Strand der Clans
In Italien müssen Strände frei zugänglich sein, per Gesetz. In Ostia bei Rom aber darf nur ans Wasser, wer zahlt. Doch es gibt eine Alternative, weit draussen in den Dünen. «Am Strand», Folge 6.
Von Michael Braun (Text) und Pietro Masturzo (Bilder), 10.08.2019
Die Freundin musste lachen, als sie von dem Touristenpärchen erzählte, das allen Ernstes fragte, wo es zum Strand gehe. «Die glauben tatsächlich, Rom liege am Meer, nach dem Motto: Erst gehen wir ins Kolosseum und dann springen wir ins Wasser», sagt sie und prustet los. «Ich habe denen erst mal erklärt, dass sie nach Ostia müssen, wenn sie baden wollen.»
Nein, natürlich liegt die Ewige Stadt nicht am Meer, etwa 25 Kilometer Luftlinie trennen das Zentrum von den nächstgelegenen Stränden. Und doch lagen die ignoranten Touristen eigentlich gar nicht falsch – die 18 Kilometer Sandstrand von Ostia nämlich gehören komplett zum Stadtgebiet von Rom. Und die Reise dorthin ist auch bloss eine Stadtfahrt für die 3-Millionen-Einwohner-Metropole: Das Ticket kostet bloss 1,50 Euro, die Fahrzeit beträgt 30 Minuten, der S-Bahn-gleiche Zug verkehrt im 12-Minuten-Takt.
Von S’Arenal im Westen bis Tripoli im Osten: Es gibt Tausende Strände am Mittelmeer. Einige haben es zu Berühmtheit gebracht. Andere warten auf ihren Durchbruch. Neun Besuche an Sehnsuchtsorten am Wasser. Zur Übersicht.
Folge 2
S’Arenal, Mallorca
Folge 3
Tripoli, Libanon
Folge 4
Tel Aviv, Israel
Folge 5
Varosha, Zypern
Sie lesen: Folge 6
Ostia, Italien
Folge 7
Sousse, Tunesien
Folge 8
Saint-Tropez, Frankreich
Folge 9
Vlora, Albanien
Montags bis freitags geben hier die Pendlerinnen den Ton an. Am Samstag aber gehört der Zug den anderen, den Jungs in Bermudas und Badeschlappen, den Mädchen in Jeans-Shorts, den mit Sonnenschirmen, Eimerchen und Schäufelchen bewaffneten Familien. Fünf nordafrikanische Teenager unterhalten den Waggon mit lautem, mal arabischem, mal italienischem Hip-Hop aus dem Bluetooth-Lautsprecher. Keiner nimmt Anstoss, die italienischen Kids singen die Hits, die sie kennen, gleich mit.
Zement statt Sand
An der Station Ostia Lido-Centro steigen so gut wie alle aus. Zielsicher überqueren sie den grossen Vorplatz. Offenkundig wissen sie genau, wo sie hinwollen. Andernfalls hätten sie ein Problem. Kein Schild am Bahnhofsausgang weist den Weg, keine Tourist Information gibt Erklärungen. Das Meer? Liegt es nun rechts? Oder links? Oder geradeaus? Es scheint hier, an der weiten Piazza mit ihren hässlichen Wohnblocks aus den 50er- und 60er-Jahren, wie sie in jedem anderen römischen Vorstadtquartier herumstehen, genauso weit weg wie am Kolosseum. Denn Ostia ist nicht bloss Strand. Mehr als 100’000 Menschen wohnen hier, in Blocks, die fast alle nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurden.
Doch vom Bahnhof sind es bloss fünf Minuten zu Fuss zum Lungomare Paolo Toscanelli. Lungomare – «am Meer entlang»: So heissen in Italien die Strandpromenaden, die Uferstrassen. Doch auch hier wieder: kein Meer. Statt über Sand und Wasser zu schweifen, prallt der Blick ab an Zäunen und Palisaden, an Mauern und endlos sich aneinanderreihenden Gebäuden, ein Lido – wie die Badeanstalten heissen – nach dem anderen, das Restaurant und der Eingangsbereich, dann die Kabinen, selten Holz, meist Zement, ein Kubus neben dem anderen in soldatischer Ordnung.
«Die Botschaft ist klar», meint Ciro Orsi, aktiv in der lokalen Bürgerinitiative, die sich für den Rückbau der Zumauerung einsetzt: «Hier musst du zahlen, selbst wenn du vom Meer nur einen Blick erhaschen willst.» Von wegen Lungomare, von wegen Strandpromenade. Ein ironisches Lächeln umspielt den Mund des hochgewachsenen kräftigen Mittsiebzigers, der locker zehn Jahre jünger aussieht. «Für uns ist das der lungomuro, die lange Mauer, errichtet, um das Meer in Privatbesitz zu verwandeln.»
