Elite von unten
Johnson, Cameron, Blair: In Grossbritannien bestimmen private Eliteschulen, wer nach oben kommt. Doch jetzt wirft eine öffentliche Schule in einem der ärmsten Bezirke Londons das Klassensystem über den Haufen.
Eine Reportage von Solmaz Khorsand (Text) und Owen Harvey (Bilder), 17.10.2019
Ein Schulterzucken, das wäre für Mouhssin Ismail der grösste Erfolg. Wenn sich keiner mehr über seine Schule wunderte. Wenn sie aufhörte, etwas Besonderes zu sein. Er seine Bürowände mit anderen Bildern schmücken könnte, etwa signierten Trikots seiner Lieblingscricketspieler statt wie jetzt mit eingerahmten Zeitungsartikeln über seine Schülerinnen und Schüler, die an Eliteuniversitäten aufgenommen wurden. Nachdenklich schaut er auf seine vollgehängte Wand. «Bei Eton wundert sich auch niemand, wenn ihre Schüler auf die Top-Universitäten gehen», sagt er.
Aber Mouhssin Ismail ist nicht Direktor von Eton. Seine Schule ist nicht seit je die Kaderschmiede für Grossbritanniens Elite. Sie ist kein Garant dafür, dass die Dinge so laufen, wie sie es in diesem Land schon immer taten.
Im Gegenteil.
Seine Schule tut nichts Geringeres, als mit der Tradition zu brechen. Sie wirft Grossbritanniens Klassensystem über den Haufen, und das mit ihren eigenen Regeln.
Mouhssin Ismail ist Direktor des NCS, des Newham Collegiate Sixth Form Centre, einer öffentlichen Schule im Osten Londons. Fast so gross wie die Stadt St. Gallen, zählt der Bezirk Newham mit seinen 350’000 Einwohnern zu den diversesten des Landes – und den ärmsten Londons. Über ein Drittel der Kinder leben hier unter der Armutsgrenze, die Lebenserwartung liegt unter dem Londoner Durchschnitt und die Kriminalitätsrate weit darüber.
Vor fünf Jahren hat das NCS seine Pforten geöffnet. Seither macht es Schlagzeilen.
Eine öffentliche Schule in einem der ärmsten Bezirke Londons nimmt es mit den teuersten Privatschulen des Landes auf. 95 Prozent ihrer Absolventen schaffen es auf Grossbritanniens Universitäten, viele von ihnen auf die Prestigeschulen Oxford und Cambridge, einige sogar bis nach Amerika ans Massachusetts Institute of Technology (MIT). Es sind Söhne und Töchter von Einwanderern. 80 Prozent von ihnen stammen aus Indien, Bangladesh und Pakistan. Viele kommen aus bescheidenen Verhältnissen. Ein Fünftel der insgesamt 616 Schüler kann sich das Mittagessen in der Schule nicht leisten und ist auf Essensmarken angewiesen, ein Fünftel auf Stipendien, um ihre Lebenshaltungskosten zu bestreiten.
Brutstätte der Elite
In der britischen Realität ist es nicht vorgesehen, dass es diese Kinder auf Universitäten schaffen, und schon gar nicht auf Eliteunis. 42 Prozent aller Plätze in Oxford und Cambridge gehen laut Studien des Thinktanks Sutton Trust an Absolventen der acht führenden Privatschulen des Landes. Ein grobes Missverhältnis, sagen die Studienautorinnen und geben zu bedenken, dass gerade einmal 7 Prozent aller jungen Briten überhaupt auf eine Privatschule gehen.
Grossbritanniens Schulsystem steht seit Jahren in der Kritik. Insbesondere die Privatschulen, aus denen sich die britische Elite fast zur Gänze rekrutiert. So haben 74 Prozent aller Richter eine Privatschule besucht, 71 Prozent der höheren Offiziere im Militär, 61 Prozent aller Ärztinnen, 51 Prozent aller Journalisten und vergleichsweise bescheidene 32 Prozent aller Abgeordneten im britischen Parlament. Im Kabinett schwankt ihr Anteil, Theresa Mays Mannschaft setzte sich etwa zu 50 Prozent aus ehemaligen Privatschülern zusammen.
