Kleines Land, grosse Literatur
Klirrkalte Sprache und lauschende Stille: Norwegen ist diesmal Gastland an der Frankfurter Buchmesse. Aber welche Romane sind wirklich eine Entdeckung? Drei Lesetipps.
Von Jan Wilm, 16.10.2019
Jonas Lie? Nein? Bjørnstjerne Bjørnson? Auch nicht? Aber Sigrid Undset, die könnten Sie kennen, die gewann 1928 den Nobelpreis für Literatur! Auch nicht? Wie steht’s mit Tomas Espedal, Jon Fosse, Karl Ove Knausgård? Na also.
Die Zeit der Frankfurter Buchmesse ist gekommen, wenn sich die Hotelindustrie binnen einer Woche die Jahresbilanz rettet, die antibakteriellen Handwaschmittel in den Drogerien zur Neige gehen und überall der Alkohol fliesst, als begänne am nächsten Tag die Prohibition. Der diesjährige Ehrengast der Frankfurter Buchmesse heisst Norwegen. Und so haben die meisten Verlage diesen Herbst mindestens einen norwegischen Titel im Programm: Entdeckungen aus der norwegischen Gegenwartsliteratur sowie neu übersetzte Klassiker aus einem Land mit reicher Literaturtradition.
Drei besonders beeindruckende Romane sollte kein Lesekopf verpassen: «Meine Gedanken stehen unter einem Baum und sehen in die Krone» von Kjersti A. Skomsvold. «Tage in der Geschichte der Stille» von Merethe Lindstrøm. Und die wichtigste Wiederentdeckung dieses norwegischen Literaturherbsts: «Das Eis-Schloss» von Tarjei Vesaas (1897–1970), ein Werk von unheimlicher Kälte und ungeheurer Wärme. Und da Sie Knausgård kennen: Der hat Vesaas’ bekanntestes Werk, «Die Vögel» (1957), als den besten norwegischen Roman überhaupt bezeichnet. Beginnen wir also mit diesem Autor. Es ist höchste Zeit, ihn kennenzulernen.
Tarjei Vesaas – hauchleise Sprache
1963, sechs Jahre nach seinem bekanntesten Roman, hat Vesaas «Das Eis-Schloss» veröffentlicht. Nun gibt es das Buch in einer fulminanten deutschen Übersetzung. Es erzählt eine einfache Geschichte um die elfjährigen Mädchen Siss und Unn. So wie sich die Buchstaben in ihren kurzen Namen wiederholen, sind auch die Mädchen Spiegelfiguren füreinander. Doch ihre Unterschiede sind entscheidend. Siss, deren Name länger ist, stärker ist, hat der anderen auch sonst etwas voraus. Siss ist ein selbstbewusstes, wenn auch nachdenkliches Mädchen. In ihrer Schulklasse ist sie die Anführerin. Dann stösst das Waisenmädchen Unn zu der eng gefassten Gemeinschaft.
Unn kommt als Aussenseiterin in das rustikale Dörfchen, wird allerdings rasch zu einer Seelenverwandten für Siss. Spielerisch geheimnisvoll tauschen die beiden Zettelbriefchen in der Schule aus, und Siss besucht Unn im Haus ihrer Tante. Durch mühelose Annäherung spinnt sich ein Band zwischen den Mädchen, dessen Stärke zu einer innigen Freundschaft führen wird. So viel steht für beide Mädchen fest, als sie sich, geschützt im behaglichen Haus an einem typisch norwegischen Herbstabend, dunkel und kalt, näherkommen und Unn ihrer neuen Freundin ein grosses Geheimnis mitteilen möchte.
Doch dazu kommt es nicht.
Vehement verweigert Siss, Unns Geheimnis zu erfahren. Und so intensiv, wie Unn bittet, steigt auch beim Lesen der Drang, hinter das Geheimnis zu kommen, von dem wir ahnen, dass es mit Gefahr einhergeht. Selbst Unn spricht nur als «das andere» davon.
So beginnt ein Spiel aus Andeutung und Ablehnung, und schliesslich flüchtet Siss aus Angst vor Unns Geheimnis nach Hause.
Auf ihrem Heimweg ist sie aber sicher: Am nächsten Tag wird ihr Ansehen in der Schule weiter steigen, denn sie hat eine echte Freundin in der geheimnisvollen Unn, eine Freundin, die ihr gänzlich vertraut, die ihr tiefstes Geheimnis mit ihr geteilt hätte. Doch Unns Geheimnis wird bald zur Stille einer Verschwundenen.