Eine Spotify-Playlist für Ostia
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Noch vor drei, vier Jahren waren die Eingänge aller Lidos mit Drehkreuzen ausgerüstet. Hinein kam nur, wer seinen Obolus entrichtete. Dabei gilt in ganz Italien das Gesetz, dass die Strände frei zugänglich sein müssen – sie sind öffentlicher Grund: Ans Wasser darf jeder. Doch auch den schieren Zugang zum Strand, ohne Sonnenschirm, ohne Liege, bloss um ins Wasser zu springen, liessen sich die Betreiber mit 3 Euro vergüten.
Heute sind, nach jahrelangen Protesten, die Drehkreuze weg. «Was gibts?», blafft dennoch ein hagerer, tiefgebräunter älterer Mann am Eingang des Lido Marechiaro den Besucher an, der einfach Richtung Strand marschieren will. Er gibt dann aber ohne weiteres Murren den Weg zum Wasser frei.
Einigermassen surreal ist die Welt, die den Gast hinter der Umfassungsmauer hin zum Lungomare erwartet. So unaufgeräumt Ostia vor dem Tor ist, mit dem Müll auf dem Grünstreifen längs der Strasse, ohne irgendwelche für Gäste hilfreiche Hinweisschilder, mit vertrocknenden Rasenflächen an den Parkplätzen, so pieksauber und durchorganisiert ist der Lido.
Ordentlich gepflasterte Wege führen am strahlend grünen, perfekt gestutzten Rasen vorbei, an einem kleinen Fischteich mit einer orientalischen Pagode in der Mitte, an Kabinen, die aufgrund ihrer grosszügigen Dimensionen eher Schrebergartenhäuschen gleichen. Und anders als in Ostia kann sich der Gast hier nicht verlaufen. An jedem Eck geben Pfeile den Hinweis, dass es links zur Bar und zur Pizzeria, rechts zur Sanitätsstation und geradeaus zum «Miniclub» für die Kleinen geht.
Gesalzene Preise
Unter dem Vordach ihrer Kabine schwitzen Aldo und Verena mit ihren zwei fünf und acht Jahre alten Buben. Soeben haben sie ihr Mittagessen am kleinen Plastiktisch hinter sich gebracht. Alle miteinander sind sonnengebräunt. Sie wohnen in Rom, «zwanzig Minuten mit dem Auto», und haben die Kabine samt Schirm am Strand und Liegen für die gesamte Saison gemietet. Das kommt so auf um die 3000 Euro.
Und es rechne sich allemal, sagt Aldo. Dafür könnten sie gerade mal zwei Wochen Urlaub in Sardinien machen. Hierhin dagegen kommen sie von Mai bis September jedes Wochenende und im August täglich. Auf die Frage, was er vom Lungomuro hält, lächelt er verlegen. Klar, die optische Barriere hin zum Meer sei nicht so schön, «aber wir sind ja auf der anderen Seite der Mauer».
Ciro Orsi kann diese Sicht der Dinge nicht teilen. Er findet es skandalös, dass den Lidopächtern Roms der Strand gleichsam geschenkt worden, zu ihrer privaten Verfügung übereignet worden sei. Bis vor gut zwanzig Jahren, erzählt er, war die Situation noch anders. Früher vergab die italienische Marine, zuständig auch für die Strände, die Konzessionen, Jahr für Jahr wurden sie erneuert. Ein Gesetz von 1998 regelte dann, dass die Regionen diese Zuständigkeit erhielten, und die Regionen reichten sie an die Kommunen weiter – im Falle Ostias also an die Stadt Rom.
Ausgerechnet die linke Stadtregierung, die seinerzeit unter dem damaligen Bürgermeister Francesco Rutelli am Ruder war, erregt sich Orsi, habe dann langjährige Konzessionen an die privaten Betreiber erteilt, zu lächerlichen Tarifen. 1,50 Euro pro Quadratmeter sind an Pacht pro Saison fällig, das macht schon mal gut und gerne 50’000 Euro für einen Lido. Doch die Umsätze bewegen sich in anderen Dimensionen: um die 1,4 Milliarden Euro für Ostias 71 Lidos, das macht im Schnitt 20 Millionen pro Betreiber. Um die Pacht für die gesamte Saison zu verdienen, braucht er also nicht einmal ein ganzes Sommerwochenende.
