Höhenluft
Unsere beiden Reporter – schweizweit bewundert für ihre tiefschürfenden Gedankengänge – erörtern mit CVP-Präsident Gerhard Pfister und Grünen-Kandidatin Meret Schneider die grossen Fragen unserer Zeit. Wahljahr-Serie «Homestory», Folge 18.
Von Daniel Ryser, Olivier Würgler (Text) und Goran Basic (Bilder), 01.10.2019
Wird die CVP im Herbst ihren Bundesratssitz halten können? Wird es in der Mitte massive Verschiebungen zu den Grünliberalen geben? Wie schneiden die Grünen ab? Um diese hochspannenden Fragen zu diskutieren, sind wir an einem schönen frühherbstlichen Samstag nach Oberägeri im Kanton Zug zu CVP-Präsident Dr. Gerhard Pfister gereist.
Leider müssen wir Sie enttäuschen. Haben Sie wirklich geglaubt, wir zwei Geistesmenschen würden uns auf solche tagespolitischen Niederungen hinablassen? Diese arithmetische Kleinkrämerei überlassen wir anderen. Nein, heute, liebe Leserinnen und Leser, dürfen Sie ausbaden, dass man unsere Genialität beim «NZZ»-Feuilleton noch nicht erkannt hat und es uns verwehrt, dort jeden Samstag über Political Correctness und die Intoleranz der Linken zu sinnieren.
Oberägeri, Blick auf Morgarten, wo unsere aufrichtigen Ahnen 1315 das Land gegen habsburgische Streitkräfte verteidigt haben: Unter der Wirkung dieses Kraftortes schreiten wir in Gerhard Pfisters grosszügiger Wohnung mit Blick über den Ägerisee umgehend zu den grossen Fragen, die unsere postmoderne Gesellschaft umtreiben.
«Herr Pfister, leiden wir an einer transzendentalen Obdachlosigkeit?»
«Würde man das bejahen, würde man sich einen Gottesstaat wünschen, und das wäre ein gewaltiger Rückschritt», sagt der CVP-Präsident, während er Soda-Stream-Wasser serviert. «Es ist nicht die Aufgabe der Politik, das totale Angebot zu machen», sagt Pfister. «Die Globalisierung macht aus vielen Menschen heimatlose Wesen. In diesen Zeiten der Migration, der Islamisierung, muss man Begriffe wie Heimat zeitgemäss füllen. Das kann auch spirituell sein. Aber das können Sie politisch nicht steuern und das dürfen Sie auch nicht. In der Schweiz haben wir es immer wieder geschafft, den Menschen Heimat zu geben. Und das liegt daran, dass wir föderal, kleinräumig organisiert sind. Gregor Gysi sagte einmal zu mir: Er glaube nicht an Gott, aber er fürchte eine Gesellschaft, in der es keine Kirchen mehr gebe.»
Zwei seriöse Republik-Reporter touren kreuz und quer durch die Schweiz und suchen Politikerinnen heim. Sie wollen die Demokratie retten … obwohl, nein, eigentlich wollen sie sich vor allem betrinken und dass die Politiker sie nicht mit Floskeln langweilen. Das ist «Homestory» – die Wahljahr-Serie. Zur Übersicht.
Folge 3
Protestantische Disziplin, katholischer Genuss
Folge 4
Lust for Life
Folge 5
Highway to the Danger Zone
Folge 6
Und täglich grüsst das Murmeltier
Folge 7
Like a Prayer
Folge 8
Black Hawk Down
Folge 9
Brokeback Olten
Folge 10
Kommando Leopard
Folge 11
In einem Land vor unserer Zeit
Folge 12
Straight White Male
Folge 13
When the Man Comes Around
Folge 14
Die Posaune des linksten Gerichts
Folge 15
Guns N’ Roses
Folge 16
Wir Sonntagsschüler des Liberalismus
Folge 17
Alles wird gut
Sie lesen: Folge 18
Höhenluft
Folge 19
Im Osten nichts Neues
Folge 20
Here We Are Now, Entertain Us
Pfister erzählt von seinem Studium der Germanistik und der Philosophie in Fribourg und davon, wie ihn einer seiner Professoren für mittelalterliche Philosophie begeisterte. «Sie müssen sehr viel Aufwand betreiben, um überhaupt zu verstehen, was diskutiert wird», sagt er. «Dann ist es auch noch sprachlich hermetisch. Latein. Aber es ist eine extrem faszinierende Welt. Wo sie sehen konnten, wie viel Modernität in Philosophen wie Eckhart steckte. Oder auch in einem Dante.»
