«Es geht darum, die Klassenfrage wieder als das vorherrschende Problem zu begreifen»

Der Star-Intellektuelle Francis Fukuyama fordert einen Nationalismus, der offen ist für alle. Und dass die Linke wieder richtig links ist.

Ein Interview von Daniel Binswanger, Daniel Graf (Text) und Christian Werner (Bilder), 09.03.2019

Francis Fukuyama, auf einer Bank in Hannover: «Wir sollten auch über integrativere Arten von Identität nachdenken.»

Für Hegel bedeutete Philosophie: die eigene Zeit in Gedanken gefasst. Würde man diese Definition zugrunde legen, könnte man den amerikanischen Politik­wissenschaftler Francis Fukuyama als wichtigsten Philosophen der letzten dreissig Jahre bezeichnen.

Kein philosophisches Schlagwort ist so wichtig und bekannt geworden wie «Das Ende der Geschichte». Die Formel war der Titel eines Essays von 1989, mit dem Fukuyama den Optimismus der 1990er-Jahre vorwegnahm und den Glauben an den definitiven weltgeschichtlichen Sieg der liberalen Demokratie auf den Begriff brachte.

Heute leben wir in anderen Zeiten. Identitäts­politik bestimmt den Geist der Epoche – und Fukuyama hat einen Essay über Identität veröffentlicht. Die Republik hat den politischen Denker in Hannover zum Gespräch getroffen.

Herr Fukuyama, dürfen wir mit einer persönlichen Frage beginnen?
Bitte!

Wie würden Sie Ihre eigene Identität definieren?
Ich bin in New York City aufgewachsen und habe mich immer als Amerikaner verstanden. Geboren wurde ich 1952, also lange bevor Fragen von Ethnizität und Identität ins öffentliche Bewusstsein kamen. Jedenfalls habe ich mich nie als Japanese American oder als Asian American gefühlt. Ich wäre sogar verärgert gewesen, wenn Leute mich auf diese Weise definiert hätten. Heute ist die Situation eine andere, weil die ethnische Identität wichtiger geworden ist und viel lautstärker in Anspruch genommen wird. Aber ich selber hatte nie dieses Bild von mir, sondern fand es eigentlich immer gut, mich als Amerikaner bezeichnen zu können, ohne zusätzliches Label.

Unter den vielen bestimmenden Faktoren von Identität legen Sie also den Akzent auf die Nationalität?
Ich denke, der Nationalstaat ist noch immer der Ort der politischen Macht in der heutigen Welt. Wir schaffen demokratische politische Systeme, um Macht zu regulieren, und die Nationen sind die Einheit, die über Armeen, Polizei, Gesetze und alles Weitere bestimmen. Ohne solche Gemeinschaften, die politische Strukturen ausprägen, können Demokratien nicht existieren. In Europa ist die Sache etwas komplizierter, weil es da dieses Gebilde namens Europäische Union gibt, das oberhalb des existierenden National­staats angesiedelt ist. Das bedeutet, der Sitz der Macht ist weniger eindeutig zu identifizieren. Aber auch in Europa sind es in Wirklichkeit die Mitglieds­staaten, aus denen sich die politische Legitimität speist – und deshalb muss das Nachdenken über Identität, wohl oder übel, auf dieser Ebene stattfinden.

Wir brauchen also Identität, aber es gibt ein Problem mit Identitätspolitik?
Es kommt darauf an, wie man Identitäts­politik versteht. Eines der Probleme in den letzten Jahren ist, dass in engen ethnischen Begriffen gedacht wurde. Identitäts­politik basierte auf race, Ethnizität, Gender oder auf anderen Merkmalen, die Menschen voneinander unterscheiden. In einer Demokratie ist das problematisch. Wir sollten auch über integrativere Arten von Identität nachdenken.

Sie haben sich also nie als «Bindestrich-Amerikaner» verstanden. In einem Interview sagten Sie einmal, Sie und auch Ihr Vater hätten niemals Diskriminierung erfahren …
Lassen Sie mich das ein wenig korrigieren. Die Familie meines Vaters wurde während des Zweiten Weltkriegs in ein relocation camp gesteckt, denn nach Pearl Harbor wurden alle Japanese Americans, auch wenn sie amerikanische Bürger waren, gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und ihre Geschäfte aufzugeben. Es gab also Diskriminierung. Aber seinen Erzählungen nach hatte mein Vater später nie das Gefühl, dass rassistische Diskriminierung ein Hindernis sein könnte für seine Laufbahn.