Soziale Durchlässigkeit made in Britain. Mouhssin Ismail kennt die Zahlen. «Das ist nun einmal das System», sagt er, «man kann entweder warten, dass es zusammenfällt, oder das Beste daraus machen.» Ismail ist kein Revolutionär. Er ist Pragmatiker. Ein optimistischer Pragmatiker. Daher hat er sich für Letzteres entschieden.
Freundlich empfängt Ismail seinen Besuch beim Haupteingang des Schulgebäudes. Es ist ein rotes Backsteinhaus, unmittelbar neben dem Gemeindeamt des Bezirks an der Barking Road, einer belebten Strasse ein paar Minuten entfernt von der U-Bahn-Station East Ham. Im Pub gegenüber trinken die Männer schon um 9 Uhr morgens ihr Frühstücksbier, auf der Strasse gehen Mütter mit Kopftuch und Trolleys ihren Besorgungen nach.
Ismail, 40, Anzug und Krawatte, sorgfältig zurückgekämmte Haare, hat viel um die Ohren. Er bittet in sein Büro. Es fällt schwer, den Blick von den Wänden zu nehmen. Überall hängen Bilder von den Erfolgen seiner Schützlinge.
Da wäre etwa die Story von Bogdan Vicol, einem Austauschschüler, der extra aus Rumänien gekommen ist, weil er gelesen hatte, das NCS bereite einen so gut für die Universität vor. Nach seinem Schulabschluss ergatterte er einen Platz in Cambridge in Rocket Science, also der Wissenschaft, Raketen zu konstruieren und zu fliegen.
Oder die Artikel über Mohammed Isuf Ahmed, den Posterboy des NCS von 2019. Ahmed, Sohn einer alleinerziehenden Mutter aus Bangladesh, wurde von gleich zwei amerikanischen Eliteuniversitäten akzeptiert: Harvard und MIT. Sein Harvard-Aufnahmebrief prangt eingerahmt hinter dem Schreibtisch seines Direktors. (Ahmed entschied sich für ein Studium der Astrophysik am MIT).
Und da wäre noch Selina Begum. Das Mädchen, das Geschichte geschrieben hat. Vor zwei Jahren gewann sie den «Eton Autumn Invitational»-Redewettbewerb. Zum ersten Mal in der Geschichte des Wettbewerbs ging der Preis an eine Schülerin aus einer öffentlichen Schule. Die Medien konnten gar nicht genug berichten über das eloquente Mädchen mit dem schwarzen Kopftuch und der Zahnspange. Selbst die «Daily Mail», die Frauen mit Kopftuch bevorzugt in Terrorkontexten porträtiert, liess sich zu einer Positiv-Story hinreissen.
Gross hängt die Doppelseite in Mouhssin Ismails Büro. Er lächelt. «Sogar die ‹Daily Mail›», sagt er. Er ist sichtlich stolz. In nur fünf Jahren hat er geschafft, was er sich von Anfang an vorgenommen hatte: dass das NCS mit den Privatschulen des Landes konkurrieren kann. Dass seine Kids genauso hoch hinauskönnen wie jene von Eton, Charterhouse, Westminster, St. Paul’s und wie all die Privatschulen heissen, auf denen man nur mit dem nötigen Kleingeld – in Eton etwa bis zu 40’000 Pfund im Jahr – die Schulbank drücken darf.
Mythos des meritokratischen Grossbritannien
In den privaten Eliteschulen sind die Kinder gewohnt, in grossen Massstäben zu denken. Überall sehen sie Bilder und Büsten von Alumni, die zum britischen Establishment gehören. Für sie ist es ganz natürlich, sich vorstellen zu können, eines Tages auch einmal in 10 Downing Street ihren Platz einzunehmen. Ihre Vorgänger, Tony Blair, David Cameron oder Boris Johnson, haben es schliesslich auch geschafft, warum also nicht auch sie?