Am nächsten Morgen hat die Kälte schon das Land überfroren: «Draussen war es kälter als je, sagte ihre Tante, die das Frühstück bereit machte. Unn sah harte, glänzende Sterne über dem Haus.» Anstatt zur Schule zu gehen, wandert Unn durch die Landschaft, als wäre sie auf der Flucht: «Sie wollte schliesslich den Tag ungesehen verbringen (…) Und nicht an das andere denken.»
Unn möchte die «Eiswanderung» über den Fluss machen, von der «seit ein paar Tagen in der Schule gesprochen» wurde. Waisenkinder sind zur Unabhängigkeit gezwungen, und so unternimmt Unn die gefährliche Wanderung ganz allein:
Irgendwo am anderen Ende war ein Wasserfall, der in dieser langen, harten Kälte einen ungewöhnlichen Berg aus Eis um sich aufgebaut hatte. Es hiess, es sehe aus wie ein Schloss, und niemand konnte sich daran erinnern, dass es das jemals gegeben hätte. Dieses Schloss war das Ziel der Wanderung.
Blendendes Sonnenlicht lässt das Eis-Schloss glänzen und bricht sich hinein in sein labyrinthisches Gewinkel: «Unn blickte in eine Zauberwelt aus kleinen Zinnen, Dachwölbungen, bereiften Kuppeln, weichen Bögen und verworrenem Spitzengeklöppel. Alles war Eis, und das Wasser spritzte hervor und baute weiter.»
Es ist, als würden die Klarheit der Handlung und die Genauigkeit von Vesaas’ Sprache die kleine Unn zu gleichen Teilen erbarmungslos und fürsorglich in die Tiefe des Eis-Schlosses schieben. Wir werden sie dort verlieren.
Entkräftet und vom Zauber des Eises geblendet, setzt sich das Mädchen in «einen Winkel» des Schlosses und gerät in einen Taumel. «Da war etwas im Eis! Erst formlos, aber als sie rief, nahm es Gestalt an, leuchtete auf wie ein Eisauge da oben, richtete sich auf sie und brachte ihre Gedanken zum Stillstand.»
Es besitzt eine Intensität, wie es sie vielleicht seit Tolstois «Tod des Iwan Iljitsch» nicht gegeben hat, wenn sich die Erzählstimme langsam von Unn entfernt, die im Eis-Schloss hergestellte Intimität löst und sich der gleichgültigen Monotonie der Natur zuwendet:
Jetzt rührte sie kein Glied mehr, sass an der Wand mit erhobenem Kopf, so konnte sie dem Licht im Eis begegnen. Das Licht wurde mit der Zeit immer stärker und allmählich von Feuer erfüllt. Zwischen ihr und dem Auge fielen die Tropfen mit raschem Blitzen und machten ihre eintönige Musik.
Nach Unns Verschwinden gerät die kleine, engmaschige Dorfgemeinschaft aus dem Gleichgewicht. Der Riss geht tief. Es wird ein Suchtrupp gebildet, Tag und Nacht der endlos wirkende Schnee der karg geeisten Landschaft durchforstet, um das Kind zu finden. Und wenn auch das Dorf die Suche bald erfolglos aufgibt, wird die kleine Siss standhaft weitersuchen.
Vesaas, der lange als Nobelpreis-Anwärter galt, schrieb nicht in der weitverbreiteten Schriftsprache Bokmål, sondern im geschriebenen Minderheitendialekt Nynorsk (wie Jon Fosse übrigens auch). So entsteht eine manchmal rustikale, von Naturphänomenen gesättigte Sprache, von Knappheit und Stille durchdrungen, die Seiten von weissen Flächen durchbrochen. Der Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel hat den Text brillant ins Deutsche übertragen, mit Worten wie «klirrkalt» und «hauchleise», mit «Winterdunkel» und «seidenfeinem Morgengrauen»: ein leicht verfremdetes Deutsch, in dem der Winter und die Stille unheilvoll glänzen.
Wer «Das Eis-Schloss» innerhalb der Fülle an norwegischen Neuerscheinungen dieses Herbstes wahrnimmt, erkennt, wie gross der Einfluss von Vesaas auf die Literatur seines Landes und dessen Sprache war.
