Immer. Wieder. Krise
Mauricio Macri wollte alles anders machen. Doch am Ende seiner Amtszeit steht Argentinien wieder am Nullpunkt. Warum die ewigen Crashs?
Von Andreas Fink, 25.10.2019
Als das Londoner Luxuskaufhaus Harrods am Anbruch des 20. Jahrhunderts überlegte, wo es seine erste Filiale in Übersee eröffnen wollte, fiel die Wahl nicht auf New York – sondern auf Buenos Aires.
Argentinien war damals das fünftreichste Land der Welt, mit einer Wirtschaft, die dynamischer wuchs als jene von Kanada, mit dem besten Bildungssystem der Region, mit Mineralien, Öl- und Gasvorkommen, mit Fischgründen und vor allem mit der immensen pampa húmeda, den reichhaltigsten Ackerbauböden der Welt.
Der Harrods-Palast an der Calle Florida wurde 1914 eingeweiht. 1998 wurde er wieder geschlossen. In seiner turmgekrönten Pracht kümmert er seither dahin. Argentiniens glorreiche Zukunft ist längst triste Vergangenheit.
Seit 1950 hat das Land durchschnittlich jedes dritte Jahr in der Rezession verbracht. Keine Volkswirtschaft in Südamerika ist so langsam gewachsen, keine Regierung hat öfter beim Internationalen Währungsfonds um Kredit gebeten, und kein Finanzsystem ging öfter pleite als das argentinische. Seit kurzem registrieren die Ratingagenturen einen Teil der Staatsschulden erneut als «teilweisen Bankrott».
Nun steckt das Land wieder mitten im Labyrinth – und muss entscheiden, wer es künftig regieren soll. Am kommenden Sonntag werden Parlament und Präsident gewählt.
Alles deutet darauf hin, dass die jetzige Regierung am 27. Oktober eine epochale Niederlage erleidet.
Auftakt: Mauricio Macri betritt die Bühne
Wenn er in den Spiegel schaut, erblickt Argentiniens Präsident ein fahles, faltenzerfurchtes Gesicht, darüber fast schlohweisses Haar. Die Fotos von damals, als ein dynamischer und ausgeruhter Stadtbürgermeister antrat, um die Wirtschaft für den Finanz- und Warenverkehr zu öffnen und um das Machtkartell der Peronisten auf dem Müllhaufen der Geschichte zu entsorgen, wirken heute wie jahrzehntealte Jugendaufnahmen.
Dabei sind die Fotos erst vier Jahre alt: Sie stammen von 2015.
Der 10. Dezember jenes Jahres war ein strahlender Frühsommertag. Über die ehrwürdige Plaza de Mayo, nur ein paar Blöcke vom Harrods-Palast gelegen, schallte eine populäre Cumbia. Auf dem Balkon des rosafarbenen Regierungspalastes tanzte der neue Staatschef. Er hatte, wie üblich am Tage der Amtseinführung, die Schärpe in den Landesfarben Himmelblau und Weiss übergestreift, und seine Anhänger skandierten: «Sí, se puede!» – Barack Obamas «Yes, we can!» auf Spanisch.
Zur Chronologie der Amtszeit von Mauricio Macri
Vom Hoffnungsträger zum Buhmann: Wir haben die Ära Macri im Detail und mit Grafiken aufgearbeitet – für alle, die es genau wissen wollen.
Im Wahlkampf hatte der Multimillionär, vormalige Unternehmer und Präsident des beliebtesten Fussballclubs Südamerikas, der Boca Juniors, versprochen, Argentinien aus seinem ewigen Krisenkreislauf zu führen und die wirtschaftliche Misere zu beenden, die unter Vorgängerin Cristina Kirchner gekommen war. Vier Jahre lang war das Land nicht gewachsen; sämtliche Reserven waren aufgebraucht, die Kreditmärkte versperrt.
All das sollte sich ändern. Und Argentinien zurück zum Erfolg finden.
Aufbruch: Der Neue will alles anders machen
Der Ökonom Ariel Coremberg lehrt an der Universität von Buenos Aires. Er wurde dieses Jahr 50 Jahre alt – und kann in einem Satz acht wirtschaftliche Desaster aufzählen, die er persönlich erlebt hat: «1975 der Rodrigazo, 1982 bis 1983 die Schuldenkrise und die Inflation, 1985 bis 1989 die Pläne Austral und Primavera, 1989 die Hyperinflation, 1995 die Tequila-Krise, 2001 der Staatsbankrott, 2014 Teilzahlungsausfall, 2018 bis 2019 die aktuelle Währungskrise.»
