«Es gibt mehr sogenannte Festivals als gute Filme»
Heute beginnt das Locarno Film Festival. Zum Start ein Blick hinter die Betriebskulissen mit Walter Ruggle, einem der besten Kenner des weltweiten Kinos.
Ein Interview von Alfred Schlienger, 07.08.2019
Walter Ruggle, Sie kennen als Filmpublizist, Programmkinobetreiber und Verleiher, der das Weltkino jenseits von Hollywood vertritt, zahllose Filmfestivals. Welches mögen Sie am meisten?
Für Profis sind in Europa Cannes und Berlin unumgänglich. Wenn ich privat an ein grosses Festival reisen würde, dann wäre das Berlin: ein Publikumsfestival mit einer spannenden Auswahl und guten Gesprächen. Am stimmigsten bleibt Venedig: überschaubar, exquisit im Programm, zudem eingebunden in die Kunstbiennale.
Locarno gilt nach Cannes, Venedig und Berlin als die Nummer 4 weltweit. Ist dieser Status für Sie weiterhin gegeben?
Die Einschätzung steht, wie so vieles bei uns, für eine eurozentristische Sichtweise und damit kaum für die globale Realität. Cannes, Venedig, Berlin sind die drei grossen europäischen Festivals. Filmschaffende, die dahin eingeladen werden, machen sich über keine weitere Veranstaltung Gedanken. Wer kann, geht nach Cannes. Nach diesen drei europäischen Events folgen kontinental wichtige Festivals wie jenes in der Millionenstadt Busan in Südkorea, das von Goa in Indien sowie Hongkong. Sundance in Nordamerika prägt den Jahresauftakt, Toronto dominiert mit seinem Filmmarkt nach Venedig den Frühherbst, Guadalajara in Mexiko spielt eine essenzielle Rolle für Lateinamerika, und in Afrika wechseln sich Karthago in Tunesien und Ouagadougou in Burkina Faso im Zweijahresrhythmus ab. Dubai ist Angelpunkt fürs arabische Kino. Danach erst kommen Rotterdam, San Sebastián, Rom und Locarno. Sie haben einen eigenständigen Charakter und versuchen, sich international zu behaupten. Das Schöne an ihnen: Es sind Publikumsfestivals.
Womit kann Locarno punkten?
Das europäische Trio bringt es allein auf rund 250 neue Filme in seinen Programmen. Ein Festival wie Locarno muss vor diesem Hintergrund einen eigenständigen Charakter pflegen, kompromisslos sein und damit leben, dass die Filme, die es bekommt, nicht erste Wahl sind, jedenfalls nicht, solange es einen Premieren-Wettbewerb abhalten will. Der letzte Locarno-Gewinner, der in der ganzen Schweiz normal ins Kino kam, war vor bald zehn Jahren «Abrir puertas y ventanas» von Milagros Mumenthaler. Spätere Preistragende dürfte auf Anhieb kaum noch jemand nennen können.
Braucht ein Festival überhaupt Preise?
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind sie wertlos geworden, weil es Festivals gibt wie Sand am Meer. Irgendwo gewinnt jeder irgendwas. Eine Rolle spielen die Wettbewerbspreise der drei grossen europäischen Festivals oder die Academy Awards. Wie gut man ohne Wettbewerb auskommt, zeigt die Viennale in Wien, wo man eines der anregendsten Programme bietet und dabei an die Menschen vor Ort denkt.
Ist das Zurich Film Festival eine Ergänzung oder eine Konkurrenz zu Locarno?
Das ZFF ist ein lokaler Event mit seinem Stellenwert im Zürcher Veranstaltungskalender. Es steht zu keinem Festival in Konkurrenz – höchstens auf der Ebene des Sponsorings. Zürich könnte ein Filmfest mit Tiefgang, Breitenwirkung und Nachhaltigkeit sein wie die Viennale, aber dazu müsste es sich mehr auf die Filme konzentrieren und weniger aufs Ausschenken von veredeltem Sprudel. Zürich und Locarno unterscheiden sich von der Anlage her grundsätzlich: Das ZFF wird in Zürich gemacht mit Leuten, die ihr Publikum kennen. Das Programm von Locarno wird in Paris gemacht mit Leuten, die auf der internationalen Bühne zu Hause sind. Locarno hat mit möglichst vielen internationalen Premieren eine internationale Kundschaft im Fokus. In Zürich hat man auf dieser Ebene keine Relevanz, dafür ist man viel freier in der Programmgestaltung und kann näher beim Publikum sein.