Vor allem aber eröffneten die über lange Jahre erteilten Konzessionen den Reigen der wild, ohne jede Genehmigung errichteten Bauten, der Restaurants – die laut Genehmigung 70 Quadratmeter Fläche haben durften, als Holzhütte, die sich aber in 400 Quadratmeter grosse Gebäude verwandelten –, der Swimmingpools, der Fitnesscenter. «Jeder konnte hier machen, was er wollte, die Stadtverwaltung drückte einfach beide Augen zu», bilanziert Orsi, und er fügt hinzu, dass er die Konzessionäre ja noch verstehen könne, «sie maximieren halt den Profit», nicht aber die Kommunalbeamten, die beflissen wegschauten. Rutelli, der damalige Bürgermeister, hatte hochfliegende Pläne, träumte von einer kilometerlangen waterfront in Ostia – die dann zum Albtraum des Lungomuro mutierte.
Spiaggia libera
Aber es gibt ja noch die spiaggia libera, den freien Strand. Links und rechts erstrecken sich die Lidos über Kilometer, lächerliche 50 Meter Strand in der Mitte sind hier für diejenigen reserviert, die sich das verfassungsmässige Recht herausnehmen wollen, einfach gratis zu baden.
Badetuch an Badetuch liegen sie hier, die Mädchenclique, verliebte Paare, Familien mit Kleinkindern. Zwei junge Männer stehen bis zu den Fussknöcheln im Wasser, «es gibt schönere Strände», kommentieren sie, beide aus dem römischen Volksviertel Centocelle, «aber den hier können wir uns leisten, 3 Euro Hin- und Rückfahrt von Rom». Auch das Studentenpaar gleich hinter ihnen hat keine Lust und kein Geld, 30 Euro Miete zu zahlen für einen Sonnenschirm plus zwei Liegen. Auch sie fügen hinzu, sie hätten schon sauberere Strände gesehen, und beschweren sich, dass es hier noch nicht mal einen Kiosk gebe, um ein Mineralwasser zu kaufen. Oder eine Toilette.
Eben das regt Ciro Orsi auf, «dass die Stadt hier nie an ihre Bürger denkt, sondern immer bloss an die wenigen, die mit Sand und Meer Millionen scheffeln». Ein Spiegel Italiens, von Ligurien bis hinunter nach Sizilien, sei Ostia: ein Spiegel der Privatisierung der Strände, die gesetzlich nirgends vorgesehen sei und die darauf hinauslaufe, dass die Kommunen sich am Ende mit ein paar 10’000 Euro an Konzessionseinnahmen zufriedengeben, während die Strandkonzessionäre gleichsam die Lizenz zum Gelddrucken erhielten.
Clanwirtschaft à la «Suburra»
Wenn es nur das wäre. Ostia hätte es nie geschafft, zu einem der prominenten Drehorte der Netflix-Serie «Suburra»* zu werden, wenn seine Geschichte bloss die einiger gieriger Lidopächter wäre. Einer der Protagonisten der Serie ist Spadino, ein Nachwuchskrimineller aus einem Sinti-Clan. Und seinen Spitznamen darf man wohl als Hommage an eine in Ostia aktive, ganz reale Familie sehen: an die Familie Spada.
Federica Angeli, Journalistin der Tageszeitung «La Repubblica», wohnt selbst in Ostia. Sie kann ein Lied vom Spada-Clan singen. Als Treffpunkt hat sie den pontile vorgeschlagen, das heisst eigentlich Landungsbrücke, doch kein Schiff landet hier an. Stattdessen flanieren hier die Bürger Ostias und geniessen eine der wenigen Stellen, an denen man freien Blick aufs Meer hat. Angeli ist nicht allein, ein paar Meter hinter ihr steht ein Polizist in Zivil, dem man auf Meilen seinen Job als Personenschützer ansieht. Die Ray-Ban nach oben ins Haar geschoben, wachsame Augen, die in alle Richtungen blicken, ein durchtrainierter Körper: Die Lokaljournalistin hat schon vor sechs Jahren Bewachung rund um die Uhr verordnet bekommen.
Da nämlich hatte sie beschlossen, klarer sehen zu wollen in der Frage, wer eigentlich so Ostias Lidobetreiber sind. Schnell stiess sie in eine mafiöse Halb- und Unterwelt vor. Der Spada-Clan selbst führte den Lido Orsa Maggiore. Als sie dort über den Clanchef Armando stolperte, sperrte der sie nach ein, zwei unbequemen Fragen zu den Eigentumsverhältnissen in einem Raum ein und bedrohte sie unverhohlen. «Aber fast die ganze Lidowelt hier ist mit dem kriminellen, dem mafiösen Milieu verstrickt», erzählt sie.
