ganz in diesem Sinne versucht die AfD, sich gleichzeitig als «bürgerlich-konservativ» zu tarnen – und den Durchmarsch der Rechtsradikalen in der AfD entweder zu tolerieren oder aktiv zu unterstützen.
Das führt auch dazu, dass sich die Selbstwahrnehmung der AfD-Wählerschaft immer stärker von der Wirklichkeit unterscheidet. Auch deshalb sind die Landtagswahlen im Herbst 2019 für die weitere politische Entwicklung in Deutschland so wichtig, obwohl die Bedeutung Ostdeutschlands bundesweit substanziell eigentlich gering ist – insgesamt leben dort weniger Wahlberechtigte als in Nordrhein-Westfalen. Die Entwicklung in den neuen Bundesländern aber hat symbolische Sprengkraft. Und die Rechtsaussen-Vordenker beziehen das in ihre Strategie mit ein.
Nach den Wahlerfolgen in Ostdeutschland ist zu erwarten, dass der «Flügel» mit den Bundesvorstandswahlen im Dezember 2019 auch im Parteivorstand prominent repräsentiert wird. Der Verfassungsschutz wird den «Flügel» und seine politischen Vorfeldorganisationen (insbesondere das rechtsradikale Institut für Staatspolitik, das Kampagnennetzwerk «Ein Prozent» und die Minigewerkschaft Zentrum Automobil) als rechtsextremistische Akteure unter Beobachtung stellen müssen. Eine Minderheit aus Funktionärs- und Wählerkreisen wird sich dann womöglich von der AfD lösen – die «Halben», wie Höcke sie nennt, und deren Weggang für ihn akzeptabel ist, um seine historisch-völkische Mission mit einer auf Linie gebrachten Gesamtpartei zu vollenden.
Es ist absehbar: Die AfD wird sich und ihre Wählerschaft immer weiter radikalisieren. Wer da keine deutliche Grenze zieht, ermöglicht, dass auch Diskurs, Gesellschaft und Politik nach rechts driften.
Viertens: Das Unvereinbare existiert gleichzeitig
Eine Umfrage im Auftrag der AfD zeigt, dass nicht einmal ein Drittel ihrer Wählerschaft sich von einer Beobachtung durch den Verfassungsschutz abschrecken lassen würde. Dazu passt, was eine Studie an unserem Institut ergeben hat: 71 Prozent der AfD-Unterstützer in Thüringen geben an, die Höcke-AfD sei «genau richtig» – nur 3 Prozent finden sie «viel zu rechts», 26 Prozent «etwas zu rechts». Die Zahlen widersprechen der gängigen Protestwahlthese. Zwei Drittel der AfD-Wählerschaft stehen politisch hinter dem rechtsradikalen Thüringer Landesverband.
Zum Gesamtbild gehört aber auch, dass die Mehrheit in Thüringen nicht nur nicht die AfD wählt, sondern die Partei ablehnt. Nur 29 Prozent sind der Meinung, die AfD sei «eine normale demokratische Partei».
Der Graben verläuft nicht zwischen AfD und Grünen, sondern zwischen rechtsradikaler Minderheit und demokratischer Mehrheit.
Das wird verschleiert, wenn von «Polarisierung» die Rede ist: In Wirklichkeit verläuft die Spaltung zwischen zwei sehr ungleich grossen Gruppen – und es gibt einen klaren demokratischen Schulterschluss gegen rechts aussen. Es hängt in den nächsten Monaten und Jahren vor allem von der CDU ab, ob das so bleibt.
Das Stichwort der Stunde lautet: «Ungleichzeitigkeit».
Der Begriff wurde ursprünglich vom Philosophen Ernst Bloch geprägt, und wie er ihn gebrauchte, ist auch für die Gegenwart noch erhellend. «Nicht alle», schrieb Bloch in «Erbschaft dieser Zeit», «sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äusserlich, dadurch, dass sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein.» Die kognitive Verweigerung von Teilen der Bevölkerung gegenüber Fortschritt und Rationalität und das Beharren auf überholten Vorstellungen war für den Philosophen Ernst Bloch ein Wesenszug der ungleichzeitigen Moderne, der den antimodernen Charakter des Nationalsozialismus in Deutschland für viele attraktiv machte.
Aufs Heute übertragen: Während viele Menschen vor allem in urbanen Milieus nach den Versprechen der Zukunft gieren und den Fortschritt vorantreiben, verfestigt rechtsradikale und zum Teil konservative Politik eine umfassende Zukunftsangst. Und diese ist offenbar gerade bei jungen Menschen verbreitet.
In Thüringen hat die AfD in allen Altersgruppen mit Ausnahme der über 60-Jährigen die meisten Stimmen geholt. Anders gesagt: Es sind die Wählerinnen und Wähler über 60, die einen Wahlsieg der AfD verhindert haben. Plötzlich erscheinen nicht mehr die «alten weissen Männer» als personifizierte Problembürger – jedenfalls nicht nur. Das aber bedeutet auch: Die Ungleichzeitigkeiten lassen sich nicht einfach mit der DDR-Sozialisation erklären, sondern auch aus dem, was danach kam, und aus Kontinuitäten, die nie durchbrochen wurden. Wie Bloch schrieb: «Kinder werden dem Muff nicht entzogen. Sie nehmen ihn weiter auf und leiden so lange, bis sie selber wie der Vater sind.»
Der Riss deutete sich bereits bei den Europawahlen an. Mit den drei ostdeutschen Landtagswahlen liegen die grossen politisch-kulturellen Ungleichzeitigkeiten offen zutage.
