Tod am Meer
Am Strand von Kantaoui in Tunesien wurde vor vier Jahren der schlimmste Terroranschlag in der Geschichte des Landes verübt. Heute liegen Bikinis neben Burkinis, das Business läuft wieder. Zu welchem Preis? «Am Strand», Folge 7.
Von Amir Ali (Text) und Alexandra Compain-Tissier (Illustrationen), 13.08.2019
Im Sommer beginnt der Tag früh am Strand von Kantaoui nördlich der tunesischen Stadt Sousse. Um halb sieben zeigt das Thermometer schon fast 35 Grad, für den Mittag sind 43 Grad angesagt. Auf der Wetter-App gesellt sich eine Sonne neben die andere, so weit die Prognose reicht.
Schon vor dem Frühstück herrscht am Strand reger Betrieb. Schlafen können die All-inclusive-Gäste des Hotels Kantaoui Bay am Nachmittag. Nachdem sie am Mittagsbuffet im Strandpavillon ihre Teller beladen und Wein und Bier gleich selber eingeschenkt haben. Paare, Familien mit Kleinkindern, Alleinerziehende mit Teenagern. Stehen sie nicht am Buffet, liegen sie unter den Strohdächern der Sonnenschirme. Gesprochen wird etwas Deutsch, wenig Französisch, sehr wenig Arabisch und sehr viel Russisch. So viel Russisch, dass sich das Personal ganz passabel unterhalten kann, zumindest mit dem Vokabular rund ums Essen, Trinken und Liegen.
Von S’Arenal im Westen bis Tripoli im Osten: Es gibt Tausende Strände am Mittelmeer. Einige haben es zu Berühmtheit gebracht. Andere warten auf ihren Durchbruch. Neun Besuche an Sehnsuchtsorten am Wasser. Zur Übersicht.
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S’Arenal, Mallorca
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Tripoli, Libanon
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Varosha, Zypern
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Sousse, Tunesien
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Saint-Tropez, Frankreich
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Vlora, Albanien
Vor vier Jahren, am 26. Juni 2015, unterhielten sich die Gäste hier vor allem auf Englisch. Die Anlage sah etwas anders aus, und das Hotel hiess nicht Kantaoui Bay, sondern Imperial Marhaba. Damals, an einem Freitag im Fastenmonat Ramadan, brach das Böse über den Strand herein.
Auf einer kleinen Zufahrtsstrasse hinter dem Nachbarhotel setzte ein weisser Hochkombi gegen Mittag einen schwarz gekleideten jungen Mann ab, der sich mit Rucksack und Sonnenschirm in Richtung Strand aufmachte. Als er dort ankam, räkelten sich die Hotelgäste auf den Sonnenliegen und schlurften in Gedanken vielleicht bereits zum Mittagsbuffet. Der Mann zog eine AK-47, eine Kalaschnikow, aus dem mitgeführten Sonnenschirm und legte den Finger an den Abzug.
Kurz nachdem der Attentäter an jenem Mittag das Feuer eröffnet hatte, war die Polizei alarmiert. Doch sie reagierte zögerlich. Über eine halbe Stunde dauerte es, bis der Attentäter schliesslich in einer Seitenstrasse tot zusammenbrach. Rund 20 Schüsse soll er abbekommen haben, die Obduktion ergab, dass er vollgepumpt war mit Kokain und Schmerzmitteln. Über eine halbe Stunde lang hatte er sich frei bewegen können. Am Strand, in der Poolanlage des Imperial Marhaba und im Innern des Hotels. 38 Menschen hatte er getötet, 39 weitere verletzt. Nach dem Anschlag meldete sich der Islamische Staat mit einer Bekennernachricht. 30 der Toten waren Briten, 3 weitere Iren.
Lasst uns Spass haben!
«Pool party!», ruft ein junger Lockenkopf in gelber Badehose, während er durch die Reihen der Liegestühle geht. «Come on, let’s have some fun!» Wenig später dröhnt übersteuerte Musik aus den Boxen: «Sexy and I Know It», «Pump It Up», eine Hardcore-Version von «Despacito». Etwa 60 Partyplanscher hüpfen mehr oder weniger angeheitert im brusthohen Wasser, grölen mit, berieselt von der Schaumkanone. Andere sitzen um den Pool, schauen zu und filmen mit ihren Handys. Für die Stimmung sorgen die Animatoren in den gelben Badehosen – denn ein paar Angetrunkene und etwas Schaum im Pool allein machen noch keine Party.