Kant sei ebenfalls wichtig gewesen, doch am meisten geprägt hätten ihn Schopenhauer, Nietzsche, Wittgenstein, und wir fragen Pfister, wie er das denn zusammengebracht habe, Nietzsche und das Christentum.
«Überhaupt nicht», sagt er. «Aber gerade deswegen war er spannend. Das hatte ich bereits bei der mittelalterlichen Philosophie gelernt: Verstand und Glauben aufeinanderprallen lassen. Das geht nicht ohne Konflikt.»
«Und in der Germanistik – welche Literaten sind Ihnen wichtig?»
«Handke. Botho Strauss. Sie beide sind in der modernen Literatur ihren eigenen Weg gegangen. Das fasziniert mich. Wenn Sie die Zeit um 1800 betrachten, die hohe Zeit der deutschen Literatur, dann interessieren mich Kleist, Hölderlin, auch Jean Paul, die Romantiker, die Brüche aufgezeigt haben, viel mehr als die Klassiker, als Goethe, Schiller.»
«Welche Brüche?»
«Kleist hat in seinen Werken viele Brüche vorweggenommen, welche die Modernität später hervorgebracht hat, die etwa in der Psychoanalyse hervortraten. Kleist sieht den Abgrund, er liest als einer der ersten Kant existenziell …»
«Und bringt sich dann um …»
«… und folgert daraus Dinge, die für jene Zeit absolut schockierend waren. Kant sagt, dass absolute Objektivität nicht möglich ist. Ding an sich ist nicht erkennbar. Er verwarf die falsche Vorstellung eines naiven Realismus, erkannte, dass der Mensch nicht das Zentrum ist. Der Bruch, der den Wechsel von der Neuzeit in die Moderne begleitet – Kleist hat ihn erkannt, hundert Jahre, bevor er eingetroffen ist.»
«Bevor was eingetroffen ist, Herr Pfister?»
«Die Dekonstruktion der Welt.»
«Die Dekonstruktion der Welt müssen Sie als Konservativer doch sicherlich argwöhnisch betrachten. Sie ist ja die philosophische Widerspieglung eines gesellschaftlichen Prozesses, der in der Auflösung der sozialen Milieus gipfelt.»
«So weit würde ich nicht gehen. Mehr Vielfalt führt nicht zwangsläufig zur Auflösung. Was die Moderne im Guten gebracht hat, ist eine Vielfalt von Ansichten. Dass der Mensch dadurch heimatloser wird, mag eine der Schwierigkeiten sein, die damit einhergehen. Dass die totalitären Ideologien das zu überdecken versuchen, ist etwas Negatives, das die Moderne mit sich gebracht hat. Es ist wie die moderne Forschung: Der Mensch macht unglaublich viele Entdeckungen, sieht unglaublich viel Neues und merkt gleichzeitig, dass er weniger wichtig wird. Alles wird komplizierter durch seine Fähigkeit, viel Neues zu sehen.»
«Kann man gleichzeitig wertkonservativ und fortschrittsoptimistisch sein?»
«Das schliesst sich nicht aus. Wertkonservativ heisst, dass man trotzdem offen bleibt. Man ist ideologisch nicht fixiert. Man versucht, nahe am Menschen zu sein, nahe am Pragmatismus, nahe an der Vielfalt. Mit einer grossen Skepsis gegenüber Ideen, die sich fortschrittlich geben, aber die Tendenz haben, Intoleranz zu fördern.»