Sie haben andere Erfahrungen gemacht als zum Beispiel «Black Americans»: Hat das einen Einfluss auf die Art, wie Sie über Identität und Identitäts­politik nachdenken?
Nicht unbedingt. Es gibt viele Leute, die meine Erfahrungen geteilt haben und ganz andere Meinungen zu all diesen Fragen haben. Viele Asiaten und Asian Americans legen grossen Wert auf ihre spezifische asiatische Identität. Und innerhalb der verschiedenen asiatischen Gruppen – Chinesen, Koreaner, Japaner – gibt es unterschiedliche Haltungen zur Integration in die amerikanische Gesellschaft. Aber ich wäre der Erste, der zugibt, dass meine Erfahrung sich sehr stark von der eines Black American unterscheidet. Ich glaube, dass Menschen, die über ihre gelebte Erfahrung sprechen und deren Einzigartigkeit betonen, tatsächlich einen Punkt haben. Es ist schwierig, sich vorzustellen, was es heisst, Teil einer anderen ethnischen Gruppe zu sein.

Das wäre also ein Plädoyer für die Legitimität der identitätspolitischen Agenda.
Meine Position ist folgende: Ich glaube nicht, dass irgendetwas falsch daran ist, spezifische Rezepte gegen Ungerechtigkeiten zu haben, die ganz bestimmte Gruppen erfahren. Die Probleme von Schwarzen unterscheiden sich von jenen der Frauen, und diese wiederum sind anders als jene von Hispanics oder Homo­sexuellen. All diese Gruppen erfahren Ungerechtigkeit auf verschiedene Arten, und wir brauchen Abhilfe gegen jede einzelne davon. Zusätzlich brauchen wir aber auch eine gemeinsame Erfahrung, in der Menschen sich als Teil derselben demokratischen Gemeinschaft erleben; dass sie gewisse Grundwerte teilen und gesprächsfähig bleiben müssen, auch im Dissens und selbst wenn ihre Erfahrungen sich sehr stark voneinander unterscheiden. Auch dann muss es noch eine gemeinsame Grundlage zur Verständigung geben. Wir brauchen also beides: spezifische Lösungen für partikuläre Identitäten, aber auch den grösseren Rahmen, innerhalb dessen wir eine demokratische Gemeinschaft aufbauen.

Wie kann es gelingen, Anerkennung für diese Unterschiede zu erlangen, ohne dass die Differenzen zur Gefahr für diesen gemeinsamen Rahmen werden?
Es ist nicht einfach, über diese Frage im Abstrakten zu sprechen. Sobald Identität exklusiv wird in einer Weise, in der sie Menschen einteilt in die Guten innerhalb und die Bösen ausserhalb, gerät Identität in Konflikt mit der grundlegenden Toleranz und Gleichwertigkeit, die nötig ist für eine demokratische Gesellschaft. Aber anzuerkennen, dass solche Unterschiede existieren und dass aus ihnen unterschiedliche Gerechtigkeits­anliegen erwachsen – dagegen kann eigentlich niemand etwas einwenden.

In Ihren Interviews betonen Sie die Legitimität von Minderheiten­anliegen viel stärker als in Ihrem Buch. Dort erscheint Identitäts­politik, insbesondere auch die der Linken, vor allem als Treiber gesellschaftlicher Spaltung.
Darin liegt vielleicht eine gewisse Ironie, aber ich glaube, die Leute auf der politischen Rechten lesen meine Bücher gar nicht. Darum wende ich mich auch nicht primär an sie. Die meiste Kritik bekomme ich von links, weshalb ich zu meiner Verteidigung gerne unterstreiche: Ich habe gar nicht grundsätzlich etwas gegen die Agenda, Minderheiten besser zu repräsentieren und gegen Diskriminierung zu schützen. Mein Punkt ist nur, dass dies allein nicht reicht, um eine intakte demokratische Gesellschaft aufzubauen. Dass wir auch eine weiter reichende Integration brauchen. Der einzige Grund, warum ich mein Buch geschrieben habe, liegt darin, dass ich mich vor der Rechten fürchte. Die Identitäts­politik von rechts ist die bedrohlichste, denn sie läuft darauf hinaus, eine im Grundsatz rassistische nationale Identität wiedereinzuführen. Das wäre eine Katastrophe, egal in welcher modernen Demokratie.