Zwanzig Meter vom Beckenrand entfernt hängt über einem blauen Pingpongtisch die letzte Erinnerung an den Anschlag. Ein weisses Plexiglasquadrat mit schlichter schwarzer Schrift: IN MEMORIAM. This plaque is dedicated to all the guests who lost their lives in the terrorist attack at the Imperial Marhaba Hotel on June 26th, 2015. Daneben dankt der damalige britische Aussenminister auf einer schwarzen Tafel, an der ein vertrocknetes Blumensträusschen hängt: To the men and women of the city of Sousse – In recognition of their great bravery and dedication – In helping the victims of the terrorist attack on 26 June 2015. Sein Dank an die Leute von Sousse für «ihren Mut und ihre Hingabe». Die Animatoren machen Kopfsprünge ins schäumende Bassin, der DJ lässt «I Will Survive» laufen.
Security, Schlangenbeschwörer und Bauchtanz
Ende der Siebzigerjahre hatte Staatsgründer Habib Bourguiba höchstpersönlich den Anstoss dazu gegeben, die Region nördlich von Sousse für das Luxussegment zu erschliessen. Tunesien stieg damals zur internationalen Tourismusdestination auf. Kantaoui wurde zu einem der wichtigsten und lukrativsten Standorte im tunesischen Tourismussektor. Und zur Lebensgrundlage für Tausende Angestellte in einem Land, in dem es nicht selbstverständlich ist, einen einigermassen anständig bezahlten Job zu haben. Bis zu jenem Junitag vor vier Jahren.
Eine Spotify-Playlist für Sousse
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Am Pool ist es der Bademeister, der die Matratzen für die Liegestühle verteilt. Ihm zur Hand gehen zwei Männer, auf deren Rücken «Security» geschrieben steht. Walkie-Talkies baumeln von ihren Hosenbünden. Abends, wenn der Mond über der grossen Poolanlage steht, die das Hotelgebäude vom Strand trennt, und sich die Gäste der Abendunterhaltung widmen, werden die beiden unten beim Strand Wache halten.
Einer wird am Südende der Anlage stehen. Dort, wo der Strand weitergeht, an anderen Hotels vorbei. Wo sich die Leute tagsüber auf einem der Golfplätze oder mit Jetskis, banana boats und Parasailing vergnügen. Und abends mit Schlangenbeschwörern und Bauchtanz. Noch ein Stück weiter stehen Genossenschaftssiedlungen aus kleinen Appartementhäusern. Deren tunesische Besitzer verbringen hier die Ferien, oder sie vermieten ihre Wohnungen an algerische und libysche Gäste, um sich etwas dazuzuverdienen.
Der andere Wachmann wird am Nordende Ausschau halten. Dort, wo das Hotel Bellevue Park ans Kantaoui Bay angrenzt, das letzte in der Reihe. Dahinter liegt der Strand der lokalen Urlauber. Hier, am Nordende der Bucht, stösst man auf zeltähnliche Verschläge, gebastelt aus Tüchern und Sonnenschirmen.
Ansonsten: feinster Sand und klarstes Wasser, Schwärme kleiner Fische, die an Zehen knabbern. Alles in allem ein Strand wie viele andere, mit der einen oder anderen Eigenheit, die für etwas Charakter sorgt – ab und zu riecht es nach dem Mist der Pferde, auf denen häufig Touristinnen im Teenageralter sitzen. Auch ein Kamel steht sich tagsüber die Beine in den Bauch, während sein Besitzer unter einem Sonnenschirm auf Kundschaft wartet. Fliegende Händler tragen ihre Waren strandauf und strandab: frische Früchte, geschmuggelte Zigaretten, bunte Tücher, gefälschte Sonnenbrillen, Hüte, Flugdrachen. Ein Händler bietet den Pauschaltouristinnen kleine Palmensetzlinge an. Und über allem brummen leise und stetig die Motoren der Jetskis und der Boote, die ihre Kundschaft an Fallschirmen durch die Luft oder auf Gummidingern über das Wasser ziehen.