«Welche Ideen meinen Sie?»
«Den Sozialismus.»
Wir sind tief schockiert. Voller guter Dinge, die Internationale pfeifend, waren wir an diesem Nachmittag in Zug in den Bus gestiegen und nach Oberägeri gefahren. Und jetzt diese Hiobsbotschaft. Unsere Harmoniebedürftigkeit zwingt uns zu einem Ablenkungsmanöver.
«Sieht man von Ihrer Wohnung eigentlich das Morgarten-Denkmal?»
«Natürlich, ich bin ja auch Präsident der IG Morgarten.»
Wir schreiten auf die prächtige Terrasse. Pfister zeigt uns das Dorf Morgarten, man sieht den Kirchturm, die Einbuchtung in der Landschaft, wo das Denkmal steht, vorgelagert zur Kirche.
«Es ist bis heute Anlass für grosse Kontroversen, ob die Schlacht wirklich dort stattgefunden hat. Die Zuger haben ein Denkmal gebaut zum 600-Jahr-Jubiläum an einer Stelle, wo sie definitiv nicht stattfand. Es gab grosse Irritationen im Kanton Schwyz. Die Schlacht, wenn sie denn stattgefunden hat, hat eher dort angefangen, sehen Sie, dort hinten, wo der Wald beginnt.»
«Wenn Sie denn stattgefunden hat?» – Der zweite Schock an diesem Tag: Zuerst will man uns unseren geliebten Sozialismus schlecht machen und jetzt auch noch unserer Geschichte berauben.
«Herr Pfister, wollen Sie sagen, die Schlacht von Morgarten ist nur ein Mythos?»
«Was heisst hier nur? Unterschätzen Sie die Mythen nicht. Sie sind ein Teil unserer Erinnerungsgeschichte. Man muss daraus keine Glaubensfrage machen. Sie sind Teil der Identitätsgeschichte. Ich bin froh, dass sich bei der Debatte um die Mythen in der Bevölkerung ein Pragmatismus durchgesetzt hat und nicht das Bild, dass jeder gleich ein Vaterlandsverräter ist, der infrage stellt, ob es genau so gewesen sein soll, wie es die Historiker einst aufgeschrieben haben.»
«Welche Funktion haben denn solche Mythen?»
«Dass wir wie am 1. August darüber nachdenken und diskutieren, was unser Staatswesen ausmacht. Und welche Werte uns ausmachen.»
«Welcher Wert wird über den Mythos Morgarten vermittelt?»
«Wie wichtig Freiheit ist. Dass sie nicht selbstverständlich ist. Dass sie durchaus auch erkämpft werden muss.»
Wir sitzen im Garten eines veganen Restaurants im Zürcher Kreis 5 und trinken Bier. Wir sind mit der grünen Nationalratskandidatin Meret Schneider verabredet, die uns zeigen will, wie vegane Menschen «essen». Schneider wirkt fit an diesem Abend. Man sieht ihr nicht an, dass sie sich vor wenigen Wochen den Mittelfussknochen beim Urban Gardening gebrochen hat, weil ihr ein Palettrolli über den Fuss gefahren ist.
«Habt ihr das Bier selber mitgebracht?», begrüsst sie uns.
«Das würden wir niemals tun.»
«Bei euch kann ich mir alles vorstellen.»
Wer Meret Schneider nicht mag, ist ein schlechter Mensch. Keine Politikerin musste von uns mehr Debilität ertragen als sie. Keine hat unsere dummen Sprüche – in ihrem Fall vor allem zum Thema Veganismus und Klima – so humorvoll gekontert wie Schneider. Sofort kommt es zum Schlagabtausch.
«Das ist das beste Restaurant, das es gibt», sagt sie.
«Das würden wir bestreiten. Das beste Restaurant ist das Emilio im Kreis 4.»
«Was gibt es dort?»
«Hähnchen.»
«Was für eine billige Provokation.»
«Sie brauchen zwei ganze Butter pro Hähnchen.»
«Um die Ökobilanz richtig in den Boden zu stampfen.»
