Chronik: Vier glücklose Jahre in Argentinien
Die Amtszeit von Präsident Mauricio Macri in der zeitlichen Übersicht: mit allen wichtigen Ereignissen und Grafiken, die erklären, wie Argentinien an den jetzigen Punkt gekommen ist.
Von Andreas Fink, 25.10.2019
Argentinien ist eine Wissenschaft für sich. Zahlreiche Krisen hat das Land bereits durchgemacht, unzählige wirtschaftliche Rezepte ausprobiert, immer wieder Stabilisierungsprogramme über sich ergehen lassen müssen. Auch unter Präsident Mauricio Macri kam es jüngst zu einem Einbruch: Wie dieser sich in die Geschichte einfügt, lesen Sie in unserer historischen Einordnung.
Die nächste Entscheidung steht am 27. Oktober an. Dann wählt Argentinien einen neuen Präsidenten. Voraussichtlich muss der Amtsinhaber seinen Stuhl räumen und der Opposition Platz machen. Wird damit alles anders in Argentinien? Oder droht ein weiterer Rückfall in vergangene Zeiten? Um zu verstehen, an welchem Punkt das Land steht, muss man die politischen und wirtschaftlichen Kräfte kennen, die in den letzten vier Jahren gewirkt haben.
Wir zeigen sie anhand einer detaillierten Chronik der Präsidentschaft Macri.
22. November 2015
In der Stichwahl um das Präsidentenamt stimmen 13 Millionen Argentinier für Mauricio Macri, den Kandidaten von Cambiemos («Für den Wandel»). Zu dem Bündnis gehören Macris rechtsliberale Partei Propuesta Republicana (PRO), die sozialdemokratische Unión Cívica Radical und die freisinnige Coalición Cívica. Macri setzt sich mit 51,3 Prozent durch gegen Daniel Scioli, der 48,7 Prozent erringt. Der vormalige Gouverneur der Provinz Buenos Aires ist für die Frente para la Victoria («Siegesfront») angetreten, weil deren Anführerin Cristina Fernández de Kirchner nach zwei Amtszeiten nicht erneut kandidieren darf.
Scioli lag im ersten Wahlgang noch vor Macri. Weil damals auch der Grossteil der Sitze im Kongress und im Senat vergeben wurde, hat Macri dort keine Mehrheit. Er muss fortan mit einem Parlament regieren, das seine Reformen teils mitmacht, zumeist aber im Gegengeschäft für Finanztransfers an die Provinzgouverneure. Oft blockieren Parlamentarier seine Vorhaben, teils zwingen sie Macri Gesetze auf. Am Ende ist das Klima so vergiftet, dass der Kongress während des ganzen Jahres 2019 nur noch zweimal tagt.
10. Dezember 2015
Der traditionelle Stabwechsel, bei dem der scheidende Präsident seinem Nachfolger die Amtsschärpe überstreift, kann nicht stattfinden, weil Cristina Kirchner nicht an dem Zeremoniell im Präsidentenpalast teilnehmen will. Mauricio Macri bekommt die Amtsinsignien darum vom Vizepräsidenten des Senats ausgehändigt. Die Blockade hatte ihr Vorspiel in den Ministerien, die sich nach Macris Wahlsieg weigerten, Daten und Archive den neuen Verantwortlichen zu übergeben. Einige Amtsbereiche, etwa der Geheimdienst AFI, melden später, dass erhebliche Datenbestände vernichtet sowie sensible Technologie entwendet worden sei. Weil auch das nationale Statistikamt Indec seit dessen «Eroberung» durch Kirchner-treue Rowdys im Februar 2007 keine verlässliche Zahlenbasis bereitstellen kann, übernimmt die Regierung Macri ein unbekanntes Erbe.
Erst mit der Zeit kommen die realen Werte zusammen: Kirchner, die sich am letzten Amtstag vor einer halben Million Anhängern verabschiedete, hinterliess ein Budgetdefizit von 7 Prozent, eine Armutsquote von fast 29 Prozent, einen aufgeblähten Staat, der 43 Prozent des BIP verschlingt, sowie Währungsreserven, die niedriger waren als die Schulden der Zentralbank.
14. Dezember 2015
In Pergamino, einer Kleinstadt inmitten der fruchtbaren pampa húmeda, setzt Macri eines seiner zentralen Wahlversprechen um: Am ersten Amtstag verkündet er die Abschaffung der Ausfuhrzölle für Mais, Weizen, Fleisch, Wein und alle weiteren Agrarprodukte – bis auf jene für Soja. Weil dieses billiger zu produzieren war, hatten die Farmer zuletzt praktisch nur noch Soja gepflanzt – fast zu 100 Prozent genverändert und mit permanentem Einsatz von Glyphosat. Weil Sojakulturen weniger Wasser brauchen als andere Ackerfrüchte, stiegen in der Pampa die Grundwasserspiegel stark an. Heute reicht ein gewöhnlicher Regen, um weite Teile des flachen Terrains zu fluten.