Genau diesen Spirit will Ismail in Newham wecken. Er hat grosse Erwartungen an seine Schüler. Vor dem ersten Schultag lässt er sie auf Twitter wissen, wie viel Arbeit vor ihnen liegt: drei Stunden individuelles Lernen jeden Tag, fünf Stunden am Samstag, fünf Stunden am Sonntag. Nur so kommen sie zu guten Noten. Und damit in die Top-Schulen.
«Das sind Leute, die ihr ganzes Leben lang gehört haben, dass aus ihnen nichts wird. Hier in Newham hat niemand die Erwartung, dass einer aus der Nachbarschaft nach Oxford geht», erzählt er. Erst kürzlich wurde ein Absolvent von einem BBC-Moderator beglückwünscht für seinen Studienplatz – um im nächsten Augenblick dafür belächelt zu werden, warum denn bitte ein Junge aus Newham Petrochemie studieren möchte.
Ismail weiss um das Stigma. Er selbst, Sohn eines Krämers aus Indien und einer Hausfrau aus Marokko, ist gemeinsam mit seinem Bruder in Newham geboren und aufgewachsen. Auch er in bescheidenen Verhältnissen. Ständig hätten ihm seine Eltern eingebläut, wie wichtig Bildung sei. Dass nur sie ihn aus der Armut bringe.
Bis heute hält auch er daran fest. Für ihn bleibt und ist Grossbritannien eine meritokratische Gesellschaft, wo sich alle hocharbeiten können, wenn sie sich nur genügend anstrengen. In Indien sei das ganz anders, er kenne genug Verwandte dort, die auf ihren Doktoraten der Physik versauerten, weil ihnen die richtigen Kontakte fehlten, um einen Job zu bekommen.
Ismail weiss, dass diese Idee der britischen Meritokratie für viele ein Mythos ist. Dass sie ein Ausdruck einer neoliberalen Gesellschaft ist, die das Systemversagen auf den Einzelnen abzuwälzen versucht. Vielleicht würde er heute anders denken, meint er, vielleicht wäre er verbitterter, wenn die Dinge für ihn nicht geklappt hätten, wenn es ihm damals nicht gelungen wäre, die Schule abzuschliessen, sein Studium an der London School of Economics zu beenden und in einer Wirtschaftskanzlei in der City anzuheuern.
Er hatte es geschafft. Der arme Junge aus Newham war plötzlich der Anwalt im schicken Anzug in der City. In der Regel braucht es in Grossbritannien 150 Jahre oder fünf Generationen, damit es jemand aus der Unterschicht zu einem Durchschnittseinkommen bringt. Ismail hat es in einer Generation geschafft, und sein Einkommen war mehr als nur Durchschnitt.
Er war im Zenit: guter Job, Frau, zwei Kinder. Was wollte er mehr?
Wo sind all die anderen Mouhssins?
Doch irgendwann begann er sich zu wundern: Wo sind all seine Freunde, die schlauen Kids aus seiner Nachbarschaft, mit denen er die Schulbank gedrückt hat? Warum sitzen sie nicht in diesen Kanzleien? Warum tragen sie nicht die schicken Anzüge? Warum ist er der einzige Mouhssin weit und breit?
Er begann zu zweifeln. Und erinnerte sich an das erste Mal, als seine rosarote Brille die ersten Kratzer bekam. Es ging um eine Praktikumsstelle in der Kanzlei. Mouhssin empfand das Aufnahmeverfahren als rigid und wollte sich mit einem seiner Kollegen dazu austauschen. Wie es der andere denn empfunden hatte? Noch heute erinnert er sich an dessen Antwort: «Ich habe mich nicht beworben, ich bin so genommen worden, mein Vater ist Klient der Kanzlei.»