Die zentrale Frage lautet: Wie schaffen wir eine inklusive nationale Identität?
Ich bin in erster Linie ein Theoretiker der modernen Demokratie. Als solcher bin ich überzeugt, dass diese Staatsform auf einer demokratischen Gemeinschaft gründen muss, dass sie angewiesen ist auf eine von allen geteilte Identität auf der Ebene der Staats­bürgerschaft. Die Bürger müssen das Gefühl haben, untereinander etwas gemeinsam zu haben, was sie zu einem Teil der politischen Gemeinschaft macht, in der sie das Wahlrecht und das Recht besitzen, um politische Lösungen zu ringen. Wenn es das nicht gibt, wenn keine umfassende, sondern nur partikuläre Identitäten gegeben sind, kann die Demokratie nicht funktionieren. Selbst ein Staat ist dann nicht denkbar. Dass im Nahen Osten in den letzten Jahren so viele Staaten gescheitert sind, liegt daran, dass sich in keinem dieser Länder ein echtes Gefühl nationaler Identität ausgebildet hat.

«Was der Rechts­populismus besser gemacht hat, war, die Sehnsucht der Menschen nach Zugehörigkeit zu erkennen.»

Ihr Metier ist in erster Linie die politische Theorie. In Ihrem Buch spielt jedoch auch die Psychologie eine grosse Rolle. Was aber liesse sich von der Psychologie lernen, um das Konzept der Nation inklusiver zu machen?
Jede politische Theorie sollte bei der Psychologie ansetzen. Ihre Grundlage muss ein theoretisches Verständnis von der Natur des Menschen sein. Eines der Probleme in Bezug auf die Vorherrschaft der modernen Ökonomie als führende Sozial­wissenschaft ist ihr reduktionistisches Verständnis der menschlichen Psychologie. Im Grunde geht sie davon aus, dass Menschen Wünsche und Vorlieben haben und dass sie, ausgehend davon, rational denken, also ihren Verstand nutzen, um ihre Ressourcen zu maximieren. Vergessen wird dabei, was die Griechen thymos nannten. Die Tatsache, dass wir auch nach Würde streben.

Ein Umstand, auf den Sie bereits vor dreissig Jahren hingewiesen haben, in «The End of History».
Es ist ein durchgängiges Thema meines Schreibens. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Sehnsucht nach Würde und Anerkennung häufig wichtiger ist als das Streben nach Gewinn­maximierung. Beim Brexit-Votum zum Beispiel hat das Remain-Lager die Wähler auf all die wirtschaftlichen Katastrophen hingewiesen, die passieren würden. Viele sagten: Na gut, dann ist das so, Hauptsache, die Ausländer bleiben draussen. Die Frage der Identität war wichtiger als ökonomische Erwägungen. Hier liegt der Fehler, den viele Verteidiger der liberalen Demokratie machen: Sie verstehen nicht, dass Identität eine immense Rolle spielt für die Leute.

Welche Folgerungen ziehen Sie daraus?
Viele Menschen sagen, schuld am Aufstieg des Populismus seien die Globalisierung und die wachsende weltweite Ungleichheit. Die Frage aber ist, warum die erfolgreichsten populistischen Bewegungen alle auf der Rechten zu finden sind und nicht auf der Linken. Man würde doch denken, die weltweit wachsende Ungleichheit verleihe dem linken Populismus Auftrieb. Sozialistische oder kommunistische Parteien sollten daraus Kapital schlagen.

Warum ist das nicht der Fall?
Weil die meisten linken Parteien von Natur aus zu kosmopolitischem Denken neigen. Die Nation und Fragen nationaler Identität liegen nicht in ihrem Fokus. Was der Rechts­populismus besser gemacht hat, war, die Sehnsucht der Menschen nach Zugehörigkeit zu erkennen – und dass sie das Gefühl haben, es werde ihnen etwas weggenommen, von den Eliten und von den Einwanderern. Das hat zu dem geführt, was ich einen falschen Sinn von Identität nennen würde, also zum Versuch, das Identitäts­denken auf die ausgrenzenden, ethnischen Grundlagen zurückzuführen, die es im frühen 20. Jahrhundert hatte. Es ist eine echte Gefahr: Auf der einen Seite haben wir eine Linke, die Identitäts­fragen nicht ernst nimmt, weil sie überzeugt davon ist, dass wir alle Welt­bürger sind – eine meines Erachtens unhaltbare Annahme. Auf der anderen Seite haben wir eine Rechte, die Identität durch ethnische Unterschiede definiert. Was wir hingegen brauchen, sind nationale Identitäten, die in den Idealen der Aufklärung und der Idee gleicher Menschen­würde verankert sind. Und die Menschen verschiedener kultureller Hinter­gründe in eine demokratische Gemeinschaft zu integrieren vermögen.