Die Befreiung von Exportabgaben lässt den Weizenanbau zurückkehren (auch hier wird vorwiegend genveränderte Saat verwendet). Die Schattenseite davon: Weil alle Produkte nun unbeschränkt ausgeführt werden können, müssen die Argentinier Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel zahlen. In Macris erstem Amtsjahr steigen die Lebensmittelpreise um über 33 Prozent.
15./16. Dezember 2015
Finanzminister Alfonso Prat-Gay verkündet das Ende der Devisenkontrollen. Bürger und Firmen können nun schlagartig bis zu 2 Millionen Dollar pro Monat kaufen. Kurze Zeit später wird auch dieses Limit abgeschafft. Die damit verbundene Freigabe des Wechselkurses führt zu einer Abwertung des Argentinischen Peso. Der Dollar springt von 9,85 auf 14,20 Peso.
Kurz darauf präsentieren Prat-Gay und Zentralbankchef Federico Sturzenegger Inflationsziele für die nächsten vier Jahre. Eine ambitionierte Strategie, die zuvor Länder wie Neuseeland angewandt hatten, um den Preisanstieg in den Griff zu bekommen. Bis 2019 soll die jährliche Teuerung in Argentinien von über 30 auf 4,1 Prozent sinken. Der Peso-Wechselkurs soll frei floaten. Binnen einer Woche wird so eines der bislang isoliertesten Finanzsysteme der Welt fast gänzlich für den Kapitalverkehr geöffnet.
31. März 2016
Der Senat nimmt, wie auch schon zuvor die Abgeordnetenkammer, den Kompromiss mit den wichtigsten Hedgefonds an, den der argentinische Finanzstaatssekretär Luis Caputo in den USA ausgehandelt hat. Der Deal verpflichtet Argentinien zur Zahlung von 9,3 Milliarden Dollar an «Geier-Fonds» und weitere Gläubiger. Aber er öffnet dem Land den Zugang zu den Kreditmärkten, die nach gut verzinsten Anlagen dürsten. Im April kann das Land 16,5 Milliarden Dollar aufnehmen. Das reicht für die Auszahlung der Fonds und markiert den Beginn einer rasanten Schuldenaufnahme.
Die Einigung mit den Hedgefonds wird nicht von allen Seiten begrüsst. Joseph Stiglitz, der nobelpreisgekrönte Ökonom, schreibt: «Diese Resolution wird einen hohen Preis für das internationale Finanzsystem haben.» Künftige Umschuldungen würden dadurch praktisch unmöglich.
4. April 2017
Finanzminister Nicolás Dujovne und der Chef der Steuerbehörde Alberto Abad geben die erfolgreichste Steueramnestie der Weltfinanzgeschichte bekannt: Firmen und Private deklarieren Vermögen von über 117 Milliarden Dollar, das bisher vor den Finanzbehörden versteckt gehalten wurde. Ein erheblicher Teil davon befindet sich im Ausland, auf Konten oder in Immobilien. Die Auskunftsfreude unterstützt hat der neue, automatische Austausch von Bankdaten. Allerdings wird vermutet, dass Argentinier immer noch ein Vielfaches der deklarierten Summe versteckt halten – vor allem in den USA, die beim Informationsaustausch zögerlicher agieren.
28. Juni 2017
Finanzstaatssekretär Luis Caputo gibt die Ausgabe einer Anleihe bis 2117 bekannt. 2,75 Milliarden Dollar kann das Land trotz seiner berüchtigten Schuldenhistorie auf 100 Jahre aufnehmen. Das Papier ist mit einem für internationale Anleger attraktiv klingenden Nominalzins von 7,125 Prozent belegt und wird mehrfach überzeichnet.
22. Oktober 2017
Die Parlamentswahlen, bei denen ein Teil der Sitze im Kongress und im Senat neu besetzt wird, sehen die Regierungskoalition Cambiemos als klaren Sieger. Mit 41,8 Prozent aller Stimmen ist Macris Bündnis die mit Abstand meistgewählte Fraktion. Das liegt auch daran, dass das peronistische Lager in mehrere Flügel zerfallen ist. Der grösste – Unidad Ciudadana – steht hinter Cristina Kirchner, die an diesem Sonntag zur Senatorin gewählt wird.
Dieser Posten wird sie in den folgenden Monaten vor dem Gefängnis bewahren, denn mehrere Gerichte aktivieren die Ermittlungen gegen die ehemalige Staatspräsidentin, in denen es zumeist um Korruption geht. Mehr als 80 Funktionäre und Strohleute des Kirchner-Systems werden in Untersuchungshaft genommen; manche davon, wie Kirchners Vizepräsident Amado Boudou, sind inzwischen rechtskräftig verurteilt.