Mega-Abwertungen, Hyperinflation, Stabilisierungsprogramme, Staatsverschuldung und Zahlungsausfälle: Argentinien erlebt Finanzkrisen im selben Rhythmus wie andere Länder gewöhnliche Konjunkturdellen.
Für den Ökonomen Coremberg ist all dies nicht nur Forschungsgegenstand, sondern auch Teil der Familienbiografie. Sein Vater verlor 1995 alle Ersparnisse beim Crash eines Bankhauses, Ariel Coremberg selbst den gesamten Inhalt seines Girokontos.
Millionen ähnlicher Biografien fügen sich zu einem Kollektiv, das an nichts mehr glaubt: nicht an die Währung, nicht an das Finanzsystem und schon gar nicht an jene, die Entscheidungen im Land fällen.
Mauricio Macri war fest entschlossen, diesen Nihilismus zu beenden.
Mit seinem Notenbankchef Federico Sturzenegger – ein vormaliger Harvard-Professor mit Schweizer Wurzeln – verfolgte er eine Doppelstrategie.
Auf den Finanzmärkten sollte eine Schocktherapie einerseits Vertrauen wecken. Der schlagartige Fall aller Kapitalverkehrskontrollen sollte Investitionen anlocken, dank diesen sollte die Wirtschaft sukzessive wachsen. Das würde die Steuereinnahmen erhöhen und das Budgetdefizit schrittweise senken, ohne ein rüdes Sparprogramm.
Um nicht als hartherziger Rechtsregent dazustehen, wollte Macri den Reformprozess andererseits über mehrere Jahre strecken. Er sollte so den Rückhalt gewinnen, um bei den Parlamentswahlen 2017 die Mehrheiten zu erlangen, die ihm bislang fehlten, um profunde Reformen anzugehen. Finanziert werden sollte dieser «gradualismo» von den Finanzmärkten.
Überschwang: Die Märkte lieben den Präsidenten
Diese waren begeistert vom vormaligen Paria, nachdem Macri schnell jene Hedgefonds auszahlte, denen Vorgängerin Kirchner nicht mehr geben wollte als garstige Tiernamen. Nach der Einigung mit den «Geiern» investierten Anleger wieder Milliarden Dollars in das Land, das saftige Zinsen bezahlte, während die Zentralbanken in Europa und Nordamerika knauserten.
Anfang 2017 entfachten die Analysten der US-Bank Morgan Stanley ein regelrechtes Goldfieber. Innert fünf Jahren könnten argentinische Aktien, in Dollars gerechnet, um sagenhafte 258 Prozent steigen, weissagte das Bankhaus. Zum Höhepunkt der Raserei konnte Argentiniens Finanzminister sogar eine 100-Jahres-Anleihe loswerden.
Alles schien auf gutem Weg. Binnen einer Woche hatte Macri eines der bislang isoliertesten Finanzsysteme der Welt fast gänzlich geöffnet: Schon an seinem ersten Amtstag hatte er die Ausfuhrzölle für Soja gesenkt und jene für Weizen und Mais beseitigt. Noch in der ersten Woche hatte er die Devisenkontrollen beendet: Bürger und Firmen, die beim Finanzamt vier Jahre lang um Erlaubnis hatten ersuchen müssen, um ein paar hundert Dollar zu kaufen, konnten fortan ihre Pesos frei tauschen.
Argentinien atmete auf.
Endlich könnte Argentinien auf die sichere Spur finden – nach zahllosen gescheiterten Reformversuchen von Macris Vorgängern. Ähnlich wie der jetzige Staatschef hatten bereits der Party- und Privatisierungspräsident Carlos Saúl Menem in den 1990ern und zuvor der (zivile) Wirtschaftsminister der letzten Militärregierung, Jose Alfredo Martínez de Hoz, 1977 das Finanzsystem für internationale Investoren radikal geöffnet.
Die Experimente waren dem Land damals schlecht bekommen. Unter den Militärs liehen sich argentinische Spekulanten im Ausland Milliarden von Dollars, die sie umtauschten, in hochverzinste Peso-Anleihen steckten und, nach grossem Gewinn, wieder abzogen und ins Ausland transferierten.