Sie betonen, dass soziale Ungleichheit ein zentrales Problem ist. Bedeutet das nicht, dass die Linke zur Klassen­frage zurückkehren muss?
Ja, das wäre ein Anfang. Das gilt noch stärker für die USA als für Europa. Viele linke Parteien haben ihre Basis in der Arbeiter­klasse, aber sämtliche linken Parteien haben den Bezug zu einem Grossteil der weissen Arbeiter­klasse verloren. Die deutschen Sozial­demokraten sind bekanntlich in nur einer Generation von 45 auf 25 Prozent abgestürzt. Viele Wähler haben zur AfD gewechselt oder zu den Konservativen. Sie haben das Gefühl, dass die linken Parteien sie nicht mehr vertreten.

Sie sprechen von der weissen Arbeiter­klasse. Bestünde die Aufgabe nicht gerade darin, eine Arbeiter­klasse jenseits der Unterscheidung von Schwarz und Weiss zu vertreten?
Doch, natürlich. Es geht darum, die Klassen­frage wieder als das vorherrschende politische Problem zu begreifen, nicht die Frage nach race.

Damit sind wir mitten in Fragen der Rhetorik. Von der weissen Arbeiter­klasse zu sprechen, schreibt das nicht genau eine solche Form der Spaltung fest, wie Sie sie kritisieren?
Ich betrachte das als ein Gebot des politischen Realismus. Die Leute reden in dieser Terminologie. Das Ziel ist, über diese Aufteilung hinauszugelangen. Aber die Realität ist, dass solche Unterscheidungen aufgrund der Konjunktur von Identitäts­politik wieder relevant geworden sind. Wenn wir darüber hinauskommen wollen, müssen wir uns dieser Realität stellen.

Auch die Wissenschaft muss in den Begriffen sprechen, die in der Bevölkerung kursieren? Ist es nicht auch Aufgabe der Wissenschaft, auf die Transformation …
Man legitimiert diese Begriffe damit nicht, man benutzt sie lediglich als deskriptive Kategorien. Weil die Menschen nun mal in diesen Begriffen denken.

In den USA betreibt die Linke einerseits die Identitäts­politik, die Sie kritisch sehen. Es gibt aber andererseits auch einen grossen Aufschwung für den demokratischen Sozialismus, der die Klassen­frage ins Zentrum stellt – und nicht nur in den USA. Hat diese klassisch orientierte Linke eine Zukunft?
Ich denke, ja. Es wäre für alle besser, wenn die klassisch orientierte Linke eine Renaissance erleben würde. Anfang der 1990er-Jahre haben viele linke Parteien angefangen, mit der Rechten zu paktieren und sich in die Mitte zu bewegen – bis sie von Mitte-rechts-Parteien kaum noch zu unterscheiden waren. Ich bin nicht gerade begeistert vom linken Flügel der US-Demokraten, der tatsächlich zum demokratischen Sozialismus zurückkehren will. Ich bin der Meinung, dass damit eine Menge Probleme verbunden sind. Aber lieber streite ich über Verteilungs­politik als über Identitäts­fragen. Darüber, ob die Steuern zu hoch oder zu niedrig sind, kann man eine vernünftige Debatte führen. Daran beteilige ich mich lieber als an Auseinander­setzungen zwischen fix kategorisierten Identitäten.