28. Dezember 2017
Kabinettschef Marcos Peña sowie die für Haushalt und Staatsfinanzen zuständigen Minister Nicolás Dujovne und Luis Caputo geben ein neues Inflationsziel bekannt. Die Preise sollen statt wie bislang um 8 bis 12 Prozent neu um bis zu 15 Prozent steigen dürfen. Ein Zielwert, der sich bald als unrealistisch tief herausstellen sollte. Das Vertrauen in die argentinische Zentralbank und deren Fähigkeit, den Peso zu kontrollieren, schwindet. Argentiniens Währung verliert in den folgenden Monaten an Wert.
24. April 2018
Die US-Notenbank strafft ihre Geldpolitik weiter, gleichzeitig heizt Donald Trump den Handelskonflikt mit China an. Viele Finanzinvestoren verringern deshalb ihre Anteile in Schwellenländern. In Argentinien reagieren die Anleger besonders schnell: Der Peso verliert in einer Woche 8 Prozent gegenüber dem Dollar. Die argentinische Zentralbank verkauft so viele Dollarreserven wie nie zuvor, um den Crash abzubremsen. Auch der Leitzins wird innerhalb kurzer Zeit auf zunächst 40 Prozent erhöht.
8. Mai 2018
Am Morgen dieses Dienstags tritt Macri ohne Vorankündigung im Fernsehen auf und sagt: «Ich habe mich entschieden, den Internationalen Währungsfonds um Unterstützung zu bitten.» Weil die Zeit drängt, nutzt Macri seine persönliche Freundschaft mit Donald Trump – die zwei hatten in den 1980er-Jahren gemeinsam einen Multimillionen-Immobiliendeal in Manhattan abgewickelt –, um eine hohe Summe schnell bewilligt zu bekommen. Binnen weniger Wochen sagt der IWF einen Stand-by-Kredit in Höhe von 50 Milliarden Dollar zu. Deutlich mehr, als Argentinien, bemessen an seinen Anteilen am Währungsfonds, überhaupt zustehen.
Es ist das 26. Darlehen, das der Währungsfonds einer Regierung aus Buenos Aires einräumt. Kein Land hat öfter Hilfe vom Finanznotdienst erhalten. Und keine internationale Institution ist in Argentinien so übel angesehen wie el fondo. Denn dessen Rezepturen hatten stets erhebliche Nebenwirkungen verursacht: Subventionsabbau, Arbeitsplatzverluste, Konsumrückgang, Misere für die Armen. Und zumeist: Gewinne für die Banken. Und einige Superreiche wie die Familie Macri.
14. Juni 2018
Am Ende eines Tages, an dem Argentiniens Währung über 6 Prozent ihres Wertes verliert, erklärt Federico Sturzenegger per Brief seinen Rücktritt. Er hatte die Notenbank seit Dezember 2015 geführt. Zwei Jahre lang hielten die Märkte ihn wegen seiner Versuche, die Inflation in den Griff zu bekommen, für einen verlässlichen Alliierten. Doch seit seiner Entmachtung verflüchtigte sich das Vertrauen. In der Währungskrise handelte Sturzenegger konfus und wechselte mehrfach die Strategie. Mit fast 12 Milliarden Dollar aus den Währungsreserven hatte er versucht, die Macht der Märkte aufzuhalten.
Doch als er geht, ist der Dollar mehr als 28 Peso wert, eineinhalbmal so viel wie sechs Monate zuvor. Nachfolger wird der vormalige Finanzstaatssekretär Luis Caputo, der drei Monate später ebenfalls aufgibt, entnervt von täglichen Auseinandersetzungen mit dem IWF über die Kontrolle des Wechselkurses.
26. September 2018
IWF-Direktorin Christine Lagarde verkündet eine Aufstockung der Kreditlinie um weitere 7,1 Milliarden Dollar. Das bedeutet, dass Argentinien das grösste jemals gewährte Kreditpaket aller Zeiten erhält. Lagarde sagt zudem zu, die Darlehenssumme fast vollständig bis Ende 2019 auszuzahlen, sofern das Land die inzwischen erheblich verschärften Auflagen erfüllt. Die Zentralbank darf fortan nur noch in minimalem Ausmass Dollars aus den Währungsreserven entnehmen, um den Peso zu stützen. Das heisst: Der neue Notenbankchef Guido Sandleris kann den Wechselkurs nur im Zaum halten, wenn er extrem hohe Zinsen für Peso-Anlagen gewährt. Der argentinische Leitzins klettert auf Weltrekordhöhen von 60 bis über 80 Prozent.
