Die Geisterstadt
Seit dem Zypern-Krieg im Sommer 1974 ist Varosha Sperrgebiet. Die türkische Armee hält die ehemalige Tourismushochburg besetzt. Ausflug zum längsten menschenleeren Strand des östlichen Mittelmeers. «Am Strand», Folge 5.
Von Werner van Gent, 06.08.2019
Der Bus von Mr. John setzt sich quietschend in Bewegung. Vor allem der zweite Gang lässt sich nicht ohne unschöne Nebengeräusche einlegen. Mr. John schaut mit einem entschuldigenden Lächeln zurück: «Nur noch zwei Hotels.» Insgesamt acht Hotels muss er an diesem Morgen in der Gegend von Agia Napa im äussersten Südosten von Zypern ansteuern, um seinen Bus vollzukriegen.
Mr. Johns Tagesexkursionen sind vielversprechend und daher oft ausgebucht. Auf dem Programm stehen acht Stunden Famagusta, eine Besichtigung der Geisterstadt Varosha samt ihrem menschenleeren Strand. Beim Hotel Amore steigt ein junges, recht verliebtes Paar ein. Zwei Hotelblocks weiter eine fünfköpfige Familie aus dem Vereinigten Königreich, alle mit so roten Köpfen, als hätten sie gerade an diesem sonnigen Mittwochmorgen erfahren, wie desaströs sich der Brexit auf ihre Zukunft auswirken wird.
Kyrenia
Türkische Republik Nordzypern
Nikosia
Famagusta/Varosha
Agia Napa
Republik Zypern
Dhekelia
(britisch)
Mittelmeer
Akrotiri (britisch)
Türkische Republik Nordzypern
Famagusta/
Varosha
Kyrenia
Nikosia
Agia Napa
Republik Zypern
Dhekelia
(britisch)
Mittelmeer
Akrotiri (britisch)
Von S’Arenal im Westen bis Tripoli im Osten: Es gibt Tausende Strände am Mittelmeer. Einige haben es zu Berühmtheit gebracht. Andere warten auf ihren Durchbruch. Neun Besuche an Sehnsuchtsorten am Wasser. Zur Übersicht.
Folge 2
S’Arenal, Mallorca
Folge 3
Tripoli, Libanon
Folge 4
Tel Aviv, Israel
Sie lesen: Folge 5
Varosha, Zypern
Folge 6
Ostia, Italien
Folge 7
Sousse, Tunesien
Folge 8
Saint-Tropez, Frankreich
Folge 9
Vlora, Albanien
Inzwischen legt Mr. John den dritten Gang ein. Mit 40 Stundenkilometern rollt sein Bus gemächlich durch Dörfer, Hotelsiedlungen und an ausgetrockneten Feldern vorbei. Unzählige halb verfallene Windmühlen auf Metallstelzen zeugen von einer grossen landwirtschaftlichen Vergangenheit. Die Mühlen «made in Chicago» wurden in den 1960er-Jahren aufgestellt, in jener Zeit also, als in der Stadt am Lake Michigan noch Windmühlen hergestellt wurden.
«Kartoffeln», ruft Mr. John ins Mikrofon und zählt dann auf, was er in den nächsten acht Stunden alles erzählen möchte: seine persönliche Geschichte, die Geschichte Zyperns, vor allem aber die Geschichte seiner Heimatstadt Famagusta, die er vor genau 45 Jahren auf der Flucht vor den anrückenden türkischen Truppen verlassen musste. Mr. Johns lautes Stakkato passt zur nur mässig komfortablen Federung seines Busses, bei jedem Themenwechsel kracht es wie im Getriebe seines Gefährts. Ich frage mich, wie ich die acht Stunden durchhalten soll.
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Doch dann beginne ich an seiner Art der Erzählung Gefallen zu finden, die meisten britischen Touristen offensichtlich auch. «Ich werde euch das zeigen, was niemand sonst zu sehen bekommt, weil niemand Famagusta so gut kennt wie ich.»
Mr. John hat offenkundig eine Mission, das macht ihn sympathisch in einer Gegend, wo die Pupillen der Geschäftsleute in der Regel die Form eines Eurosymbols annehmen, sobald sie Besucher aus der Fremde erblicken. «Geradeaus seht ihr den Übergang in den besetzten Norden. Seit November vergangenen Jahres kann man hier direkt ins besetzte Territorium nach Famagusta fahren.» Immerhin eine positive Entwicklung im geteilten Zypern, gerade hier in Deryneia. Was Mr. John nicht erwähnt, sind die zwei Gräber am Strassenrand. Er will offensichtlich keine alten Wunden aufreissen. Und doch zeigen diese Gräber, wie schnell die Lage – trotz Uno-Blauhelmen – auf der Insel ausser Kontrolle geraten kann.