Da wäre vorneweg Renato Papagni, seit Jahren Präsident des Verbands Federbalneari, zu dem 60 der 71 Lidobetreiber von Ostia gehören. Papagni, so fand Federica Angeli heraus, war dem wohl wichtigsten Clan Ostias, dem von Don Carmine Fasciani, dabei behilflich, sich den Lido Village zu sichern. Die Familie Spada dagegen war bis vor wenigen Jahren eher – so Angeli – «der militärische Arm der Fascianis», zuständig fürs Eintreiben von Schutzgeld oder für Strafexpeditionen ganz im Stil von «Suburra».
Dann aber hatten auch sie mit dem Orsa Maggiore ihren Lido. Die Beamten des städtischen Bezirksamts erwiesen sich immer als willige Helfer, ihnen oder Fasciani oder Papagni gegenüber. Sie nickten jede illegale Bausünde auf den Stränden ab: Daran, dass an allen Gesetzen vorbei der Strand Roms zum Privatbesitz von Halbweltlern und Mafiosi wurde, hatten sie nichts auszusetzen.
Doch in Ostia hat sich der Wind gedreht. Erst die journalistischen Enthüllungen, dann Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, schliesslich im Jahr 2013 die Wahl Ignazio Marinos zum Bürgermeister Roms und neuer Druck der Stadtverwaltung machten den Konzessionären das Leben schwerer. Die Drehkreuze an den Lidoeingängen mussten weg. Papagni muss sich in einem Prozess wegen der Bausünden in seinem Lido Le Dune verantworten. Dutzende Mitglieder des Spada-Clans sitzen in Haft – ihren Lido sind sie wieder los. Letztes Jahr brach einer von ihnen einem TV-Journalisten vor laufender Kamera mit einem Kopfstoss das Nasenbein, auch er sitzt jetzt ein – und der Spada-Clan findet sich in einer tiefen Krise.
In Papagnis Le Dune geht das Leben erst einmal weiter. Im Restaurant geniessen die Gäste Meeresfrüchtesalat oder frittierte Calamari. An der Bar, nur ein paar Meter vom Wasser entfernt, gibt es dann den Espresso. Der Barkeeper Daniele zeigt sich entspannt. Gewiss, die Geschäfte könnten besser laufen, aber das liegt, darf man ihm glauben, eher am verregneten Mai. «Seit drei, vier Jahren reden alle von Mafia, von Blut, von den Spadas und den Kopfstössen. Alle beschweren sich – ausser mir.» Seine blauen Augen blitzen vor Vergnügen, als freue er sich auch ein wenig über Ostias Mafiaimage.
Hat er keine Sorge, dass die Stadt jetzt endlich ernst macht, dass der Lungomuro eingerissen wird und mit ihm all die ungenehmigten Schwarzbauten der Lidos, angefangen bei dem dreistöckigen Glaspalast des Le Dune? Er beherbergt ein Fitnesscenter samt einem enormen Hallenbad, Sauna und Boutiquen. Daniele lächelt milde, ohne zu antworten, so als wolle er sagen: Warten wir doch erst einmal ab.
Vielleicht liegt der Barkeeper gar nicht falsch. Noch im Kommunalwahlkampf 2017 versprach die Fünf-Sterne-Bewegung, nach ihrem Sieg werde sie den Lungomuro einreissen. Die Fünf Sterne gewannen, sie regieren heute in Rom genauso wie im Stadtbezirk von Ostia. Doch die lange Mauer ist immer noch da, konkrete Abrisspläne sind nicht bekannt. Zwar wurde in den letzten Jahren gleich 15 der 71 Lidobetreiber die Konzession entzogen, doch sie machen unverdrossen weiter. Sie haben beim Verwaltungsgericht Gegenklagen eingereicht – das kann Jahre dauern.
Raus in die Dünen!
Von den Konflikten rund um den Strand von Ostia, von dem Wirken mafiöser Banden im Ort wissen die beiden Berlinerinnen, die im Vorgarten des Hotels direkt an der, na ja, Strandpromenade ihren Espresso trinken, nichts. Die beiden, Mutter und Tochter, die eine etwa 60, die andere um die 30 Jahre alt, haben mit dem Mann der Tochter und dem fünfjährigen Sohn eine Woche Ostia gebucht: «Da können wir nach Rom reinfahren, sind mit dem Kleinen aber am Strand, wann immer wir wollen.» Rundum zufrieden wirken sie dennoch nicht. «Schweineteuer» finden sie die Lidos, zwei Schirme, vier Liegen, 60 Euro pro Tag. Und den freien Strand könne man ja wohl vergessen.