19. Juni 2019
Das Statistikamt Indec gibt die Daten des Arbeitsmarkts bekannt: Über 10 Prozent der Werktätigen sind ohne Arbeit – seit 2006 war diese Marke nicht überschritten worden. Mehr als jeder zweite der Arbeitssuchenden ist unter 29 Jahre alt, besonders betroffen ist der conurbano bonaerense, der Industrie- und Armutsgürtel um die Hauptstadt Buenos Aires, Heimat von 11 Millionen Menschen. Die Industrieproduktion fällt im ersten Quartal um 12 Prozent.
Ein Drittel der Arbeitenden ist inoffiziell beschäftigt. Das heisst: Sie zahlen keine Steuern, und ihre Chefs leisten keine Beiträge zur Sozial- und Rentenversicherung. Tausende Klein- und Mittelbetriebe müssen zusperren, weil sie die enormen Kreditzinsen oder die in der Ära Macri ums Achtfache angewachsenen Energiekosten nicht bezahlen können. Regierung und IWF sehen sich trotzdem auf dem korrekten Weg: Die Abwertung des Peso wurde gestoppt, der Dollarkurs pendelt sich zwischen 40 und 45 Peso ein.
11. August 2019
«Wir hatten eine sehr, sehr schlechte Wahl», bekennt Mauricio Macri um 22.11 Uhr, gut vier Stunden nach dem Abstimmungsschluss der allgemeinen und verpflichtenden Vorwahlen. Dieser Urnengang, 2009 eingeführt, um die mitunter chaotischen Kandidatenlisten der antretenden Koalitionen zu ordnen, gilt inzwischen als nationales Stimmungsbarometer vor dem Wahlgang im Oktober. An jenem Winterabend erreicht Macris Bündnis Juntos por el Cambio («Gemeinsam für den Wandel») knapp 33 Prozent der Stimmen. Jenes des wiedergeeinten Peronismus Frente de Todos («Front aus allen») kommt auf fast 50 Prozent.
Das Resultat ist ein Schock, weil Regierung wie Finanzmärkte allenfalls mit einem leichten Rückstand Macris gerechnet hatten. Umfragen hatten kurz zuvor gar einen Sieg prognostiziert. Der Politikanalyst Rosendo Fraga glaubt, dass das Ergebnis zum Grossteil die Folge der wirtschaftlichen Misere sei. Die Wiedervereinigung des peronistischen Lagers habe das Übrige beigetragen.
12. August 2019
Als die Börse von Buenos Aires am nächsten Tag öffnet, fallen die Kurse um 48 Prozent. Es ist der zweitgrösste Crash in der Geschichte aller Finanzplätze. Auch in New York rauschen argentinische Aktien und Anleihen in den Keller.
Am schlimmsten trifft es das Papier des Banco Galicia, das 58 Prozent verliert. Gleichzeitig explodieren die Prämien jener Versicherungen, die einen Staatsbankrott absichern. Das Risiko für einen erneuten Zahlungsausfall des Landes beziffert die Börse nun mit über 75 Prozent. Und die Währung stürzt nochmals ab. Ein Jahr zuvor hatte ein Dollar noch 20 Peso gekostet. Nun müssen die Argentinier dafür 60 Peso zahlen.
1. September 2019
Per Dekret verfügt Präsident Macri jene Zwangsmassnahmen, die er seinem Land für immer ersparen wollte: Kapitalverkehrskontrollen. Einzelpersonen dürfen ab sofort nur noch maximal 10’000 Dollar pro Monat frei kaufen. Der Höchstbetrag für Barkäufe wird auf 1000 Dollar festgesetzt. Unternehmen dürfen Fremdwährungen oder Edelmetalle nur noch mit ausdrücklicher Erlaubnis der Zentralbank ins Ausland transferieren. Und Exporteure müssen ihre Deviseneinnahmen innerhalb von fünf Tagen in Pesos tauschen.
Zuvor hatte Hernán Lacunza, Macris mittlerweile vierter Finanzminister, bereits eine «Neuprofilierung» des Schuldendienstes bekannt gegeben. Die Fälligkeit kurzlaufender Titel wurde um bis zu sechs Monate verschoben. Das werteten die Ratingagenturen als «teilweisen Zahlungsausfall». Eignern von mittel- und langfristigen Anleihen will Argentinien freiwillige Angebote unterbreiten, um Schulden von bis zu 60 Milliarden Dollar zu vertagen. Und auch die Rückzahlung der IWF-Kredittranchen soll aufgeschoben werden.
Die Verhandlungen darüber werden unmittelbar nach den Wahlen am 27. Oktober beginnen müssen. Denn die Uhr tickt: 2020 muss Argentinien 45 Milliarden Dollar zurückzahlen. Eine schier unmöglich scheinende Summe.