An der Wallstreet heisst dieses Vorgehen carry trade. In Argentinien bicicleta financiera, angelehnt ans Velofahren: Wenn ein Pedal unten ist, ist das andere oben. Ein Pedal ist der Pesokurs, das andere der Dollar.
Es gibt Hunderte solcher Termini für den Umgang mit Dollars, die in der Mittelklasse gang und gäbe sind. Die Geldwechsler im Zentrum heissen arbolitos (Bäumchen), die illegalen Wechselstuben cuevas (Höhlen). Die Technik, Dollars zum offiziellen Kurs zu kaufen und dann zum Schwarzmarktkurs wieder zu verkaufen, heisst puré (Püree). Ein in diesen Tagen viel praktiziertes Manöver, bei dem Aktien in Pesos gekauft und dann in New York für Dollars verkauft werden, heisst rulito (das Löckchen). Und Dollars, die abseits vom offiziellen Finanzsystem gehalten werden, sind nicht etwa schwarz – der Paralleldollar heisst in Buenos Aires el dólar blu.
Der Wirtschaftsminister und Liberalisierer Martínez de Hoz musste 1981 zurücktreten, nachdem Argentinien an den Märkten in Ungnade gefallen war. Die folgende Abwertung des Peso brachte viele Firmen in die Klemme, die nun ihre Dollarkredite nicht mehr stemmen konnten. Der Staat musste ihnen zu Hilfe eilen. Die Auslandsschuld wuchs in jenen Jahren rapid.
Zu den Firmen, die Millionen verdienten und letztlich vom Staat gerettet wurden, gehörte auch der «Grupo Macri», das Konsortium des Vaters jenes Präsidenten, der vier Jahrzehnte später das Finanzsystem aufs Neue öffnen sollte – mit einem Wechselkurssystem, das der Wirtschaftsberater Rodolfo Santángelo kürzlich als «finanzpolitischen Ferrari» bezeichnete.
Ein Rennwagen notabene, der nicht auf der Autobahn, sondern auf löchrigen Vorstadtstrassen unterwegs war, so Santángelo.
Die Wende: Macris Bolide fährt gegen die Wand
Macris fiesta financiera ging zwei Jahre lang gut. Doch dann gaben dessen Minister eine «Rekalibrierung» des Inflationsziels bekannt. Statt wie bislang um 8 bis 12 Prozent sollten die Preise neu um bis zu 15 Prozent steigen dürfen.
Dass die neue Linie nicht im Gebäude der Zentralbank, sondern im Präsidentenpalast verkündet wurde, verstanden die Finanzmärkte als Hinweis auf die Entmachtung des Notenbankchefs Federico Sturzenegger. Er hatte als einziges Regierungsmitglied ernsthaft versucht, die Inflation in den Griff zu bekommen. An jenem Tag verlor Macri das Vertrauen der Investoren. Und der Peso begann an der Börse abzurutschen.
Im Frühjahr 2018 verschlimmerte sich die Lage. Damals begann Donald Trump den Handelskonflikt mit China. Gleichzeitig hob die US-Notenbank den Leitzins an. Viele Fonds reduzierten daraufhin ihre Positionen in Schwellenländern.
Aus zwei Märkten flohen sie jedoch regelrecht: der Türkei und Argentinien.
In beiden Ländern hatten sich die negativen Nachrichten aus Washington mit lokalen Problemen gemischt. In Argentinien waren das: ein deutliches Verfehlen der Inflationsziele, die schleppende Umsetzung von Reformen, eine von der Oppositionsmehrheit beschlossene Kapitalmarktsteuer und eine akute Dürre, welche die erwartete Ernte dezimierte.
Schlagartig verlor Macri seine Sponsoren. Zentralbankchef Sturzenegger versuchte verzweifelt, mit Dollarverkäufen den Peso zu stützen – aber das konnte nicht gelingen. Die totale Öffnung der Kapitalmärkte, die in den ersten zwei Jahren ruckzuck Milliarden an den Rio de la Plata gespült hatte, wurde nun zum Verhängnis. Genauso schnell, wie die Dollars gekommen waren, flossen sie nun wieder ab.
