«Britische Politiker verhalten sich nicht wie Erwachsene»
Boris Johnson nutzt Mechanismen, die er als Siebenjähriger erlernt hat, sagt Psychotherapeut Nick Duffell. Warum? Weil die Politiker in England auf einem Eliteinternat sozialisiert wurden.
Ein Interview von Solmaz Khorsand, 24.09.2019
Boris Johnson ist bereits Grossbritanniens zwanzigster Premierminister, der auf dem Eliteinternat Eton zur Schule ging – und das hat Folgen für das Königreich. Der Psychotherapeut Nick Duffell forscht seit 32 Jahren zu den «Überlebenden» des britischen Internatssystem, wie er sie nennt. Seine Schlussfolgerungen sind vernichtend: Grossbritannien wird von Männern mit dem Seelenleben kleiner, traumatisierter Jungs regiert, die nie gelernt haben, erwachsen zu werden, und die das Land mit ihrer nicht vorhandenen emotionalen Intelligenz in Abgründe hineinrüpeln.
Herr Duffell, warum halten Sie ehemalige Internatsschüler wie Boris Johnson für schlechte Führungspersönlichkeiten?
Sie sind gefährlich, weil sie die psychologischen Tricks anwenden, die sie als Kinder im Internat gelernt haben, um zu überleben. Zum Beispiel teilen sie die Realität in viele überschaubare Schubladen ein, die voneinander abgeschottet sind, sodass die eine Sicht der anderen nicht in die Quere kommt. Viele von uns machen das, wenn sie in Stresssituationen geraten, aber nicht auf Dauer. Internatsüberlebende fokussieren ausschliesslich auf einen Aspekt und verleugnen alles andere. Sie sind nicht in der Lage, das grosse Ganze zu sehen.
Ist «Überlebende» nicht ein gar dramatischer Begriff? Eton ist nicht gerade Guantánamo.
Das Internat ist traumatisierend. Diese Männer sind «Überlebende», weil sie als Kinder von ihren Eltern verlassen wurden. Das ist so nicht vorgesehen von der Natur. Diese Kinder wachsen für einen sehr langen Zeitraum ohne die Liebe ihrer Eltern auf, in Institutionen, die voller Regeln und Erwartungen an sie sind. Und die erste Erwartung lautet: Werdet ganz schnell erwachsen, um zu führen.
Wie reagieren Kinder darauf?
Sie schalten Gefühle wie Heimweh, die Sehnsucht, geliebt und umsorgt zu werden, aus. Von all dem nabeln sie sich ab, sie dissoziieren, sie «lösen sich ab».
Warum ist das problematisch?
Von der Neurowissenschaft wissen wir, dass wir ohne Gefühle keine guten Urteile fällen können. Um unser Tun mit unseren Werten abzustimmen und um Menschen richtig einschätzen zu können, brauchen wir Gefühle. Kurz: Empathie. Das wird schwierig, wenn man Ihnen gegenüber als Kind keine Empathie spüren liess, weil Sie in einer Institution voller Regeln zurückgelassen wurden. Kinder, die in frühen Jahren ein Trauma erlebt haben, entwickeln eine strategische Überlebenspersönlichkeit und erfahren die Welt später als einen feindlichen Ort. Sie nehmen kleine Dinge als grosse Bedrohung wahr und haben eine Neigung zu Überreaktionen.
Wie äussert sich das?
Sie benutzen unbewusst die gleichen Mechanismen, die sie als Siebenjährige entworfen haben. Zum Beispiel werden sie sich nie Fehler eingestehen. Nehmen Sie Boris Johnson. Obwohl er sehr wohl weiss, dass der Brexit für Grossbritannien ökonomisch sehr schädlich ist – er ist ja kein Idiot –, wird er nie zugeben, dass er einen Fehler gemacht hat. Genauso wenig wie Tony Blair, ebenfalls ein Internatsüberlebender, dies beim Irakkrieg eingestehen konnte. Ihre «Überlebenspersönlichkeit» sieht nicht vor, Fehler zuzugeben, denn sie haben im Internat gelernt, dass das nur Probleme mit sich bringt. Hinzu kommt, dass diese Männer sehr gut darin sind, zu betrügen, um den Autor John Le Carré zu zitieren. Er sagte: Der Internatszögling ist fähig, unaufhörlich zu betrügen und sich deswegen nicht schlecht zu fühlen. Denn er wurde als Kind auch betrogen, und zwar von seiner Mutter, die immer behauptet hat, ihn zu lieben, und ihn dennoch ins Internat gesteckt hat.