Er verankert die Literatur tief in jenem Realismus, der heute dominiert. Aber er schaut auch zurück in die Literatur der Sagen und Legenden. Zugleich sind Vesaas’ Minimalismus und seine Bewusstseinsbohrungen ultramodern. Die drei norwegischen Elefanten Fosse, Espedal und Knausgård gehen tief in seinen Spuren.
Das gilt, in etwas anderer Weise, auch für eine Autorin, die einst mit dem Vesaas-Debütpreis ausgezeichnet wurde.
Kjersti A. Skomsvold – melancholische Genügsamkeit
Zehn Jahre ist es her, dass die 1979 geborene Kjersti A. Skomsvold ihren ersten Roman, «Je schneller ich gehe, desto kleiner bin ich», vorgelegt hat. Nun erscheint – zweites Highlight dieses norwegischen Herbstes – ihr aktuelles Buch auf Deutsch.
«Meine Gedanken stehen unter einem Baum und sehen in die Krone» heisst es und erzählt in einer einfachen, aber betörend lyrischen Prosa von einer Schriftstellerin und dem Aufwachsen ihrer Tochter. Die Momente der Stille, denen Skomsvolds Erzählerin nachspürt, sind mit Zauber und Beklemmung besetzt, als herrschten in der Einfachheit des Alltags stets Geheimnis oder Gefahr. Etwa wenn die Erzählerin ihre Tochter berührt:
Der kleine Körper war so warm, aber ich konnte das Fenster des aufgeheizten Zimmers nicht öffnen, denn draussen war der Winter, zusätzlich zu all den toten Menschen.
Und so wie die kleine Siss im «Eis-Schloss» meint, auch nach Unns Verschwinden noch eine innige Nähe zu ihrer toten Freundin zu spüren, vielleicht gar eine tiefere als zuvor, so erzählt auch Skomsvold von Momenten des Verlusts, als seien sie paradoxe Kontaktschwellen. Als die Protagonistin vom Selbstmord ihres früheren Partners erzählt, tut sie das, als läge im Verlassen durch seinen Suizid ein letzter Versuch der Mitteilung.
Wir sehen die Erzählerin durch Räume und Landschaften streifen, zu Schönheit und Weisheit finden, selbst in den tiefsten Selbstzweifeln an ihrer Rolle als Mutter.
Kjersti A. Skomsvold zeigt, wie sich der Wechsel der Jahreszeiten als Auslöschung und zugleich als trostspendend begreifen lässt. Dieser Roman macht fassbar, wie die Wahrnehmung der Landschaft eine Weile die Enge des Menschseins zu lösen vermag:
Früher dachte ich, das Gute am Wald wäre, dass ich dort weiss, wer ich bin, aber in Wahrheit bin ich im Wald endlich von mir selbst befreit, ich kann einfach nur sein.
In der melancholischen Genügsamkeit dieses Erzählens, das nichts Lautes und Aufgeregtes hat, steckt das Geheimnis von sehr viel grosser norwegischer Literatur.
Wie für die Figuren von Tarjei Vesaas ist die entscheidende Geste dieser Erzählerin die einer bejahenden Akzeptanz. Da löst sich ein Ich allmählich von dem harten Griff seiner Alltagswelt und versucht eine Form von Hingabe, versucht mitzugleiten in den Zuständen der Zeit. «Ich weinte nicht, ich wurde geweint.»
Merethe Lindstrøm – «lauschende Stille»
Auch Merethe Lindstrøm (*1963) umzirkelt auf vielfache Weise die Stille und das Schweigen. Auch bei ihr ist der wahrnehmende Blick zugleich gelassen-altersweise und verwundert-kindlich, und wieder spielt ein Kind eine zentrale Rolle.
«Tage in der Geschichte der Stille» erzählt von der Beziehung zwischen Eva und Simon, die drei Töchter zusammen grossgezogen haben und gemeinsam alt geworden sind. Nun aber ist Simon in ein seltsames Schweigen verfallen. Die Erzählerin erfährt seinen Rückzug in die Stille wie eine Trennung. Als hätte sich Simon langsam und heimlich davongemacht:
Ich wache manchmal auf und denke, ich höre Simons Stimme, die ich jetzt ebenso allmählich vergesse, wie sie nach und nach von Schweigen ersetzt wurde.