Für den Präsidenten war das brutal. Zwei Jahre lang hatte er die Staatschefs der Industrieländer empfangen und viele warme Worte geerntet. Wenige Wochen zuvor, auf der Frühjahrstagung des IWF, war Argentinien noch das Dornröschen, um das alle buhlten. Und die Wirtschaftspresse der Welt – vom «Economist» bis zur NZZ – hatte Macri für seinen gradualismo gepriesen.
Und nun? Ya fue, heisst es in den Texten vieler Tangos: schon vorbei.
An der Wallstreet, wo sich viele an Argentiniens schlechte Zahlungsmoral erinnerten, gingen Fondsmanager auf Nummer sicher. Sie liessen sich auch dann nicht zur Rückkehr bewegen, als Macri den Währungsfonds um Hilfe bat. Als er und die damalige IWF-Direktorin Christine Lagarde bekannt gaben, dass der Fonds 50 Milliarden Dollar für Argentinien bereitstellen werde, um den privaten Anlegern Sicherheit zu geben, beschleunigte sich die Flucht aus der Pampa zusätzlich.
Dass Macri die in seiner Heimat meistgehasste Institution überhaupt anrufen musste, wurde in der Finanzwelt als Verzweiflungsakt aufgefasst. Schnell war der Fonds nicht mehr Garant, sondern einziger Financier des gradualismo. «Es gab damals niemanden, der in den Reformprozess der Regierung investierte», sagte Lagarde der «Financial Times». «Und angesichts des Ausmasses der Herausforderung mussten wir gross einsteigen.»
Aber auch die Riesensumme von 50 Milliarden konnte die Märkte nicht beruhigen. Der Peso verfiel weiter. Nun musste Lagarde nochmals 7 Milliarden Dollar nachlegen. Und Macri den gradualismo begraben.
Ein Jahr vor den Wahlen blieb ihm nur die harte Tour: Steuern erhöhen, Sozial- und Bauprogramme reduzieren – und akzeptieren, dass die Zentralbank mit enormen Zinssätzen versuchte, Anleger im Argentinischen Peso zu halten.
Wollte Macri bei den nächsten Wahlen noch eine kleine Chance haben, so musste er seine ganze Politik einem einzigen Ziel unterordnen: Der Dollar durfte nicht weiter steigen.
Flashback: Der Fluch der fremden Währung
Für Argentiniens Politiker gibt es keinen wichtigeren Kurs als jenen der US-Währung. Denn seit Jahrzehnten sichern die Bürger ihren Besitz in Dollars.
Immobilien wechseln nur gegen grüne Scheine den Besitzer, weite Teile der Wirtschaft kalkulieren auf Dollarbasis. Die Preise für Glas, Metall und Kunststoffe richten sich ebenso nach dem Dollarkurs wie jene von exportfähigen Grundstoffen wie etwa Weizen. Wann immer der Peso nachlässt, erhöhen die Mühlen die Preise fürs Mehl – und die Bäcker geben die Erhöhung dann weiter. Argentinien braucht Dollars für den Schuldendienst und für die Industrie: Von der Autofabrik bis zum Elektronikhersteller sind viele Betriebe auf importierte Komponenten angewiesen. Und folglich auf harte Devisen, um die Ware zu bezahlen.
Der Dollar ist eine nationale Obsession – und zwar seit den 1950er-Jahren.
Um seine generöse Infrastruktur- und Sozialpolitik nach den Kriegsjahren fortzusetzen, hatte der Volkspräsident Juan Domingo Perón damals die Notenpresse rotieren lassen. Um sich gegen die rasant steigenden Preise abzusichern, begann die Mittelklasse ihrerseits, Dollarnoten zu kaufen.
An beiden Praktiken hat sich seither wenig geändert.
Es ist die Reaktion der Bürger auf die Korruption der Politiker, die Ineffizienz des aufgeblähten Staatsapparats, die millionenschweren Gewerkschaftsbosse und die ständig nach Protektion wimmernden Unternehmer. In einem Staat, an den niemand mehr glaubt, horten die Sparer ihre Habe ausserhalb des Finanzsystems – in Bankschliessfächern, auf Konten in Uruguay oder in Mauern, Garten oder Wassertanks. Jedes Jahr bekommt die US-Notenbank Millionen angeschimmelte Scheine aus Argentinien zum Austausch.
