Das Rätsel Dag Solstad
Dag Solstad: «T. Singer»
Der Norweger gehört zu den schrulligsten Autoren der Gegenwart. Und gilt in seiner Heimat mit als der wichtigste. Warum ist er hierzulande noch immer ein Geheimtipp?
Von Jan Wilm, 05.07.2019
In der Literaturgeschichte hat die Langeweile seit jeher weit weniger Sendezeit als Grossthemen wie Liebe, Leben und Tod. Dabei ist ohne Langeweile, ohne die Flauten zwischen den emotionalen Wirbelstürmen keine Dramatik, ja kaum Dramaturgie, kaum Handlung denkbar. Auch die Heil- und Hilfsmittel gegen den Zustand des Ennuis sind beliebte Stimulanzen der Literatur. In Zeiten der Leere und Langeweile, wenn der Geist vergeblich existenzielle Erbauung sucht, greifen gelangweilte Romanfiguren zu Büchern (Flaubert), zum Sex (Moravia, Houellebecq), zum Stift (Knausgård), zur Waffe (Dostojewski, Camus), zum Abwarten (Beckett, Pessoa) oder zur Flasche (alle).
Was jedoch jene Figuren mit ihrer existenziellen Eintönigkeit anstellen, die gar kein Ventil finden, keine Ablenkung und keinen Ausweg haben, kann man in den exquisiten Romanen von Dag Solstad nachlesen, dem 1941 geborenen Norweger, der nicht nur in seiner Heimat verehrt wird – und hierzulande trotzdem noch immer den Status «Geheimtipp» hat. Durch eine Solstad-Werkausgabe jedoch, die derzeit im Zürcher Dörlemann-Verlag angelegt wird, vergrössert der Autor auch im deutschen Sprachraum seine erlesene Clique von Fans, langsam aber sicher, Buch um Buch.
Was hat es auf sich mit den Texten dieses Autors?
Solstads Werk ist wandelbar und unbändig, oft enigmatisch und paradox, mal konventionell, mal experimentell, mal politisch, mal ganz apolitisch. So wie sein Autor selbst. In den späten Sechzigern schloss er sich der Kommunistischen Partei an und forderte mit seinen Genossinnen und Genossen die Verwirklichung der Revolution, wenn nötig auch mit Gewalt. Trotzdem verfasste der frühere Maoist auch die Chronik eines der grössten norwegischen Konzerne. Vielleicht ist das Seltsame, das Kuriose auch familiär: Solstads Vater unternahm in seinen späten Lebensjahren den Versuch, ein Perpetuum mobile zu erfinden.
Die Faszination für diesen Autor scheint dagegen global. Lydia Davis hat Norwegisch gelernt, um Solstads unübersetztes Œuvre verschlingen zu können. Haruki Murakami übersetzte ihn ins Japanische. Peter Handke widmete ihm Teile eines umfangreichen Essays, darin er dem norwegischen Kollegen ein Schreiben «mit inniger und liebender Ironie» zuspricht.
Höchste Zeit also, sich auch im deutschsprachigen Raum mehr dem Phänomen Solstad zuzuwenden. Den idealen Einstieg in den eigenwilligen Kosmos des Autors bietet passenderweise genau das Buch, das in diesem Frühjahr erschienen ist: der von Ina Kronenberger glänzend übersetzte Roman «T. Singer».
Sicher muss man die Aussagen eines Autors über sein eigenes Werk mit Vorsicht betrachten, doch im Interview mit der «Paris Review» 2016 meint Solstad, mit dem erstmals 1999 erschienenen Roman «T. Singer» habe er eine gewisse thematische und stilistische Form perfektioniert und somit eigentlich schon das Ende seines Werks erreicht. Warum könne man nicht auch schon zu Lebzeiten sein Werk als abgeschlossen betrachten, fragt der Autor. Und nach diesem abgeschlossenen Werk, so Solstad, seien weitere Romane immer möglich, doch sie seien lediglich schöne Überraschungen. Bislang hat er vier solcher «schönen Überraschungen» geliefert, die im Ansatz noch experimenteller und verspielter sind als ihre Vorgänger.
Was aber ist das Charakteristische an «T. Singer»? Und was das Unverwechselbare am Schreiben von Dag Solstad?