Wie kann ein positiver «thymos» kreiert werden, damit die schwarze und die weisse Arbeiter­klasse für gemeinsame Interessen einstehen – anstatt gegeneinander ausgespielt zu werden?
Dadurch, dass die klassischen sozialdemokratischen Parteien ihnen Schutz bieten und für Umverteilung sorgen. Man kann das durch Programme ergänzen, die sich gezielt an bestimmte Gruppen richten. Die ganze Frage nach sexuellen Übergriffen zum Beispiel, die durch die #MeToo-Bewegung aufkam, ist grundsätzlich keine Klassen­frage, sondern etwas, das spezifisch Frauen betrifft und dem man auf kultureller Ebene begegnen muss. Es geht darum, wie Männer über Frauen denken und wie sie sie behandeln. Man löst solche Fragen nicht, indem man so tut, als gäbe es keine Geschlechter­unterschiede, sondern man braucht spezifische Lösungen. Aber ich glaube eben auch, dass wir sozialen Miss­ständen auf einer breiteren Basis begegnen müssen. Man muss beides gleichzeitig tun.

Was in Ihren früheren, stärker von Hegel beeinflussten Arbeiten zur Geschichte der Moderne eine immense Rolle spielte, ist die Vorstellung, dass der Ort der Versöhnung aller Anspruchs­gruppen der moderne Rechts­staat ist. Und dessen Grund­prinzip ist Reziprozität, also wechselseitige Anerkennung. Haben wir die Reziprozität verlernt?
Das Problem mit der universellen Anerkennung im Sinne Hegels ist, dass sie gar nie universell war. Sie ist immer gebunden an das, was wir Nation nennen. Die gegenseitige Anerkennung kann nur stattfinden innerhalb eines politischen Systems, das die Macht in seinen Händen konzentriert und in der Lage ist, Grund­rechte durchzusetzen und gesetzliche Rahmen­bedingungen zu garantieren. Es gibt de facto eine Art Lücke in der Theorie der modernen Demokratie: Wir haben keine überzeugende Antwort auf die Frage, wer genau zum Staats­volk gehören soll, für dessen Bürger solche Rechte gelten müssen. Wenn man sich die Geschichte der Entstehung der modernen Demokratien anschaut, ganz besonders in Westeuropa, so bildeten sich die Nationen in vordemokratischen Zeiten heraus. Deutschland, die Nieder­lande, Frankreich und Gross­britannien waren im Grunde Neben­produkte zahlloser gewaltsamer Auseinander­setzungen, von ethnischen Säuberungen, Vertreibungen, territorialen Eroberungen, Religionskriegen.

Die Demokratie entsteht als Nebenprodukt?
Am Ende eines langen Prozesses entstehen Nationen, die eine gewisse Homogenität in ihrer Sprache haben – die Schweiz ist eine Ausnahme – sowie eine gewisse gemeinsame Weltsicht. Und dann werden sie zu Demokratien. Menschen, die in heutigen Demokratien leben, haben häufig kein Bewusstsein mehr dafür, dass nationale Identitäten durch nicht-demokratische Mittel herausgebildet worden sind, häufig durch blutige Auseinander­setzungen. Und diese Lücke in der Theorie hat Folgen: Wir wissen nicht, wie wir die national­staatliche Basis definieren sollen, auf der moderne Demokratien ruhen. Fakt ist, dass mit der Globalisierung und der zunehmenden Mobilität der Menschen die Länder weniger homogen und diverser werden. Deshalb glaube ich, dass wir eine neue Theorie brauchen, mit der wir erfassen können, was eine konkrete Bevölkerungs­gruppe de facto zusammenhält.

Man könnte es auch umgekehrt machen und ein echtes Konzept der universellen gegenseitigen Anerkennung formulieren, das nicht auf nationale Gemeinschaften beschränkt ist.
Es kommt darauf an, was Sie unter «echt» verstehen. Ich glaube nicht, dass eine universelle, kosmopolitische Demokratie, die auf nationale Grenzen keine Rücksicht mehr nimmt, existenzfähig ist. Wir wissen nicht, wie wir sie erschaffen sollen. Es gibt keine internationalen Organisationen, die über Armeen verfügen, eigenständig eine Rechts­ordnung durchsetzen können, die Gestaltungs­macht von Nationen besitzen. Auf der supranationalen Ebene der politischen Organisation stossen wir schnell an Grenzen – ob wir das nun gut finden oder nicht.