Man könnte an diesem Nachmittag, am Pool des Kantaoui Bay, leicht dem Kulturpessimismus verfallen. Die Gäste, die hier für eine Woche oder zwei einchecken, die sich das rosa All-inclusive-Band ums Handgelenk binden lassen und dann zur Bar gehen, sind nicht auf der Suche nach einer ganzheitlichen Reiseerfahrung. Sie setzen sich nicht der Welt aus, im Gegenteil: Sie betreten eine Kapsel. Für alles ist hier gesorgt, man braucht den Ort nicht zu verlassen, muss sich nicht bewegen. Zeit und Raum fallen auseinander. Es bleibt: das baumelnde Selbst, das Ich, um das es hier allein geht.
Draussen, in der Realität namens Tunesien, wo Zeit und Raum wieder zusammenwirken, geht es derweil für viele ums Überleben. Darum, sich eine Zukunft zu schaffen in einem Land, in dem es kaum Perspektiven gibt. «Alle wollen hier weg», sagt ein junger Kellner bei einem kurzen Schwatz, als sich die Hitze über das Mittagsbuffet im Strandpavillon legt und mit ihr etwas Ruhe. Er meint nicht das Kantaoui Bay, sondern Tunesien. «Das Leben hier ist eine Zumutung.» Er lacht dabei, meint es aber ernst. Arbeitslosigkeit offiziell: über 15 Prozent, unter den Jungen fast 35 Prozent. Die Inflation liegt bei rekordhohen 8 Prozent, die Währung verfällt, und die Lebenskosten steigen zusätzlich, weil der Staat auf Geheiss seiner internationalen Gläubiger Subventionsprogramme zusammenstreicht.
Das mit diesem Terror und so
Später Nachmittag am Strand des Kantaoui Bay. Ein warmer Wind bläst vom Meer her durch die Liegestühle unter den Bastschirmen. Draussen auf dem Wasser dröhnen die Motoren, auch die Pferde haben Kundschaft, und der Wachmann vom Nordende hat sich auf den Sandwall verzogen, auf dem ein Maschendrahtzaun die Hotelanlage gegen den Strand abgrenzt.
«54 Minuten» heisst das Buch, in das sich die braungebrannte junge Frau im olivgrünen Bikini auf einem Liegestuhl vertieft. Untertitel: «Jeder hat Angst vor dem Jungen mit der Waffe». Ein Roman über einen fiktiven Amoklauf an einer Schule, Bestseller in den USA. Seine Leserin ist am Morgen aus Köln angekommen.
Doch, doch, sie kenne die Geschichte dieses Ortes. Ein Jahr vor dem Anschlag habe sie mit ihrer Familie bereits einmal hier Urlaub gemacht. Ein mulmiges Gefühl habe sie beschlichen, als sie davon gehört habe. Und auch beim Fliegen denke sie immer an diesen depressiven Piloten, der mit seiner Maschine absichtlich in den Berg gekracht sei. «Aber wenn du so denkst, kannst du nicht mehr vor die Tür.»
Als sie die bewaffneten Polizisten vorne beim Strandcafé gesehen habe, sei ihr wieder eingefallen: Ah, da war ja was. «Aber ich fühle mich überhaupt nicht unsicher hier.» Ausserdem: Der Weihnachtsmarkt in Berlin, den ihre Schwester um ein Haar genau dann besucht hätte, als der Lastwagen reinfuhr; all die Push-Meldungen, Anschläge immer und überall: «Man stumpft etwas ab. Es ist schräg, aber ich verspüre da mittlerweile keine tiefe Trauer mehr. Eher so: Oh, schon wieder!»
Hat sich der Terrorismus in diesen wenigen Jahren in unserer Normalität eingenistet? Haben wir für ihn ein Plätzchen gefunden, wo er zwar bleibt, was er ist – bedrohlich, tödlich, böse –, uns damit aber nicht weiter in unserer Lebensführung einschränkt? «Charlie Hebdo», Bataclan, Brüssel, Nizza, Berlin: Wird der Ausnahmezustand zum Alltag, wenn er sich oft genug wiederholt? Lassen wir uns unsere schöne alte Welt nicht madig machen von ein paar Verblendeten, Verwirrten, Verzweifelten mit halbautomatischen Waffen?
«Ein Buch über einen Terroranschlag hätte ich jetzt nicht mitgenommen», sagt die junge Kölnerin, als die Sonne hinter der Hotelanlage versinkt. «Aber ein Amoklauf ist ja schon was anderes.»