Sie sagen also, dass Grossbritannien seit je von traumatisierten Siebenjährigen gelenkt wird, die keine Fehler zugeben können, Gefahren falsch einschätzen und schamlos betrügen, weil sie als Kind das Gefühl hatten, ihre Mutter habe ihnen mit ihrer Liebe nur etwas vorgemacht?
Schauen Sie sich die Youtube-Clips von Boris Johnson an. Wie oft er da seine Fassung verliert! Es gibt zum Beispiel ein Interview mit ihm und dem damaligen Labour-Parteichef Ed Miliband. Er beschimpfte Miliband auf kindische Weise. Anstatt ihn in die Schranken zu weisen, fand der Moderator Andrew Marr, ebenfalls ein Internatsüberlebender, den Vorfall sogar witzig. Und Miliband wusste sich nur mit einem «Come on, Boris» zu wehren. Aber Johnson ist nicht der Einzige, der sich so verhält. In meinem Buch «Wounded Leaders» bringe ich das Beispiel von David Cameron, der im House of Commons auf den Einwurf einer Labour-Abgeordneten völlig unangemessen reagiert hat.
Angela Eagle hat den damaligen Premier Cameron auf einen Fehler hingewiesen, woraufhin Cameron mit einem «Beruhig dich, meine Liebe, und höre auf den Doktor» reagiert hat.
Er hat extrem aggressiv reagiert, als ob sein Leben auf dem Spiel stehen würde. Sie werden so ein Verhalten von keinem Abgeordneten im Europäischen Parlament erleben. Weil sie, trotz aller Fehler, immer noch Erwachsene sind. In der britischen Politik verhalten sich die Politiker nicht wie Erwachsene.
Weshalb haben der siebenjährige Boris Johnson oder der siebenjährige David Cameron so eine Panik?
Sie haben Angst, dass ihr gesamtes Selbstbild infrage gestellt wird und kollabiert. Sie haben Angst, fertiggemacht zu werden. Denn im Internat kannst du jederzeit fertiggemacht werden, selbst in deinem Bett bist du nicht sicher. Du wirst für alles Mögliche schikaniert, wenn du etwas Dummes sagst, etwas Kindisches, etwas Verrücktes – und das nicht nur von den Lehrern und Aufsichtspersonen, sondern auch von den Mitschülern.
Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie diese Internate jede Loyalität der Kinder gegenüber ihrer Familie, ihrer Kultur und ihrer ursprünglichen Klasse brechen. Stattdessen entsteht eine Art Stammesdenken gegenüber den anderen Mitschülern.
Das gehört zur DNA dieser Internate, seit man in den 1860er-Jahren diesen Typus der Erziehungsanstalt entwickelt hat. Das Ziel war damals, Leader für das Empire heranzuziehen. Zu diesem Zweck wurde in diesen Schulen eine Art Korpsgeist gezüchtet, der Loyalität gegenüber dieser speziellen Eliteklasse und dem Land vermittelt hat.
Welche Konsequenzen hat es, wenn die Mitschüler zum Bezugspunkt aller Handlungen werden und wenn es der oberste Ehrgeiz ist, sein Gesicht vor allem vor seinesgleichen zu wahren?
Diese Menschen, die in Institutionen voller Regeln aufgewachsen sind, haben eine besondere Einstellung gegenüber Regeln. Sie haben gelernt, dass sie Regeln umschiffen können oder dass sie ohnehin so privilegiert sind, dass Regeln für sie nicht gelten. Gleichzeitig haben diese Leute eine Anspruchshaltung. Sie denken, dass sie es verdient haben, in diesen Führungspositionen zu sein.