Von alten Wunden
Im August 1996 war der junge Inselgrieche Tassos Isaak in die Pufferzone eingedrungen. Dort wurde er von einer Meute rechtsextremer «Grauer Wölfe» aus der Türkei abgefangen und zu Tode geprügelt. Die Lage eskalierte schnell. Als es nach Isaaks Beerdigung zu einer Demonstration an der Demarkationslinie kam, durchbrach der Cousin des Ermordeten den Stacheldrahtzaun, versuchte an einer Fahnenstange hochzuklettern, um die türkische Flagge runterzuholen – alles auf Video festgehalten. Er war kaum weg vom Boden, schon krachten Schüsse. Solomos Solomou fiel tödlich getroffen ins Niemandsland. Seine Leiche konnte erst Stunden später von Blauhelmen geborgen werden.
Der griechische Ministerpräsident Kostas Simitis flog am folgenden Tag nach Zypern und besuchte die Familie des Ermordeten – und in Ankara verkündigte Ministerpräsidentin Tansu Çiller, die Türkei werde die Hände all jener brechen, die sich an der türkischen Fahne vergingen.
Nach der Beerdigung von Solomou schien eine neue Konfrontation unausweichlich. Nur Monate zuvor war es in der Ägäis fast zu einem Krieg um zwei unbewohnte Felseninseln gekommen. Der internationalen Diplomatie gelang es nur mit grosser Anstrengung, die Gemüter zu beruhigen und beide Seiten an den Verhandlungstisch zurückzubringen.
23 Jahre später mag Mr. John nicht an jenen heissen Sommer erinnert werden. Während er seinen grünen Bus vorsichtig über einen Feldweg lenkt, spricht er lieber über den Sommer 1974. Die Federung reklamiert, das Getriebe kracht, die Passagiere schauen sich fragend an. Dann hält er bei einem Warnschild an, «Niemandsland – Fotografieren verboten». Mr. John kündigt «zwanzig Minuten Fototermin» an, «ihr könnt auf der Aussichtsterrasse alles fotografieren».
Fruchtbarer Boden für nationalistische Parolen
Von besagter Terrasse des letzten Hauses vor der «grünen Zone» aus hat man tatsächlich eine gute Aussicht auf Varosha. Von Zeit zu Zeit fahren weisse Pick-ups der Uno durchs Niemandsland. Dahinter sind türkische Wachposten sichtbar, noch weiter einzelne Hotels, noch weiter zurück muss das Meer liegen. Im kleinen Museum unterhalb der Aussichtsterrasse läuft pausenlos ein Film. Mit sonorer Stimme erzählt ein Sprecher, wie die 45’000 Einwohner von Varosha flüchten mussten und wie die türkische Invasion das friedliche Zusammenleben von Türken und Griechen auf der Insel zerstört habe. «Nicht die gewöhnlichen Menschen wollen Krieg, sondern die Politiker», kommentiert Mr. John. Ein vielfach heruntergebeteter Mythos, der durch die Wiederholung leider nicht wahrer wird – auch das zeigt die jüngere Geschichte der Insel: Es war oft ein Leichtes, Griechen und Türken mit nationalistischen Slogans gegeneinander aufzuhetzen.
Auf der Leinwand läuft der Film mit der monotonen Stimme bereits zum dritten Mal durch, und ich freue mich wieder auf das Stakkato von Mr. John, der uns nun sein Geburtshaus zeigt. In rund 700 Metern Entfernung sind zumindest die Konturen einer Ruine sichtbar. «Es lag direkt am Strand, inmitten einer Zitrusplantage.» Davon sei jetzt nichts mehr übrig. «Militärs lieben Plantagen nicht.» Nach einer Weile sagt er: «Seit 45 Jahren darf ich nicht in das Haus zurück, wo ich aufgewachsen bin und aus dem ich als 15-Jähriger vertrieben wurde. Ist das kein Unrecht?» Jeden Tag erzählt Mr. John diese Geschichte, trotzdem wirkt sie authentisch.
Vor allem möchte ich endlich näher an Varosha und an jenen sagenhaften Strand gelangen, von dem die einschläfernde Stimme im Film so schwärmt. Sand wie Gold und azurblaues Wasser – bei 34 Grad im Schatten hört sich das ziemlich vielversprechend an …
Statt beim nahe gelegenen Checkpoint Deryneia in den Norden zu fahren, macht Mr. John einen grösseren Umweg. Denn Touristen in den besetzten Norden zu fahren, macht sich auch nach der Öffnung der Demarkationslinie nicht gut. So wählt er für den Übergang in den Norden eine der drei souveränen britischen Basen aus.