Sündenpfuhl oder Hort der Toleranz
Was wollte er denn eigentlich, der Schütze, der hier vor vier Jahren mit einer Kalaschnikow halb Tunesien in den Ruin stürzte?
Im Tweet, in dem der Islamische Staat den Anschlag für sich beanspruchte, war von einem «Hort der Prostitution, des Lasters und des Unglaubens» die Rede. Natürlich wird hier getrunken und getanzt, natürlich denkt hier kaum ein Gast an Gott und schon gar nicht an Allah. Natürlich servieren hier tunesische Angestellte ihren Touristinnen von morgens bis abends Alkohol.
Aber im Grunde genommen ist dieser Strand, die ganze Bucht, ein Ort der kulturellen Artenvielfalt. Hier existieren Ganzkörpersonnenbrände neben Ganzkörperbadeanzügen, streichen sich libysche Salafisten das Salzwasser aus den Bärten, während fünf Meter weiter junge Deutsche mit einem Bier in der Hand russischen Bikinischönheiten nachschauen.
Zwischen den beiden Welten herrscht keine Liebe. Aber der Strand von Kantaoui ist ein Ort der Toleranz, der passiven Grosszügigkeit. Alle haben Platz. Man ist unter Menschen, die man nicht versteht und die einen nicht verstehen, und man begnügt sich damit, sich selbst zu sein. Für radikale Fundamentalisten mit ihrem Anspruch auf die eine, die absolute Wahrheit muss dieser Ort der grösstmögliche Affront sein.
Zudem ein strategisch lohnendes Ziel für Leute, die das Land auf dem Weg zur Demokratie destabilisieren wollen. Der Tourismus ist ein riesiger Wirtschaftsfaktor in Tunesien, 2 Millionen Menschen leben direkt und indirekt von ihm.
Nach dem Anschlag in Kantaoui – der auf einen drei Monate zuvor ausgeführten Angriff auf das Nationalmuseum in der Hauptstadt Tunis mit über 20 Toten folgte – brach die Zahl der Touristen ein. La catastrophe nennen alle, mit denen man darüber spricht, diese Zeit. Ob auf Arabisch oder auf Französisch. «La catastrophe», sagt der Mann im winzigen Tourismusbüro der Marina von Kantaoui. Es sei alles zusammengekommen, ein perfect storm: die Revolution und die darauffolgende Unsicherheit, die Anschläge, das Chaos im Nachbarland Libyen. «Ganze Familien verloren ihre Lebensgrundlage», sagt der Tourismusbeamte.
2017 begann sich der Sektor zu erholen, seither wächst er wieder. «Letztes Jahr kamen viele Algerier, dieses Jahr hoffen wir wieder auf unsere Stammmärkte: Briten, Deutsche, Franzosen. Wir hoffen, dass es dieses Jahr wieder richtig losgeht.»
Eine Katastrophe, einfach eine Katastrophe
«C’était la catastrophe», sagt auch Monsieur Amin, der stellvertretende Direktor des Kantaoui Bay. Seit 2007 arbeitet er im Haus, das Hotel mit seinen Angestellten und Gästen ist für ihn wie eine zweite Familie. Zur Mittagszeit isst er mit seinen Kollegen vom Management zusammen mit den Hotelgästen im Strandpavillon. Den Afrikacup-Viertelfinal im Fussball zwischen Tunesien und Madagaskar schaut er sich mit allen anderen in der Bar an und drückt ein Auge zu, wenn die Kellner gebannt auf die Leinwand starren, statt Drinks zu servieren.
Monsieur Amin ist zufrieden. Die Saison begann früh, im April bereits, und sie läuft gut. Das Haus ist zu 90 Prozent voll. Und doch sind die Auswirkungen der Katastrophe bis heute zu spüren. Vor allem ist die Klientel nicht mehr dieselbe: Statt Briten, Deutschen und Belgiern kommen heute vor allem Russen. «Die Russen sind weniger empfindlich», sagt Amin. «Wenn der Russe Sonne bekommt und Alkohol, dann ist ihm der Rest egal.»
Doch die russischen Touristen sind nicht nur weniger empfindlich, sie geben auch weniger aus. Sie buchen all-inclusive, und damit hat es sich. «Wir verkaufen kaum zusätzliche Dienstleistungen, und unser Personal macht kein Trinkgeld.» Das sei für die einfachen Angestellten ein erheblicher Unterschied.