Weil die Argentinier ihr Geld nicht den Banken anvertrauen, können diese den Staat nicht finanzieren. Darum müssen sich die Regierenden dauernd in Fremdwährungen finanzieren. «Das ist ein Schlüsselproblem des Landes», sagt Gabriel Torres, Chefanalyst der Ratingagentur Moody’s in Buenos Aires.
Der Kollaps: Macri verliert allen Rückhalt
Mauricio Macris totale Fixierung auf den Dollarkurs kam Argentinien teuer zu stehen.
Die Industrie litt immer stärker, vor allem die hohen Zinssätze erwürgten viele Unternehmen. 20’000 Klein- und Mittelbetriebe mussten zusperren, Hunderttausende Arbeitsplätze gingen verloren, viele Menschen rutschten unter das Existenzminimum.
In seiner ersten Ansprache als gewählter Präsident hatte Macri als Ziel «Armut null» ausgegeben und gebeten, man möge ihn vier Jahre später an diesen Worten bewerten. Die aktuelle Statistik besagt: 53 Prozent der Kinder unter 14 Jahren sind arm. Argentiniens Präsident ist nicht nur als Reformer und Stabilisator gescheitert – sondern auch als Sozialpolitiker. Seine Amtszeit hat für gewöhnliche Leute nichts Zählbares gebracht.
Im Wahlkampf hatte Macri versprochen, die Inflation, das chronische Leiden seit neun Jahrzehnten, binnen weniger Monate in den Griff zu bekommen. Inzwischen ist die Teuerungsrate von 20 auf über 50 Prozent gestiegen. Die Staatsschuld ist hochgeschnellt, und die Kapitalverkehrskontrollen sind längst wieder eingeführt.
Ein Déjà-vu für die Argentinier, nur schlimmer.
Macris Herkunft – er ist der erste Sohn eines aus Kalabrien eingewanderten Selfmademan, der dank Staatsaufträgen zum Milliardär wurde – hatte ihm den Zugang zur internationalen Wirtschaftselite erleichtert. Doch daheim war er wegen seines Image als pibe de oro, als «Goldbubi», schon immer angreifbar gewesen. Jetzt, in der erneuten Krise, begannen die Ränge der Fussballstadien den Präsidenten sogar als «Hurensohn» zu besingen.
Zum Verhängnis wurden dem einstigen Hoffnungsträger sein übertriebener, wohl auch naiver Optimismus und seine bisweilen elitäre Entrücktheit.
Symptomatisch dafür waren die Tumulte gewesen, als Macris Regierung eine Rentenreform vorlegen wollte. Die Sitzung im Kongress fand schliesslich nicht statt, aber die Repression davor schon. Es gab Verletzte und Festnahmen, danach gingen wütende Bürger auf die Strasse. Vielen Leuten aus der Mittelklasse war wegen der steigenden Strom-, Gas-, Wasser- und Benzinpreise der Kragen geplatzt: Zuvor hatten zwei Monate Strom dank grosszügiger Subventionen nicht mehr gekostet als eine Pizza an der Ecke. Macris Kabinett von Millionären hatte völlig unterschätzt, wie stark die Abschaffung der Subventionen die einfachen Bürger traf.
Fehler waren auch Macris Weigerung, parlamentarische Kompromisse mit Teilen der Opposition zu suchen, und sein stures Beharren auf seinem Kurs, auch als Geldgeber absprangen. Sein gradualismo brachte kaum Reformen hervor, schuf aber ein Schuldenproblem. Liberale Ökonomen verspotteten seine Stufenstrategie deshalb bald als «Populismus mit guten Manieren».
Nun werfen ihm diese Kreise vor, nicht gleich zu Anfang einen Kassensturz gemacht und ein drastisches Sparprogramm aufgelegt zu haben, als seine Sympathiewerte noch intakt waren.
Aber dazu wollte sich Macri nicht durchringen, weil er zumindest diesen Teil der Landesgeschichte kannte: Seit den 1950er-Jahren haben die politischen Erben von Juan Domingo Perón keinen nicht peronistischen Präsidenten bis ans Ende regieren lassen. Wer es in Argentinien mit Austerität probierte, wurde früher oder später aus dem Amt gejagt.