Aber wenn wir Sie recht verstehen, wäre die kosmopolitische Welt­demokratie die logische Vollendung des liberalen Rechtsstaates?
Ohne Zweifel. Die Idee der Europäischen Union zum Beispiel bestand darin, eine Gruppe von Ländern, die keine besonders weit entwickelten Rechts­staaten waren, in eine demokratischere, liberalere Union zu überführen und die nationale Identität zu überwinden. Meines Erachtens wurden diese Hoffnungen jedoch enttäuscht. Wir sind nicht – um mit Habermas zu reden – in einem «post­nationalen» Europa angekommen.

Die Sehnsucht nach Würde und Anerkennung sei häufig wichtiger als das Streben nach Gewinnmaximierung, sagt Fukuyama.

Sie fordern also ein integratives National­bewusstsein. Welche Forderungen muss ein Staat an Neuankömmlinge stellen? Und was muss die Mehrheits­gesellschaft den Minderheiten gewährleisten, damit die gemeinsame Grundlage von allen bejaht wird?
Die erste Forderung besteht in dem, was die Deutschen «Verfassungs­patriotismus» nennen. Die Menschen müssen auf eine fundamentale Loyalität zu den grundlegenden Institutionen wie der Verfassung und der Rechts­staatlichkeit verpflichtet werden. Darüber hinaus ist auch eine emotionale Verbindung mit der Gesellschaft nötig, aber diese Verbindung darf an nichts geknüpft sein, was nur für bestimmte Gruppen innerhalb der Bevölkerung wichtig ist. Die Religion, die in der europäischen Geschichte ein entscheidender Teil der nationalen Identität war, kann diese Funktion nicht mehr erfüllen, weil heute in den verschiedenen Ländern eine zu grosse religiöse Diversität herrscht. Es müssen andere integrative Symbole geschaffen werden, in denen sich alle wiederfinden können.

Zum Beispiel?
In meinem Buch führe ich etwa «Invictus» an, einen Film, der im Südafrika nach der Apartheid spielt. Nelson Mandela war sich bewusst, dass die massive Segregation der Gesellschaft weiter fortbestand und dass sie dringend überwunden werden musste. Eine dieser Spaltungen betraf den Sport: Die Weissen spielten Rugby, die Schwarzen spielten Fussball. Mandela arbeitete darauf hin, auch schwarze Südafrikaner für das nationale Rugbyteam zu begeistern. Der Film erzählt die Geschichte dieses Kampfes, davon, die Bevölkerung zu den verschiedenen Sportarten ein gemeinsames Verhältnis entwickeln zu lassen. In der Geschichte der Vereinigten Staaten gab es übrigens ähnliche Episoden: Baseball wurde in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts popularisiert, als Teil einer bewussten Bemühung, den Norden und den Süden von dem schrecklichen Krieg, den sie gerade ausgefochten hatten, abzulenken und eine gemeinsame Leidenschaft zu wecken. Das hat gar nicht schlecht geklappt.

Sport ist der neue Integrationsfaktor?
Einer von vielen! Es gibt natürlich auch die Künste, die Dichtung, die Literatur, zahllose Elemente, die in ihrer Summe eine nationale Kultur ausmachen. Entscheidend ist aber, dass diese geteilte Kultur in einer modernen Gesellschaft für alle Bürger zugänglich ist.

An welchen Fehlern liegt es, wenn eine nationale Kultur diese Zugänglichkeit nicht gewährleisten kann?
Na ja, das ist nicht ganz einfach ... (lacht) Das kann ich nur mit einem Beispiel beantworten.

Bitte!
Ich war während mehrerer Jahre Visiting Professor an der Universität von Aarhus in Dänemark. Das war sehr interessant: Dänemark hat, wie viele europäische Länder, eine sehr starke nationale Kultur, seine eigenen Feiertage, seine Bräuche, seine Küche. Eine Amerikanerin, die seit zehn Jahren mit einem Dänen verheiratet ist und in Dänemark lebt, hat mir gesagt: «Wissen Sie, es ist für mich immer noch schwierig, von den Leuten akzeptiert zu werden, weil ich all diese Rituale nicht verstehe.» Die meisten europäischen Länder funktionieren so. Das ist nicht per se falsch, und ich würde sicher nicht dafür plädieren, dass die Länder ihre kulturellen Eigenheiten aufgeben. Aber wir müssen uns bewusst sein, dass soziale Offenheit entscheidend ist für die demokratische Gesellschaft. Allzu gefestigte Bräuche können dazu führen, dass Leute ausgeschlossen werden.