Was Monsieur Amin zum nächsten Problem führt: «Wir finden während der Hochsaison kaum genügend Personal, zumindest keine qualifizierten Leute.» Das habe auch mit dem Terrorismus zu tun: Viele hätten damals die Branche gewechselt, die gut Ausgebildeten seien in die Golfstaaten abgewandert. Aus Angst vor der unsicheren Zukunft der Branche, aber auch wegen der allgemeinen Umstände: Verfall der Währung, Inflation, hohe Lebenskosten. Heute sei Kantaoui zwar wieder ganz vorne dabei, vielleicht sogar die lukrativste Destination in Tunesien, sagt Amin. «Aber wir wollen unsere klassischen Kunden zurück.»
Rache durch Rückkehr
Monsieur Amins zweiter Chefrezeptionist, Monsieur Suheil, nimmt den Anschlag auf sein Hotel und dessen Auswirkungen fast schon persönlich: «Meine Gäste sind mir nahe», sagt er, ein schmaler, kleiner Mann. Seine Augen sind müde, aber in seinem Blick liegt Dringlichkeit. «Sie kommen hierher und verdienen Respekt dafür, dass sie uns ausgesucht haben.»
Suheil war während der Attacke im Haus, wie zahlreiche andere, die heute wieder im Kantaoui Bay arbeiten. Er hat das Morden und die Angst und die Fassungslosigkeit miterlebt. In den knapp zwei Jahren nach dem Attentat, als das Hotel geschlossen war, Besitzer und Namen wechselte und renoviert wurde, hielt Monsieur Suheil sich und seine Familie mit mehreren Jobs gleichzeitig über Wasser: Callcenter, Versicherungsvertreter, solche Sachen. Dann, als das Hotel wieder öffnete, entschied er sich zur Rückkehr. «Ganz bewusst», sagt Monsieur Suheil, trotz der psychischen Probleme, die er seit dem Anschlag habe. «Dass wir hier sind und nicht weggehen, das ist meine Rache. Ich will, dass das Hotel voll ist. Im Sommer, im Winter, jeden Tag.»
Was bleibt von den insgesamt 39 ausgelöschten Leben, von der Angst, der Wut, der Trauer? Was bleibt von dem Unfassbaren, wenn Schlagzeilen verschwunden, Tote begraben, Hotels renoviert sind? Schleicht sich ein Ereignis so leise aus unseren Leben, wie es gewaltvoll über uns hereinbrach? Kann man einer Tat wie dieser zu viel Bedeutung geben? Oder zu wenig?
Abends, wenn das Meer sich in Schwarz gehüllt hat und aufgewühlt seine Algen in den Sand wirft, sind die Wachmänner allein am Strand vor dem Kantaoui Bay. Die internationalen Gäste haben sich längst an die Buffets und Bars ihrer Hotelanlagen zurückgezogen. Die schwarz uniformierten Polizisten haben ihren Posten an der Zufahrtsstrasse geräumt. Weiter vorne, am arabischen Strand, sitzt man noch immer im Sand, dort halten Grossmütter ihre schlafenden Enkel im Schoss. Frauen stehen in langen Kleidern im Wasser, Kinder rennen im Mondschein herum, und die Männer sitzen vor dem Fernseher, den der Betreiber eines Strandcafés aufgestellt hat, und fiebern einmal mehr mit dem tunesischen oder dem algerischen Nationalteam mit. Alles klingt nach Aufregung, nach Freude, nach Leben.
Die Erscheinungsformen der Artenvielfalt am Strand von Kantaoui wären sich wohl erstaunlich einig: Eine Poolparty ist zwar nicht die einzig mögliche Antwort auf den Terror. Aber sicher nicht die schlechteste.
Amir Ali war fünf Jahre Co-Leiter des Strassenmagazins «Surprise». Seit diesem Sommer ist er als freier Journalist tätig, der Schwerpunkt seines Interesses gilt den Ländern im Nahen Osten. Für die Republik schrieb er bereits über «Moskaus Lohn: Phosphat aus Palmyra».
Alexandra Compain-Tissier hat an der Ecole nationale supérieure d’arts plastiques de Cergy (Frankreich) studiert. Ihre Illustrationen erscheinen in zahlreichen Medien, unter anderem in der «New York Times», im «GQ», in der «Cosmopolitan» und in «The Independent». Sie hat zudem an zahlreichen Büchern mitgewirkt, zuletzt erschien von ihr «Anouck».