Lindstrøm erzählt, wie Eva dennoch versucht, für Simon zu sorgen. Und die Autorin parallelisiert diesen Erzählstrang der Gegenwart mit Momenten aus der Vergangenheit: der gemeinsamen, aber auch Simons Kindheit, der als jüdischer Einwanderer einst die Stille als Rettung suchte, um vor den Nazis in einem Versteck unterzutauchen und zu überleben, während seine Familie deportiert wurde.
Der Roman folgt dem schwankenden Befinden der Erzählerin. Die Leserin begleitet sie durch einen Tag auf dem Friedhof, wo sie das verlassene Grab eines Jungen hegt. Wir folgen ihr in die Gedanken, ob Simon in einem Pflegeheim besser aufgehoben wäre.
Und dann werden wir in ihr eigenes Damals geführt, in eine Zeit vor dem Leben mit Simon und ihren Töchtern:
Ich bekam ein Kind, als ich viel zu jung war, so siebzehn oder achtzehn Jahre alt, den Vater des Kindes kannte oder erinnerte ich kaum, er ist mir heute so gleichgültig wie damals. Ich wollte das Kind nicht, hatte es aber trotzdem, für ein paar Monate nach der Geburt. Ein Junge, wohlgestaltet, bestimmt schön, alles, was ein Baby sein soll.
Wie Vesaas bleibt Lindstrøm auch in den einsamsten und dunkelsten Momenten sehr nah bei dieser Frau, lauscht ihr die Stille ab, wenn die Geister der eigenen Vergangenheit ins Jetzt drängen und nur durch Flucht niedergehalten werden können.
Dieser Roman ist das beeindruckende Porträt einer alternden Frau, in der sich Erinnerungen, Emotionen und Bedürfnisse auf komplexe Weise ineinander verhaken. Und wenn sie sich an ihr früheres Liebesleben mit Simon erinnert, dann klingt das, in schnörkelloser Sinnlichkeit, so:
Ich öffnete mich, bis heute kann ich spüren, wie ich mich geöffnet habe, dass er in mir ist, ich vermisse es, ich möchte, dass er mich wieder so erregt, möchte die Bewegung, die Erregung, den heissen Atem zwischen uns.
Lindstrøm entstammt einer anderen Generation als Skomsvold, doch mit ihr (und mit Vesaas) teilt sie das Interesse für die «lauschende Stille». Was für einen Kontrast bildet diese konzentrierte Prosa zu der Literatur von Jon Fosse, mit seinen ausufernden Satzkaskaden und den epischen, symbolischen Stoffen. Die darauf aus sind, zu biblischer Grösse anzuschwellen, wie etwa in seinem neuesten, auf sieben Teile angelegten Romanprojekt «Der andere Name».
Auch der autofiktionalen Alltäglichkeit eines Knausgård stehen die hier vorgestellten Bücher eher fern. Die norwegische Literatur ist sehr viel reicher als das, was wir kennen. Und es gibt keinen besseren Zeitpunkt als jetzt, sich diese Vielfalt zu erlesen. Wer eintaucht in die Gegenwartsliteratur dieses Landes, wo schon seit Jahrtausenden erzählt wird, dürfte einer jungen Literatur begegnen. Jung nicht im Sinne von Tradition. Sondern im Sinne eines neuen Blickes auf die Welt. Wie das Mädchen Siss bei Vesaas einmal denkt, als sie auf die Landschaft blickt: «Alles ist nackt und neu.»
Tarjei Vesaas: «Das Eis-Schloss». Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Hinkel. Guggolz Verlag, Berlin 2019. 199 Seiten, ca. 32 Franken. Der Verlag bietet eine Leseprobe.
Merethe Lindstrøm: «Tage in der Geschichte der Stille». Roman. Aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger. Matthes & Seitz, Berlin 2019. 221 Seiten, ca. 31 Franken. Der Verlag bietet eine Leseprobe.
Kjersti A. Skomsvold, «Meine Gedanken stehen unter einem Baum und sehen in die Krone». Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein. Hoffmann und Campe, Hamburg 2019. 128 Seiten, ca. 30 Franken.
Jan Wilm ist Schriftsteller, Literaturkritiker und Übersetzer. Seine Rezensionen und Essays erscheinen unter anderem im «Tagesspiegel», in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» und der «Los Angeles Review of Books». Vor kurzem erschien sein erster Roman «Winterjahrbuch» im Verlag Schöffling & Co. Für die Republik schrieb Jan Wilm bereits über den bedeutendsten Unbekannten der norwegischen Literatur, Dag Solstad.