Kann Integration funktionieren, ohne dass die potenziell ausgeschlossenen Minderheiten in den Institutionen oder in den Debatten angemessen repräsentiert werden? In Ihrem Buch liefern Sie einen Überblick über die Ideen­geschichte von Platon bis heute. Aber es kommen nur weisse, männliche Autoren vor.
Es ist ganz einfach nicht realistisch zu glauben, eine ausgewogene Repräsentation sei in allen Feldern möglich. Es gibt die Forderung, dass in allen Berufen und allen Lebens­bereichen der Frauen­anteil exakt 50 Prozent betragen soll und dass jede ethnische Minderheit proportional zu ihrer Stärke in der Bevölkerung vertreten sein müsse. Ich glaube nicht, dass wir das je realisieren können.

Wir könnten ja mal mit weniger als dem Ideal anfangen ...
Das findet durchaus statt. Aber es ist falsch, nur auf den Minderheiten­proporz zu achten und Qualifikation oder Leistung nicht in Betracht zu ziehen. Wenn Sie verstehen wollen, wo die Institutionen des liberalen Rechts­staates herkommen, was wir als legitim betrachten und was nicht, welche philosophischen Konzepte dem zugrunde liegen – dann werden Sie sich ausschliesslich mit weissen, männlichen Autoren auseinandersetzen müssen. So verlief nun einmal die geschichtliche Entwicklung. Ich selber bin ja kein weisser Mann, aber es ist dennoch die Tradition, in der sich meine Ausbildung vollzog und die mein Denken prägt. Dafür werde ich mich nicht entschuldigen. Wenn Sie sich mit Theorien über die moderne Demokratie auseinandersetzen, werden Sie nicht massenweise auf chinesische Autoren stossen, die einen Einfluss darauf hatten, wie diese Institutionen funktionieren. Die chinesische Zivilisation hat andere Traditionen.

Es gäbe doch vor allem etwas zu gewinnen für die Diskussion, ganz besonders wenn es um Identität geht, wenn etwa Aktivisten der Black-Power-Bewegung oder postkoloniale Theoretikerinnen zu Wort kämen.
Sicher, das wäre begrüssenswert. Wir müssen Diskussionen führen, in denen alle Perspektiven zur Geltung kommen. Es scheint mir aber ein grosses Problem zu sein in der heutigen akademischen Welt, dass viele Leute, die postkoloniale oder kritische Rassismus­theorien vertreten, ihrerseits nicht sehr tolerant sind gegenüber anderen Stand­punkten. Diese Theorien sind häufig selber ausgrenzend und nicht besonders liberal.

Ihre Theorien kreisen immer wieder um das Wesen der Moderne. Das Wertesystem unserer Epoche hat viel mit Selbst­verwirklichung zu tun. Das authentische Selbst soll zur Geltung kommen, sich ausdrücken können. Sie nennen das «expressiven Individualismus», betrachten diesen jedoch sehr kritisch. Was ist das Problem?
Jede Gesellschaft ist auf die Gültigkeit von gemeinsamen Regeln angewiesen. Gesellschaft besteht aus gemeinsamen Regeln, die das Zusammen­leben und die Zusammen­arbeit ermöglichen. Wenn die Definition dieser Regeln plötzlich den einzelnen Individuen überlassen wird, zerfällt die Gesellschaft. Individualismus stösst deshalb irgendwann immer an seine Grenzen. Die Entwicklung vom 17. Jahrhundert bis heute zeichnet sich aus durch die ständige Erweiterung des Bereichs der persönlichen Wahl. Schon für Luther gab es eine fundamentale Wahl­möglichkeit: glauben zu wollen oder nicht. Für den Glauben kam jedoch nur der christliche infrage, keine andere Religion. Mit dem 20. Jahrhundert beginnt sich der Bereich der Wahl­möglichkeit jedoch auf die fundamentalen Werte zu erstrecken, auf denen die Gesellschaft ruht. An diesem Punkt ist der gesellschaftliche Grund­konsens bedroht. Da wird der expressive Individualismus zum Problem.