Mit einem Mal wurde Ismail bewusst, dass er durch ganz andere Reifen springen musste, um dorthin zu gelangen, wo viele seiner Kollegen waren. Dass dieses Land vielleicht doch nicht so fair ist, wie er immer dachte. Dass Exzellenz und gute Noten das eine sind, Netzwerke und die richtige Herkunft das andere.
Mit 28 Jahren liess er eines Nachts um zwei Uhr morgens seine Frau wissen: Schatz, ich kündige und werde Lehrer.
Mit Etikette-Kursen nach 10 Downing Street
Zurück in Newham hatte er nur ein Ziel: so viele Kinder wie möglich auf die Top-Universitäten zu bringen. All die Mouhssins, Asmas und Fatimas sollten in Zukunft Seite an Seite neben den Ians, Davids und Annas in den Kanzleien, Kliniken, Medienhäusern und Universitäten arbeiten.
Nach ein paar Jahren als Wirtschaftslehrer an der Seven Kings High School bewarb er sich für die ausgeschriebene Stelle des Direktors des Newham Collegiate Sixth Form Centre und wurde genommen. Er rekrutierte ein Team aus engagierten Lehrerinnen und Lehrern, die wie er so viele Kinder wie möglich aus Newham in die Elite hieven wollten. Einige aus seinem Lehrpersonal waren selbst auf Eliteuniversitäten, manche sogar auf Privatschulen. Sie kannten das System, wussten neben ihrer Expertise, worauf es neben guten Noten noch ankommt, um bei Bewerbungsinterviews zu überzeugen.
So bietet die Schule zahlreiche Aktivitäten an, etwa verpflichtende Vertiefungskurse in Biologie, Latein, Strafrecht oder Feminismus, zu welchen Gastdozenten eingeladen werden: darunter CEOs, Politikerinnen, Journalisten, Uniprofessorinnen. Es gibt Ausflüge zu Universitäten, um die Jugendlichen vertraut zu machen mit einer Liga, in der ihnen nie jemand zugetraut hat zu spielen. Praktika werden vermittelt, unter anderem in einer Kanzlei in Dubai, wo Ismails ehemalige Kollegen sie in die Rechtsmaterie hineinschnuppern lassen. Ausserdem bietet die Schule Rhetorikkurse, Aussprachetraining und Etiketteworkshops an. Und das gleich mehrere Stunden die Woche.
Sie sollen wissen, wie sie sich richtig, freundlich und zuvorkommend am Telefon vorstellen, wie sie Konversation machen, auf welcher Seite am Tisch das Glas steht und auf welcher Seite das Brot liegt, sodass sie nicht aus Versehen das Brot des Nachbarn anknabbern. Ihnen wird beigebracht, wie sie sich anziehen sollen, welche Länge ihre Sakkos haben müssen, welcher Stoff edel ist und welcher Ramsch, und dass es immer besser ist, eine Spur zu formell als zu leger gekleidet zu sein.
All das, was privilegierte Kinder von zu Hause mitbekommen, soll ihnen hier beigebracht werden. Seine Schülerinnen und Schüler sollen selbstbewusst auftreten können, sich in diesen Kreisen wohlfühlen, sich nicht wie Hochstapler vorkommen. Nicht wie er damals, als er nur mit seinem Juristenwissen aufwarten konnte, während sich seine Kollegen über Theater, Kunst und Kultur unterhielten. Ismail nennt es polish. Ein bisschen Feinschliff, der den Heranwachsenden das Leben erleichtert. Nur wenn sie die Regeln der Elite kennen und nach ihnen spielen, schaffen sie es dereinst vielleicht auch hinein. Und vielleicht zieht sogar eines Tages eine Asma oder ein Mohammed in 10 Downing Street ein. Es würde einen massiven Unterschied machen, weiss Ismail. «Denn im Gegensatz zu Cameron und Johnson wissen die, wie sich das Leben der normalen Leute anfühlt.»