Publikum und Presse gieren nach Glamour. In Locarno und Zürich werden Stars für viel Geld eingeflogen. Lohnt sich das?
Wer grosse Summen ausgibt, um einen Star vor der Sponsorenlabelwand und kurz auf der Bühne zu haben, stellt nicht den Film in den Vordergrund, sondern den Boulevard und den Tourismus.
Was erwarten Sie von Lili Hinstin, der neuen Direktorin in Locarno?
Dass ich ihre Handschrift erkenne. Ich wünsche Lili Hinstin, dass sie den Sinn einer künstlerisch ambitionierten Veranstaltung verteidigt. Wirklich herausragende Festivals zeichnen sich durch ihr Programmprofil aus.
Die meisten Festivalfilme kommen gar nie ins Kino. Woran liegt das?
Es gibt mehr sogenannte Festivals als gute Filme. Die vielen Festivals müssen also Filme zeigen, die im Kino keine Chance haben, weil sie eigentlich kaum jemand sehen will.
Die Kinos kämpfen überall um ihr Publikum. Viele Kinosäle bleiben gähnend leer. Liegt das an Netflix & Co?
Die Konkurrenz an Angeboten ist in allen Sparten immens, von Kultur bis Sport. Die Verantwortung für leere Kinosäle darf man aber nicht einfach den Streaming-Plattformen geben. Diesen Fehler hat man bereits beim Aufkommen des Rundfunks gemacht, später beim Fernsehen, dann beim Video und schliesslich bei der DVD. Streaming ist eine zeitgemässe, nonlineare Form von Fernsehen. Wir betreiben mit filmingo.ch selber eine Streaming-Plattform mit ausgewählten Arthousefilmen: Filmfans in der Schweiz verdienen ein kuratiertes Angebot und sollen zum Beispiel nachholen können, was der Ungeduld von Kinobetreibenden zum Opfer fiel.
Insgesamt aber ist sich die Branche einig: Es gibt zu viele Filme, die sich gegenseitig kannibalisieren. Wie könnte man das besser steuern?
Als Verleiher: Filme nach Qualitätskriterien einkaufen und sich nicht als Erstes fragen, ob sie für einen bestimmten Titel Vertriebsförderung erhalten werden. Diese wird nach anderen Kriterien als denen der Filmqualität vergeben. Als Kinobetreiber: Sehenswerte Filme zeigen, Programmkino mit idealerweise einem Monatsprogramm machen, damit das Publikum seine Kinobesuche planen kann, und den Filmen Zeit geben. Als Konsument: Guten Kinos und Verleihern vertrauen und offen bleiben für Ungewohntes und Überraschungen. Auch immer mal wieder was riskieren.
Wie steht es um den Schweizer Film?
Ich leite trigon-film seit 20 Jahren. Der Fokus liegt da definitiv anderswo, und deshalb masse ich mir kein Urteil zum Schweizer Film mehr an. Was ich als Kinomacher sagen kann: Es gibt jedes Jahr eine Reihe von Schweizer Produktionen, die ich ins Programm nehme, weil sie mich überzeugen. Das sind häufiger Dokumentar- als Spielfilme. Aber ich nehme natürlich auch wahr, dass die Schweiz proportional zur Einwohnerzahl weltweit die höchste Zahl an produzierten Filmen aufweist, während ihr Marktanteil zu den tiefsten gehört. Und dass sich an den grossen Festivals der Welt oder in den Kinoprogrammen unserer Nachbarländer zwar Schweizer Co-Produktionen finden, also beispielsweise italienische Filme mit Schweizer Beteiligung, aber selten Filme mit Schweizer Handlung, Schweizer Bezug oder Sprache.