«T. Singer» ist gekennzeichnet von einer eigentümlichen Spielfreude, kommt jedoch nicht mit einer hakenschlagenden Handlung oder einer avantgardistischen Ästhetik daher. Der Roman treibt ein experimentelles Spiel mit dem langweiligen Leben seines vornamenlosen Helden, eines scheinbar lethargischen Durchschnittsmenschen, in dessen Leben oberflächlich betrachtet herzlich wenig passiert. Und der dafür über ein dynamisches und höchst eigentümliches Innenleben verfügt: «Er war ein rückgratloser Grübler, ein identitätsloser Lebensverleugner, ein ganz und gar negativer Geist, der das Ganze auf nahezu selbstaufopfernde Weise betrachtete. Er liess sich mit derart grosser Gleichgültigkeit treiben, dass diese ihm ein Gefühl von Freiheit oder Unabhängigkeit gab. Er war ein anonymer, unpraktischer Vagabund auf der Landstrasse des Lebens, er ging mit gebeugtem Rücken und starrte zu Boden im Frühling seiner Jugend, Jahr für Jahr.»
Eigenbrötler seit Kindesbeinen
Singer ist literaturgeschichtlich ein Verwandter von J. Alfred Prufrock, jenem Prototypen der literarischen Lethargie, den, ebenfalls vornamensverdünnt, der angloamerikanische Dichter T. S. Eliot geschaffen hat. In seinem statischen, zwanghaft durchritualisierten Dasein vermag es Prufrock allenfalls, seine Lebenszeit mit Kaffeelöffeln auszumessen.
Auch T. Singers Leben ist geprägt von Stillstand und Bewegungslosigkeit. Solstad stellt seinen Helden als 34-jährigen Einzelgänger vor, der in die norwegische Kleinstadt Notodden («Das Paris des Nordens») umsiedelt, um eine Anstellung als Bibliothekar anzutreten. Mit anderen Worten: «um inkognito zu leben».
Wenngleich Singer anscheinend von Kindestagen an ein Eigenbrötler und Existenzverweigerer war, gewährt der Roman behutsam Einblick in die Motivation zu seinem Einsiedlertum in Notodden: «Verschwinden zu können, hatte ihn immer schon fasziniert. Einen Neuanfang zu wagen in einer fremden Stadt, wo kein Mensch ihn kannte und wusste, wer er war.» So erschafft Solstad diesen T. Singer als einen Menschen, der gewissermassen in sich selbst verschwindet, sich hinter einer Maske versteckt, die er selbst ist.
So gleitet Singers Leben gemächlich fort. Den beharrlichen Traum, Schriftsteller zu werden, gibt er unter anderem auf, weil es ihm nicht gelingt, ein Blatt an einem Baum zu beschreiben. Wenn er auf dem Sofa liegt und aus dem Fenster blickt, schwelgt er durch die Grautöne seines inneren Himmels, durch eintönige Erinnerungen an eine Kindheit in sozialer Verstocktheit.
Doch auch in diesem Leben aus Langeweile, das neurotisch um Kleinstkerne der eigenen Erinnerung kreiselt, greift gelegentlich der aufrüttelnde Griff der Wirklichkeit ein: «Zwei Tage später passierte etwas. Singer verliebte sich.»
Beinahe nebenbei erzählt der Roman, wie Singer rein zufällig eine Beziehung mit Merete beginnt und wie er eine distanzierte Stiefvaterrolle für Meretes Tochter Isabella einnimmt. Solstads gelassen dahindriftender Stil, der häufig in plänkelnde Satzschlangen ausgleitet, verweilt nie lange bei seinen Handlungssträngen. Der Autor scheint viel eher daran interessiert, schnellstmöglich ins Reflektieren zu kommen. Was er dann wiederum als Handlung in den Text schmuggelt: «Kann ein Mann wie Singer sich verlieben? Ja, das kann er. Aber kann er unter dem Einfluss dieser Verliebtheit bei der Angebeteten einziehen, um in ihrem Bett zu schlafen und an ihrem Tisch zu essen, den sie sich nun teilten? Ja, das kann er. Singer tat es, aber es war nicht sehr ratsam, und man kann sich fragen, wie es möglich ist, dass ein Mann wie Singer sich auf diese unerbittliche Intimität einlassen konnte, die darin bestand, dass er dort stand, nackt, aufrecht, mit entblösstem Körper, den nichts verdeckte, vor einer nackten Frau, die sich ihm darbot.»