«Wie geht es dir, Meret?»
«Super, ich war gerade in den Bergen. Bin voll aufgetankt. Ich würde am liebsten Bäume ausreissen. Wobei, als Grüne lass ich das besser bleiben.»
Wir wollen mit Schneider über den Zustand ihrer Partei reden, die in diesem Wahlkampf, der für die Grünen ein aufgelegter Elfmeter wäre, überhaupt nicht präsent ist.
«Ich bin momentan enttäuscht von den Grünen», sagt sie. «Die Grünen müssen jetzt mit radikalen Positionen voranschreiten und nicht mit moderaten. Es ist falsch zu sagen, man gehe jetzt ein bisschen einen Mittelweg. Jetzt, wo sogar die FDP eine Veranstaltung zu nachhaltiger Landwirtschaft macht. Ich weiss, ich bin das Arschloch von den Grünen, das immer alle anpisst. Aber die SP ist auch nur darum progressiv, weil sie regelmässig von Leuten wie Cédric Wermuth gechallenged wird. Die Grünen haben fast niemanden, der sie wirklich herausfordert, der aufzeigt, was wirklich nachhaltige Ernährung wäre. Wenn das einzig Vegane, das ich beim Parteiapéro nach den Kantonsratswahlen zu Essen kriege, ein paar verdammte Tomätchen auf dem Buffet sind, dann muss ich sagen: Fail, meine lieben Grünen. Fail. Man müsste ein total veganes Bankett machen und zeigen, dass es genussvoll für Umwelt, Mensch und Tier geht. Das ist der Way to go. Das wäre auch der wissenschaftliche Weg. Denn die ETH sagt, dass der Hauptbeitrag, den die Schweiz leisten könnte, um den CO2-Ausstoss zu minimieren, eine Reduktion des Tierbestands wäre. Welcher Grüne steht hin und sagt: Wir müssen jetzt diese Tierbestände reduzieren? Suche mir diesen Grünen.»
Wir erzählen vom Mittagessen bei Cédric Wermuth, als dieser uns mit Pouletfilets verköstigte und sagte, dass die Klimafrage in erster Linie eine Klassenfrage sei.
«Redet von Klassenkampf und serviert Poulet», sagt Schneider. «Unglaublich. Beutest die Menschen in anderen Ländern aus und redest in der Schweiz vom Klassenkampf. Diese Klassenkampf-Rhetorik kotzt mich sowieso an. Marx und Pestalozzi sind tot.»
«Seine Position ist doch schon ein bisschen weiter gedacht als diese vulgäre Konsumkritik, die uns sagt: Esst kein Fleisch.»
«Ich esse global betrachtet. Hinter dem, was ich anklage, leiden sämtliche Menschen in weniger privilegierten Regionen plus sämtliche Milliarden von Tieren überall. Hinter seiner Position leiden nur die Menschen.»
«Wenn wir das Konsumverhalten des Durchschnittsmenschen in der westlichen Welt betrachten, ist es doch so, dass unter allem, was wir konsumieren, irgendjemand gelitten hat. Unter unseren Jeans hat vermutlich jemand gelitten, und unter unseren Schuhen vermutlich auch.»
«Es gibt aber verschiedene Ausmasse des Leids. Beim Essen ist es so, dass du dort ohne grossen Aufwand mega viel Leid verhindern könnest. Beim Essen kannst du sagen: Wir stellen um auf pflanzlich und vermeiden dadurch mega viel Leid. Bei den Jeans ist es ja schon viel komplexer. Du musst schauen, wo werden etwas bessere Jeans produziert bezüglich Chemikalien, bezüglich der Arbeitsverhältnisse.»
«Und wenn das Poulet mit Futter aus der Schweiz gefüttert wurde?»
«Dann hast du ja trotzdem ein Lebewesen umgebracht, das etwa gleich empfindungsfähig ist wie ein Hund.»
«Als kulinarische Freunde des Appenzells würden wir auch einen Hund essen.»
«Das ist wenigstens konsequent.»