Dreimal ein Stück Britannien
Souverän heisst hier wirklich souverän. Auf den Stützpunkten Dhekelia, Akrotiri und Agios Nikolaos herrscht britisches Recht, ohne Wenn und Aber. Die zyprischen Behörden haben hier nichts zu suchen und bekommen weder Miete noch sonstige Entschädigungen für die ausgedehnten Militäranlagen – ein Erbe der Kolonialzeit. Für Mr. John hat dieser Umstand aber den grossen Vorteil, dass er seine Touristen offiziell nur in den Stützpunkt Agios Nikolaos bringt. Dieser Horchposten für den Funkverkehr im Nahen Osten grenzt direkt an den besetzten Teil der Insel.
In zwei Minuten haben wir das Stück England durchquert. Links und rechts britische Reihenhäuser, Radarantennen und ein Polofeld. Dann stehen wir vor dem Checkpoint der nur von der Türkei anerkannten Türkischen Republik Nordzypern. Nach der Ausweiskontrolle heisst Mr. John die türkisch-zyprische Begleiterin willkommen, die sich zu uns an Bord setzt und bleibt, bis wir am Nachmittag wieder in den Süden zurückkehren.
Nach einer kurzen Begrüssung setzt Mr. John seine stakkatohafte Anklage gegen das Unrecht von Varosha fort. Die Begleiterin verzieht keine Miene, sie kennt Mr. John und ist als Inseltürkin sogar einverstanden, wenn er sagt, die Rückgabe Varoshas an die rechtmässigen Besitzer wäre die Grundlage einer echten Verständigung auf der Insel. Die Chance, dass sie dies noch erleben würden, sei allerdings nicht sehr gross, schränkt Mr. John ein. «Der Sultan von Ankara hat anderes vor mit unserer Insel.» Gemeint ist Recep Tayyip Erdoğan.
Nach einer Weile biegt der Bus von der Hauptstrasse ab. Wir fahren entlang der «Famagusta Road», der westlichen Abgrenzung von Varosha. Es ist eine eindrückliche und zugleich bedrückende Fahrt entlang einer schier endlosen Reihe von Ruinen, alle fünfzig Meter steht ein rotes Schild: «Militärzone – Fotografieren verboten». Die Warntafeln imponieren den wenigsten im Bus, wir fotografieren Kirchen, verfallene Villen, ganze Strassenzüge und im Hintergrund die zehn bis dreizehn Stockwerke hohen Hotelruinen. Dort liegt der Strand. Dorthin wollen wir.
Ruinen mit und ohne Meerblick
Nach einer halben Stunde hält Mr. John seinen Bus an und zeigt auf eine enge Gasse, die an drei Hotelruinen vorbei zum Meer führt. «There is your beach», meint er. «Ich warte hier auf euch.» Eine feuchtwarme Brise weht uns entgegen, als wir am Ende der Gasse angelangt sind.
Vor uns breitet sich eine Strandszene aus, nicht anders als überall auf der Insel: Kinder spielen im Wasser und schreien begeistert, wenn eine Welle sie erfasst, stoisch hantiert ein Pärchen mit Badmintonschlägern. Ein Mann vermietet şezlong, Strandsitze. Aus einer Strandbude erklingt – auch das gehört zum modernen Strandleben – ebenso zeit- wie sinnlose Loungemusik.
Links das Meer, rechts Stacheldraht und dahinter die inzwischen berühmten Hotelruinen von Varosha. Nur die Skelette stehen noch, alles Verwertbare wurde vor Jahrzehnten entfernt. «Gestohlen», wird Mr. John später sagen. Von einem zehnstöckigen Hotel ist der untere Teil des Liftschachts weggeschossen. Die Liftkabel sind noch sichtbar. Wir gehen weiter den Stacheldraht entlang, der irgendwann bei einem unbemannten Kontrolltürmchen im Wasser endet.
Von hier aus können wir über den Zaun den Geisterstrand von Varosha sehen. Endlich! Doch was für eine Enttäuschung: Anstelle des erwarteten breiten und kilometerlangen, goldig schimmernden Sandstrandes drängen sich dicht aneinander Ruinen mittelgrosser Hotels bis fast an die Wasserlinie. Offensichtlich wurde der Strand hier aufgeschüttet. Planlos und auf Teufel komm raus wollte man noch die letzten Meter ausnützen in jener Goldgräberstimmung Ende der Sechzigerjahre. Als Liz Taylor, Richard Burton, Sophia Loren und Marilyn Monroe Varosha zur Côte d’Azur des östlichen Mittelmeeres machten und die Feste der Reichen und Schönen nicht enden wollten.