Aber heute wollen sie mit dem Bus zehn Kilometer nach Süden runter, nach Capocotta, dem letzten Zipfel Ostias. Die Hotelchefin hat ihnen erzählt, dass es dort viel schöner sei. Und sie lügt nicht. Die Tour raus aus dem bebauten Ostia führt zunächst vorbei an den Lidos Le Dune oder La Vecchia Pineta – doch es gibt weder Dünen noch Pinien zu sehen. Dann aber ist der Lungomuro zu Ende, fährt der Bus nur noch durch das Grün der macchia mediterranea, die beidseits der Strasse auf diesmal echten Dünen wächst.
Wer an einer der letzten Haltestellen kurz vor der Stadtgrenze aussteigt, kann wählen zwischen dem Gaystrand Settimo cielo (Der siebte Himmel), dem FKK-Strand Oase oder dem Porto di Enea (Aeneas soll ja der Sage nach nicht weit von hier seinen Fuss auf italienischen Boden gesetzt haben).
Während sich sowohl die Gays als auch die FKKler textillos sonnen und baden, haben drumherum die anderen ihr Badezeug an. Doch allen ist es irgendwie egal. Alle gemeinsam geniessen einen Strand, auf dem es nur Sand, Dünen, die Büsche der Macchia zu sehen gibt, auf dem die Kioske Holzhütten mit Strohdächern sind, die sich wunderbar in die Landschaft einfügen, auf dem man einen Sonnenschirm samt Liege mieten kann, aber nicht muss, wenn man keinen Platzverweis riskieren will.
Sandro und Veronica führen seit nunmehr fast zwanzig Jahren den Kiosk am Nudistenstrand. Sandro wirkt trotz kurz getrimmter Haare mit seinem schmalen, ja hageren Gesicht, mit dem Panamahütchen, dem roten Hemd und den lachsfarbenen Bermudas wie ein Althippie. Er sieht Capocotta als Gegenentwurf zum Ostia des Lungomuro. «Dort, in diesen Lidos, sitzen sie alle in ihren Käfigen. Hier dagegen sind wir frei», sagt er und strahlt. Die Klientel sei eine ganz andere als weiter oben: «Die meisten sind Stammkunden. Sie kommen seit Jahren und würden nie in einem jener Lidos auch nur einen Tag verbringen.» Dennoch hat auch er Verbotsschilder aufgestellt. Fotografieren, Kopulieren, Masturbieren sind am Nudistenstrand untersagt. Italien sei nun mal nicht Holland oder Schweden, hier hafte dank der katholischen Tradition der Nacktheit immer noch Verruchtheit, Sünde und damit natürlich auch die Versuchung, die Verlockung an.
Die Niederlande wären Sandros und Veronicas Vorbild. «Da gibt es seit Jahrzehnten die Homoehe, da kann man seit Jahrzehnten ungestraft einen Joint durchziehen.» Aber wenigstens die Dünen und die in ihrer übergrossen Mehrzahl völlig entspannten Nackten, meinen die beiden, erinnerten doch auch an Holland.
Am 21. April 2020, zum zwanzigsten Jahrestag der offiziellen FKK-Strand-Einweihung, ist die Jubiläumsparty fällig. Sandro erinnert sich mit leuchtenden Augen an den Bürgermeister, der damals zur Eröffnung kam, nachdem er im Stadtrat die Genehmigung durchgesetzt hatte. Es ist der gleiche Francesco Rutelli, unter dessen Ägide die Lidopächter zehn Kilometer nördlich in Ostia hinter dem von ihnen errichteten Lungomuro den Strand in eine Goldmine verwandeln konnten.
Michael Braun ist Politikwissenschaftler und arbeitete zunächst an den Universitäten Duisburg und Essen. Seit 1996 berichtet er als Journalist aus Rom, seit 2000 ist er Korrespondent der «TAZ». Ausserdem schreibt er regelmässig für das italienische Wochenmagazin «Internazionale».
Pietro Masturzo, geboren in Neapel, studierte in Rom Fotografie. Er veröffentlicht seine Bilder unter anderem in «La Stampa», «Le Monde», «Geo», «Vanity Fair» und im «New Yorker». 2009 wurde Masturzo für ein Bild aus einer Reportage aus dem Iran mit dem «Photo of the Year» von World Press Photo ausgezeichnet. Er lebt in Mailand.