Weltweit dominiert Fantasy- und pubertäres Ballerkino den Markt. Wo sitzen international die innovativen Kräfte der Filmkunst?
In Asien und in Lateinamerika. Wobei man gleich einschränken und anfügen muss: Es gibt auch auf diesen beiden Kontinenten sehr viel Konfektion und – verhängnisvoll – Filme, die für europäische Fördergremien geschrieben und gedreht wurden und die damit abgeschliffen, leer oder bemüht sozialkritisch daherkommen. Aber wenn ich in den vergangenen Jahren das Gefühl hatte, in einem Film zu sitzen, den ich nicht schon zwanzig Mal gesehen habe, bei dem eine Filmemacherin, ein Filmemacher sich gefordert hat und mich auch fordert und damit anregt, bewegt, dann war das bei Filmen aus Asien und Lateinamerika der Fall. Konkreter: Südkorea, China, Iran, Argentinien, Chile, Mexiko und Brasilien – wobei dort die Regierung des Rechtspopulisten Bolsonaro in kürzester Zeit auch in der Kultur vieles zerstört hat, was in langen Jahren aufgebaut worden war.
Als langzeitgeprüfter Festivalier: Ihr finaler Tipp an Festivalbesuchende für filmische Glückserlebnisse?
Offenheit, Freude an Überraschungen, den eigenen Weg durch ein Programm gehen – und sich den Festivalkick während zwölf Monaten in den Lieblingskinos erhalten.
Walter Ruggle (64) war insgesamt zwanzig Jahre als Filmkritiker tätig, von 1984 bis 1999 als Kulturredaktor des «Tages-Anzeigers». Seit 1999 ist er Direktor der Stiftung Trigon-Film, die in den vergangenen dreissig Jahren 622 Filme aus 99 Ländern, vornehmlich des Südens und Ostens, in unsere Kinos gebracht hat. Auf der Trigon-eigenen Streaming-Plattform filmingo.ch sind Filme aus der ganzen Welt verfügbar. Seit 2002 leitet Ruggle auch das Programmkino Orient auf der Grenzlinie Baden–Wettingen. Er schaut pro Jahr zwischen 500 und 1000 Filme, bereist weltweit Festivals, wirkt als Dozent, Publizist und Experte für den Fonds Visions Sud Est und hat zahlreiche Schriften zum Weltkino und zu Filmschaffenden verfasst.
Die Pariserin Lili Hinstin (42) präsentiert als neue Direktorin ab dem 7. August ihr erstes Locarno-Programm. Sie studierte Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften in Paris und Padua und war 2005 bis 2009 für die Filmaktivitäten der Französischen Akademie in Rom verantwortlich. Von 2011 bis 2013 war sie stellvertretende künstlerische Leiterin des Festivals Cinéma du Réel in Paris. Seit 2013 leitete sie das internationale Filmfestival Belfort.
Aus 4000 eingereichten Filmen hat die Programmkommission für die Wettbewerbe 128 Werke ausgewählt. Ein erstes Signal für die Breite des Geschmacks der neuen Direktorin können die designierten Ehrenpreise abgeben: So wird der Tabubrecher und Trashkönig John Waters («Pink Flamingo» u.a.) für sein Lebenswerk geehrt und die junge deutsche Produzentenfirma Komplizen Film um die Regisseurin Maren Ade («Alle Anderen», «Toni Erdmann») erhält den Premio Raimondo Rezzonico. Die Retrospektive Black Light präsentiert ein Panorama des Black Cinema des 20. Jahrhunderts.
Alfred Schlienger, ehemaliger Dozent für Literatur, Philosophie und Medien an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz, ist Theater- und Filmkritiker sowie Mitgründer der Bürgerplattform «Rettet Basel!». Letzte Buchveröffentlichung: «Forever Young. Junges Theater zwischen Traum und Revolte». Christoph-Merian-Verlag, Basel 2017.