Im direkt vor uns liegenden Stadtteil dürfte sich der Jetset allerdings kaum aufgehalten haben. Nur die schmale Seite der Hotels blickt jeweils aufs Meer. Von den meisten Zimmern aus konnte man wohl zu den Nachbarn in der unmittelbar daneben gebauten Massenherberge schauen. Eine ziemlich deprimierende Vorstellung. Erst nach ungefähr einem Kilometer wird der Strand breiter, gibt es mehr Luft zwischen den Hotelbauten. Von hier aus erstreckt sich der Strand hin bis zu jenem Punkt im äussersten Süden der Stadt – dort, wo wir das Geburtshaus von Mr. John erahnen – tatsächlich majestätisch und vor allen Dingen: menschenleer. Bis auf ein kleines Häufchen von Badenden, das mit dem Fernrohr vor dem ehemaligen Luxushotel Golden Sands zu erkennen ist. Familienangehörige der türkischen Spezialtruppen, die die Stadt bewachen.
Ein abgelaufenes Faustpfand
Die 45’000 Menschen, die hier auf rund fünfzig Quadratkilometern zusammengepfercht lebten, erwirtschafteten 53 Prozent der damaligen Tourismuseinnahmen Zyperns. Angesichts des traurigen Zustandes der Gebäude drängt sich die Frage auf, ob das alles nach fast einem halben Jahrhundert nicht unwiederbringlich verloren ist. Jahrzehntelang war diese Frage eine rein rhetorische. Varosha – Maraş auf Türkisch – war im Besitz der allmächtigen türkischen Armee. Ende der Diskussion. Doch in den vergangenen zehn Jahren hat sich einiges radikal geändert: Die Armee ist spätestens nach dem brutalen Durchgreifen Erdoğans im Nachgang zum gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016 nicht mehr allmächtig. Und draussen vor der Küste wurden Gasvorkommen gefunden.
Sprach man lange davon, die Türkei wolle Varosha nur als Faustpfand für eine in ihrem Sinne günstige Lösung behalten, redet jetzt kaum noch jemand von einer Lösung. Die Regierung in Ankara hat inzwischen drei von Kriegsschiffen begleitete Explorationsschiffe nach Zypern geschickt, um nach Gas zu suchen. Als die EU scharf gegen diese Aktion protestierte – die offiziell immer noch die ganze Insel umfassende Republik Zypern ist Vollmitglied der Union –, verlautete aus Ankara, Europa sei in der Flüchtlingsfrage von der Türkei abhängig und solle sich nicht einmischen. Gleichzeitig kündigte die Regierung an, ein weiteres Bohrschiff in die zyprischen Gewässer zu schicken.
In der türkischen Öffentlichkeit wird es so dargestellt, dass die Inselgriechen – unterstützt von Israel und den USA – sich die rechtmässig den Türken zustehenden Öl- und Gasreserven unter den Nagel reissen würden. Erneut droht die Lage im Hochsommer zu eskalieren, einmal mehr wird auf beiden Seiten Unnachgiebigkeit zur Schau getragen. Ältere Pläne, den Reichtum des Meeresbodens für die Finanzierung einer friedlichen Lösung des jahrzehntealten Konflikts einzusetzen, sind in Vergessenheit geraten – allein der Schadenersatz für die im Krieg enteigneten Immobilien von Varosha würde viele Milliarden verschlingen.
Auf dem Rückweg schürft Mr. John noch tiefer in der Geschichte und erzählt, wie die Insel 1960 die Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich erlangte, wie die Londoner und Zürcher Abkommen aber kaum einen lebensfähigen Staat sichern konnten.
Und er berichtet davon, wie viele junge Inselgriechen heute lieber nicht mehr das Risiko einer gemeinsamen Regierung mit den Inseltürken eingehen wollen. «Die jüngeren Generationen haben den Krieg nicht mehr erlebt, sie sind ohne Inseltürken aufgewachsen. Sie glauben nicht an eine Lösung.» Mr. John ist auch im eigenen Land ein einsamer Rufer. Der noch hofft, irgendwann könnten er und seine Familie doch noch an den Strand von Varosha zurückkehren.
Werner van Gent hat vier Jahrzehnte lang für Schweizer Medien aus Griechenland, der Türkei sowie aus Zypern, dem Iran und dem Irak berichtet. Heute organisiert er Studienreisen und Konferenzen im Rahmen seiner Firma «Treffpunkt Orient». Er pendelt zwischen Griechenland und der Schweiz.