Während im wohlhabenden Westdeutschland die 1968er-Bewegung und ihr Gang durch die Institutionen das Land liberalisierte, feiert die liberale Demokratie in Ostdeutschland gerade erst den 30. Geburtstag – in Westdeutschland ist sie mehr als doppelt so alt. Kann es da überraschen, dass Teile der Bevölkerung an Vorstellungen und nostalgischen Verklärungen hängen, die mit der heutigen Realität wenig zu tun haben?
Solche Unterschiede im Wertesystem werden durch fortbestehende ökonomische Ungleichheiten verstärkt – und zugleich verschleiert. Erst die Pegida-Demonstrationen in Dresden machten ab 2014 einen öffentlichen Wertekonflikt sichtbar.
Bei Pegida schreibt man «Absaufen!», wenn von Fluchtbewegungen über das Mittelmeer die Rede ist. Menschenrechte werden bekämpft. Der Modernisierungskonflikt wird heute offen und stellvertretend für konkurrierende Wertesysteme vor allem in der Flüchtlings- und immer stärker in der Klimapolitik ausgetragen. Die Ungleichzeitigkeiten der politischen Kultur und bei der Anerkennung der Menschenrechte als Wesensmerkmal liberaler Demokratie verlaufen zwischen Stadt und Land, Nord und Süd, zwischen Gruppen, Familien, Bildungsmilieus und Generationen – immer nur als Tendenz und nie pauschal; aber doch mit signifikant unterschiedlichem Gesamtbild.
Fünftens: Es braucht neue Allianzen von Linke bis CDU
Mit der Beschleunigung der Lebenswelten und der Digitalisierung der Gesellschaft nehmen diese Ungleichzeitigkeiten überall zu. Sie sind die grösste Herausforderung unserer gegenwärtigen Demokratie.
Die Wahlen in Ostdeutschland und zuletzt Thüringen zeigen im Brennglas die politisch-kulturellen Herausforderungen unserer Zeit: Kulturalisierung sozialer Konflikte, gesellschaftliche Spaltung, Radikalisierung der Rechten. Und eine Verschiebung der politischen Verhältnisse bis zu dem Punkt, an dem keine klassischen Regierungsmehrheiten mehr möglich sind.
Das ist die eigentliche Zäsur, die dieser Wahlherbst markiert.
Weil die bereits erprobten Bündnisse keine Mehrheiten mehr garantieren, werden die demokratischen Parteien von Linkspartei bis CDU neue Wege aus den destruktiven Folgen der Ungleichzeitigkeit finden müssen. Den allermeisten Demokratinnen ist das bereits bewusst.
In Thüringen ist es dem amtierenden Ministerpräsidenten Bodo Ramelow mit seiner staatsmännischen, authentischen und integrativen Persönlichkeit gelungen, einen grossen Teil der Bevölkerung mitzunehmen und von sich zu überzeugen. Das bestätigt den Trend, dass im demokratischen Spektrum zunehmend Personen für die Wahlentscheidung ausschlaggebend sind – und erst in zweiter Linie die Partei.
Die Wahl in Thüringen unterstreicht aber auch, weit über das Bundesland hinaus, dass in Zukunft Politikerinnen und Politiker gefragt sind, die durch neuen Pragmatismus Verantwortung für die Zukunft übernehmen. Für die CDU heisst das: Sie muss mit der Linkspartei in Verhandlungen treten. Gleichzeitig müssen die Christdemokraten gerade auf dem Land sehr gut erklären, warum sich jeder Dialog mit der AfD verbietet. Vor allem muss die CDU ein weiteres, nicht mehr zeitgemässes Erbe über Bord werfen: die unsinnige Gleichsetzung von rechts und links.
Seit dem Kalten Krieg halten Konservative die Vorstellung aufrecht, dass Kräfte links und rechts der «bürgerlichen Mitte» gleichermassen problematisch für die Demokratie seien. Noch am Wahlabend wurden Politiker und Kommentatoren nicht müde zu behaupten, in Thüringen seien die «politischen Ränder» erstarkt – und meinten damit in einem Atemzug die rechtsradikale AfD um Björn Höcke und die regierende Linkspartei um Bodo Ramelow.
Aber mal abgesehen davon, dass Ramelow und seine Partei in Thüringen fern aller Extreme im Grunde gewöhnliche sozialdemokratische Politik gemacht haben: Die Rede von den politischen Rändern verharmlost ganz grundsätzlich die Gefahr durch den Rechtsradikalismus und verkennt den prinzipiellen Unterschied. Die radikale Rechte geht von der Ungleichwertigkeit von Menschen aus, die für sie durch den «aufgeblasenen Werteschaum» (Höcke) der Demokratie künstlich gleichgeschaltet würden. Dagegen geht die (radikale) Linke – in Übereinstimmung mit dem deutschen Grundgesetz – von der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen aus, die sie durch den Kapitalismus verletzt sieht.
Noch immer gilt: Die ganz grosse Mehrheit, auch in Ostdeutschland, hat nicht AfD gewählt. Deren klares Bekenntnis zur Demokratie und zu den Werten der Moderne gilt es politisch zu gestalten.
Matthias Quent, 1986 in Thüringen geboren, studierte Soziologie, Politikwissenschaft und Neuere Geschichte an der Universität Jena und der University of Leicester. Er ist Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena in Trägerschaft der Amadeu-Antonio-Stiftung. Im August erschien sein Sachbuch «Deutschland rechts aussen. Wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen können».