Weil er zu Relativismus führt?
Er führt zu einem Relativismus, der die Möglichkeit von Gemeinschaft infrage stellt. Nietzsche hat das klar gesehen: Wenn es keine gemeinsamen Werte mehr gibt, wird alles möglich. Deshalb postulierte er zum Beispiel in aller Offenheit, dass der Starke den Schwachen beherrschen soll: Vielleicht ist der Glaube an die moralische Gleichwertigkeit aller Menschen ja auch nur ein kulturelles Vorurteil, das man jederzeit wieder aufgeben kann? Ein Problem vieler postmoderner Theorien besteht darin, dass sie die nietzscheanische Prämisse der Überwindung aller traditionellen Werte unterschreiben, aber nicht begreifen, dass dann plötzlich sehr hässliche politische Ideologien legitim werden. Nietzsche war wenigstens ehrlich genug, um zuzugeben, was das Ergebnis seiner Moralkritik sein würde. Eine analoge Entwicklung können wir heute beim Rechts­populismus beobachten. Die Populisten sagen immer komplexfreier: Lasst uns zu Rassen­hierarchien zurückkehren. Was soll daran falsch sein? Unsere Kultur ist genauso gut wie jede andere auch. Warum soll sie darauf verzichten, andere zu unterdrücken?

Aber in der westlichen Tradition fand Selbst­verwirklichung immer eine Grenze an universalistischen Moral­vorstellungen. Schon bei Rousseau gibt es die «volonté générale».
Das Problem bei Rousseau ist, dass sein Bemühen, die Bedürfnisse der Gesellschaft mit der authentischen Selbst­verwirklichung zu versöhnen, zum Postulat eines «allgemeinen Willens» führt. Das bedeutet, dass alle dieselben inneren Überzeugungen haben müssen und der Pluralismus innerhalb der Gesellschaft von vornherein ausgeschlossen wird. Das hat etwas proto-totalitäres. Ich glaube nicht, dass Rousseau gute Antworten hatte auf das Problem des individualistischen Pluralismus. Wenn man die Gesellschaft auf einen ethischen Konsens abstützen will, der so grundsätzlich ist wie religiöse Glaubens­sätze, kann der Krieg niemals aufhören, weil dieser Konsens niemals gefunden wird. Deshalb muss man die Anforderungen senken und zum Beispiel das Prinzip aufstellen: Wir werden uns über Religion zwar immer uneinig sein, aber wir einigen uns darauf, dass jeder die Religion des anderen zu tolerieren hat. Das war der Kompromiss, auf dem der neuzeitliche Liberalismus basiert.

Seit Sie Ihren Weltbestseller «Das Ende der Geschichte» Anfang der 1990er-Jahre publiziert haben, ist viel passiert. Neue Gefahren für die Demokratie haben sich manifestiert, insbesondere die Finanz­krise und der Rechtspopulismus.
Aus meiner Sicht war die Finanzkrise das Produkt einer freien Markt­wirtschaft, die zu einer Art Religion erhoben wurde, anstatt als wirtschafts­politisches System mit empirisch überprüfbaren Ergebnissen betrachtet zu werden. Das hat zu fürchterlichen Exzessen geführt – und es kam zu den schlechten Entwicklungen bei der Ungleichheit und der Stabilität des Finanzsystems.

Sie sagen, die Sozialdemokratie habe den Fehler begangen, sich dem Neo­liberalismus anzunähern. Bei Ihnen ist es umgekehrt: Sie starteten als liberaler Konservativer und betrachten sich heute als gemässigten Linken.
Ich habe einfach versucht, auf die Entwicklung zu reagieren. Die Welt ist heute sehr viel ungleicher als zu der Zeit, wo ich «Das Ende der Geschichte» schrieb. Man sollte das, was draussen in der Wirklichkeit geschieht, in seinen politischen Theorien mitberücksichtigen.

Gibt die jüngere Geschichte Anlass zur Hoffnung, dass man Menschen, die sich von demokratischen Werten verabschiedet haben, mit faktenbasierten Argumenten zurückgewinnen kann?
Sie möchten meine persönliche Erfahrung wissen?

Gerne.
Nein, diesen Anlass gibt es nicht. Man würde sich wünschen, dass Menschen auf Tatsachen reagieren, aber so läuft das nicht. Es ist gut belegt, dass die Werte­bindungen der Leute in der Regel von starken Emotionen bestimmt werden und dass sie ihren Verstand lediglich dazu benutzen, diese Bindungen zu verteidigen. Ich wünschte, es wäre umgekehrt. Aber so ist es nicht.