Ja, da liegts: Wenn Solstad existenzielle Eintönigkeit und alltägliche Banalität schildert, ist das selbst nie eintönig oder banal. Und der Autor beeindruckt auch nicht einfach durch seinen exakten Beobachtungsstil, er verfremdet die einfachsten Zustände ins Komische, rückt sie mit einer Prise Ironie humorvoll ins Bild.
Aus der Leere: ein Wunder
Wie die grossen Naturalisten, allen voran Emile Zola, nutzt Solstad die dramaturgischen Flauten, um seine Figuren in Sicherheit zu wiegen – nur um sie diesen Zuständen der Sorglosigkeit anschliessend radikal entreissen zu können. Ebenso zufällig wie Singer Merete fand, verliert er sie wieder. Denn sie stirbt bei einem Autounfall, und erneut geht der Roman beinahe über diese Tragödie hinweg, um Singers verschrobene Reaktion darauf zu reflektieren. «Der Tod macht uns zu sozialen Tieren», sinniert er nach dem Dahinscheiden seiner Frau. Und wenn er kurzerhand die Fürsorge der kleinen Isabella übernimmt, dann nicht etwa, weil er sich für das Mädchen interessiert, sondern ausschliesslich weil er dem kurzen Moment der Scham, der Peinlichkeit entgehen will, seine Schwiegereltern zu bitten, sie möchten das Kind zu sich nehmen.
Muss man eigens betonen, dass Singers Leben auch danach aus den Fugen geraten wird? Nicht dramatisch und mit Aplomb, sondern schleichend und nachgerade unmerklich gleitet es aus in die völlige Bedeutungslosigkeit. Ganz so, wie es T. S. Eliot in einem anderen seiner Gedichte, dem treffend betitelten «Die hohlen Männer», diagnostiziert: «Auf diese Art geht die Welt zugrund / Nicht mit einem Knall: mit Gewimmer.»
Und das ist das Wunder von Solstads Texten: Sie sind vollkommen fesselnd. Ihr Stil ist, auch in dem schönen Deutsch von Ina Kronenberger, mal umgangssprachlich, mal von flügelschlagendem Pathos. Eine «neualtertümliche Eleganz» hat Karl Ove Knausgård einmal Solstads Sprache attestiert.
Wie Thomas Bernhards Prosa sind auch Solstads Romane voll mit serpentinenschwingenden Sätzen, manchmal seitenlang völlig absatzfrei. Als kaute der Text wieder und wieder auf einer einzigen Sache herum, als wäre der Autor selbst verwundert darüber, dass seine Figuren dann und wann überhaupt irgendetwas tun. Und der Leser? Dem steht dazu staunend der Mund offen.
«Wahrhaftig, das ist Singer. Der Mann, der sich inkognito in Notodden aufhält», heisst es im Roman. Oder noch knapper: «Das Rätsel Singer.»
Und das Rätsel Solstad?
Er bleibt selbst ein Solitär. Ein Autor, dessen Werk die existenzielle Langeweile der Moderne weiterentwickelt, die man bei Knut Hamsun fand. Und der die alltägliche Existenzleere eines Karl Ove Knausgård vorwegnimmt. Einer, der abseitig bleibt, flüchtig; aber, betrachtet man ihn ganz genau, eindringlich, köstlich komisch und reizend zeitlos. Das ist Dag Solstad. Das Rätsel Solstad.
Dag Solstad: «T. Singer». Roman. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Dörlemann-Verlag, Zürich 2019. 288 Seiten, ca. 30 Franken. Hier gehts zur Leseprobe.
Jan Wilm ist Schriftsteller, Kritiker und Übersetzer. Seine Rezensionen und Essays erscheinen unter anderem im «Tagesspiegel», der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» und der «Los Angeles Review of Books». Sein Roman «Winterjahrbuch» erscheint im August 2019 im Verlag Schöffling & Co.