Weil sie denken, dass sie hart dafür gearbeitet haben?
Nach 32 Jahren Recherchen zu dem Thema kann ich Ihnen versichern: Dieses Anspruchsdenken ist nichts anderes als eine Kompensation für den Verlust ihrer Familie, als sie ins Internat geschickt wurden.
Ich habe es mir verdient, Premierminister zu werden, weil ich als Kind Heimweh hatte?
Etwa so.
Wie müsste man denn zum Beispiel einen Boris Johnson therapieren, um aus ihm einen richtigen Erwachsenen zu machen?
Zuerst müssten diese Leute feststellen, dass es ein Problem gibt. Dann müssten sie sich an die psychologische Arbeit machen und lernen, dass es nicht ihr Fehler war, aber dass sie anderen Leuten mit ihrem Verhalten geschadet haben. Drittens müssten sie einsehen, dass es das Kind in ihnen war, das die ganze Zeit ihr Leben gelenkt hat, und sie müssten lernen, mitfühlend mit diesem Kind zu sein.
Einmal politisch betrachtet: Was ist das Worst-Case-Szenario, wenn der siebenjährige Boris sieben Jahre alt bleibt?
Menschen, die ihre eigene Verwundbarkeit verleugnen, werden nie die Schwachen in der Gesellschaft verstehen. Sie müssten Empathie haben, um zu begreifen, dass nicht jeder ein Gewinner und ein Leader sein kann. Diese Leute können das schlichtweg nicht.
Sie selbst waren auch im Internat.
Ich bin mit acht Jahren auf ein amerikanisches Internat gekommen und später auf ein englisches. Das amerikanische war mein Glück.
Warum?
Weil ich wusste, dass Schule nicht so sein muss wie in England. Als ich wechselte, war ich zwar das Internatsleben gewohnt, aber nicht diese englische Institution mit all den Regeln und Privilegien. Und auch nicht die Art, wie mit einem umgegangen wird.
Wie hat man Sie auf dem englischen Internat behandelt?
Sie sagen einem ständig, wie dumm man ist, und gleichzeitig wird einem eingebläut, dass man irgendwann dieses Land führen werde. Das ist unsere britische Art zu denken: dass man die Menschen erst brechen muss, bevor man sie aufbauen kann.
Sind es die Briten gewohnt, von solchen früh traumatisierten Männern geführt zu werden?
Das ist das Problem: Dieses Verhalten muss als der idealisierte Nationalcharakter herhalten. Johnson und Co. haben eine Vorbildwirkung. Die Leute glauben, dass es gut ist, sich so zu verhalten. Sie denken, das ist unsere Elite. Selbst die Arbeiterklasse fühlt sich bei ihnen aufgehoben, weil wir immer noch ein feudales Land sind. Wir glauben im Grunde immer noch, die Aristokraten sollen herrschen.
Sie selbst kommen aus der Arbeiterklasse.
Mein Vater kam aus Hackney, aus dem Osten von London, und war Verkäufer, bis er sich zum Manager hochgearbeitet hatte. Als ich ein Kind war, hat er all sein Geld gespart, damit ich aufs Internat gehen konnte. Er hat sein ganzes Leben lang versucht, seinen Working-Class-Akzent zu verlieren.
Haben Sie sich für ihn geschämt?
Immer wenn ich von der Schule zu Hause zu Besuch war, konnte ich hören, wie unkultiviert mein Vater war. Anfangs habe ich mich für ihn geschämt, später aber für die Situation. Wieso soll ein Junge diese Überlegenheit gegenüber seinem eigenen Vater empfinden? Ich finde das furchtbar, und es bricht mir das Herz, wenn ich jetzt daran zurückdenke.
Er ist Psychotherapeut und gilt in Grossbritannien als einer der führenden Experten zum Thema Internatsschulen. Seine Werke «The Making of Them: The British Attitude to Children and the Boarding School System» und «Wounded Leaders: The Psychohistory of British Elitism and the Entitlement Illusion» wurden in den britischen Medien intensiv diskutiert.