Finale: Der nächste Populist steht bereit
Das vorzeitige Aus als Präsident hat Macri zwar vermieden. Doch das Gespenst des Peronismus hat auch ihn eingeholt. In Form einer Volksmeinung, die nur Politiker goutiert, die viel Geld ausgeben.
So, wie es Néstor und Cristina Kirchner gemacht hatten. In den zwölf Jahren der «Ära K» haben sich die Staatsausgaben im Vergleich zum BIP nahezu verdoppelt. Vier Millionen Bürgern, die kaum Beiträge geleistet hatten, wurde eine staatliche Pension zugesprochen. Der Staat schuf Stellen und bezahlte die Löhne teils mit der Notenpresse, teils mit dem Ersparten. Cristina Kirchner schaffte es so, den Erlös des grössten Rohstoffbooms in der Landesgeschichte durchzubringen.
Die Ex-Präsidentin hinterliess einen bankrotten Staat, in dem sämtliche vitalen Statistiken obendrein gefälscht waren. Trotzdem wird sie von der Bevölkerung verehrt wie Evita – die legendäre, nicht weniger spendierfreudige Gattin des grossen Generals Juan Domingo Perón.
Nun könnte ebenjene Cristina Kirchner an die Staatsspitze zurückkehren.
In einer virtuosen Rochade ernannte sie im Mai den einstigen Kabinettschef ihres Mannes, Alberto Fernández, zum Präsidentschaftskandidaten. Und sich selbst zur Anwärterin auf die Vizepräsidentschaft. Der gemässigte und umgängliche Fernández, der mit vielen Kreisen Umgang pflegt, die Kirchner verachten, sollte die Macri-müde Mittelklasse motivieren und die Provinzgouverneure in ein Bündnis gegen den Präsidenten holen.
Der Plan ging auf: In den Vorwahlen am 11. August erhielt Fernández 17 Prozent mehr Stimmen als der Amtsinhaber, was die argentinische Börse ebenso abstürzen liess wie Macris Hoffnungen auf eine Wiederwahl.
Nun tritt Alberto Fernández bereits wie der sichere Sieger des 27. Oktober auf: Unternehmer, Gewerkschafter, IWF und Weltbank stehen Schlange vor dessen Wahlkampfzentrale im malerischen Altstadtviertel San Telmo.
Die Besucher stellen die gleichen Fragen: Wer regiert künftig – er oder sie? Ergreift Kirchner die Macht, wenn Fernández’ Verhandlungen mit den Gläubigern scheitern? Kann dieser die Gewerkschaften zum Lohnverzicht überreden, um die Inflationsspirale zu bremsen? Woher kommen die vielen Dollars, die das Land braucht, um nach acht Jahren wieder zu wachsen? Und wie soll eine Welt helfen, die an allen Ecken und Enden kriselt?
Fernández, Anwalt und seit Jahrzehnten wortgewandter Strippenzieher in den Couloirs der Macht, gibt allen Fragern freundliche Antworten. Aber keine davon ist deutlich.
«Wir werden wieder aufstehen», wirbt Fernández. «Wir sind Argentinien!»
Epilog: Schlafender Reichtum
Der Reichtum, der einst die Chefs von Harrods nach Buenos Aires lockte – er existiert noch immer. Vor allem im Agrarbereich: Fünfmal so viele Lebensmittel wie heute könnte allein China in Argentinien einkaufen. Unter der Patagonischen Steppe liegen die zweitgrössten Schiefergasvorkommen der Erde, und in den Salzseen der Anden lagert das wertvolle Lithium: ein Stoff, der in Batterien von Millionen Elektroautos verbaut werden könnte.
Die Argentinier haben zudem zwischen 300 und 400 Milliarden Dollar ausserhalb des Finanzsystems gebunkert: fast ein gesamtes Bruttoinlandprodukt, das investiert werden könnte, wenn die Politik solide und verlässliche Grundlagen schaffen, die enormen Lohnnebenkosten reduzieren und das babylonische Dickicht von 163 verschiedenen Steuertypen lichten könnte.
Dafür bräuchte es aber einen nationalen Schulterschluss: zwischen Gewerkschaften, Industriellen, Agrarproduzenten, der katholischen Kirche und sozialen Wohlfahrtsgruppen. Wenn das gelingen sollte, dann dürften auch die Gläubiger geduldiger werden.
Wenn nicht, dann droht Argentinien die nächste Krise. Wieder einmal.