I ❤️ Malle
«Ballermann» ist zum Inbegriff für einen Party-Tourismus geworden, dem viele Reisende aus dem Weg gehen. Besuch an einem Strand mit einem Ruf wie Sau. «Am Strand», Folge 2.
Von Michael Rüegg (Text) und Tomeu Coll (Bilder), 26.07.2019
Wie – waren – wir – bloss – da – hineingeraten? Damals vor gut zwanzig Jahren.
Den ganzen Tag waren wir mit dem geliehenen BMW Z3 Cabrio einer Cousine über die Insel gefahren, vorbei an Fincas, durch mittelalterliche Dörfer, über Pässe, entlang von Felsenküsten. Es war schon dunkel, als ein Wegweiser nach Arenal zeigte und die Neugier uns packte.
Wir wollten den berühmten Ballermann sehen. Einmal, nur kurz. Aus Distanz. Und dann schnell zurück an Mallorcas ruhige Westküste.
Durch dunkle, menschenleere Seitenstrassen, vorbei an den Mauern der Apartment-Anlagen, bahnten wir uns den Weg dorthin, wo wir das Meer vermuteten. Irgendwo bogen wir rechts ab. Und ohne Vorwarnung fand sich unser Cabrio in einem Lavastrom von Besoffenen wieder, der zäh durch die Fussgängerzone floss.
Von S’Arenal im Westen bis Tripoli im Osten: Es gibt Tausende Strände am Mittelmeer. Einige haben es zu Berühmtheit gebracht. Andere warten auf ihren Durchbruch. Neun Besuche an Sehnsuchtsorten am Wasser. Zur Übersicht.
Sie lesen: Folge 2
S’Arenal, Mallorca
Folge 3
Tripoli, Libanon
Folge 4
Tel Aviv, Israel
Folge 5
Varosha, Zypern
Folge 6
Ostia, Italien
Folge 7
Sousse, Tunesien
Folge 8
Saint-Tropez, Frankreich
Folge 9
Vlora, Albanien
Wir waren versehentlich mitten ins Epizentrum des Ballermann-Tourismus geraten. Ich sass am Steuer und schwitzte Blut. Alles, woran ich denken konnte, war: Jetzt kotzt mir gleich einer von denen in den Wagen. Oder noch schlimmer, sie demolieren ihn, wie Demonstranten am 1. Mai.
Wir ernteten eine Menge verwunderter Blicke, als sich der Z3 in Zeitlupe durch die Masse pflügte, wir beide fiebrig auf der Suche nach der nächsten Abzweigung, einem Notausgang aus dem Menschenstrom.
Doch die Männer mit den Bierbäuchen und den sonnenverbrannten Gesichtern machten keine Anstalten, uns ein Leid antun zu wollen. Sie gingen dem BMW ehrfürchtig aus dem Weg.
«Schschschönes Auddo, Junge», rülpste mir einer ins Gesicht.
Jetzt ist Schluss mit lustig
Doch dieser Ballermann, wie er leibte und lebte, soll bald der Vergangenheit angehören. Zumindest legen dies die Berichte in Zeitungen und auf Newssites nahe, die pünktlich zum Auftakt der diesjährigen Tourismussaison erschienen sind: «Neue Regeln gegen Sauftourismus» stand da, und «Benimmregeln für deutsche Touristen». Der linksgrüne Bürgermeister von Palma sei gewillt, die örtliche Bevölkerung vom schändlichen Treiben der Gäste zu befreien.
öffentlicher Alkoholkonsum;
Getränke aus Lokalen auf die Strasse zu tragen;
bei Händlern am Strand zu kaufen;
Happy Hours und Werbung für Alkohol;
Alkohol nach Mitternacht in Supermärkten zu verkaufen.
Wer früher nach El Arenal fuhr, brauchte keine Ausreden. Es war klar, was man dort suchte. Feiern, Alkohol, Stimmung! Billig gemachte Reports auf deutschen Privatsendern feuerten den Mythos «Malle» an. Die TV-Teams bezahlten ein paar Leuten eine Nacht lang die Drinks und hielten dafür ihre Kameras aufs peinliche bis primitive Geschehen.
Mittlerweile – die Balearen fühlen sich Spanien nicht mehr ganz so zugehörig – heisst der Ort wieder mallorquinisch S’Arenal. Aber eigentlich ist er Teil der Platja de Palma, des sechs Kilometer langen Strandes der Inselhauptstadt. Wie ein riesiges Hufeisen liegt die Bucht von Palma da, in ihrer Mitte die Platja.
Eine Spotify-Playlist für Mallorca
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Hier wurde in den 1960ern der mallorquinische Massentourismus geboren. Und später die Legende vom Ballermann 6, dem Inbegriff von Komasaufen am Strand.
Eigentlich war der Ballermann 6 nur Teil der säuberlich durchnummerierten Strandinfrastruktur. Weil Deutschen das Wort Balneario – also Strandbad – nicht so leicht über die Zunge geht, wurde daraus Ballermann. Von der einstigen Strandkneipe ist nicht viel übrig. Sie wurde umgebaut in einen schicken Pavillon mit Bar, wo zur Mittagszeit welke Damen am ersten Aperol Spritz nippen.
Die Platja ist eigentlich hübsch. Früher lag hier ein Fischerdorf, im Jahr 1910 wohnten dort 37 Menschen. Der breite Strand fiel flach in die Bucht ab. Das tut er noch heute, allerdings nicht mehr so breit, dafür umsäumt von der Betonmauer der Promenade. Tonnen neuen Sands mussten vor zwanzig Jahren hierhin gekarrt werden, weil der ursprüngliche in den Achtzigern wegerodiert war.
Hinter einer bräunlichen Wolke aus Seegras und Pflanzenresten verläuft das Wasser vom Türkisen ins Blaue. Am ganzen Strand stehen Wäldchen von Sonnenschirmen mit Dächern aus Stroh, anmietbar zu sechs Euro, zuzüglich derselben Leihgebühr pro Liegestuhl.
Bumbum, Eimersaufen und die Helmuts
In den schirmfreien Zonen dazwischen, unter der prallen Sonne, geht sie am meisten ab, die Post. Ich platziere mein Strandtuch strategisch günstig an einem vielversprechenden Abschnitt zwischen Balneario 5 und 6.
Beschallt werde ich von zwei Seiten. Zu meiner Linken läuft kecker Latino-Sound. Rechts von mir sitzt ein Do-it-yourself-DJ auf seinem portablen Lautsprecher und spielt deutsche Partyschlager rauf und runter. Gelegentlich singt er mit oder kommentiert über ein kratzendes Mikro das Geschehen. Etwa, wenn Mohammed in der Clique vor ihm zum Song «Geiler Arsch, geile Bitch» seine Badehose runterzieht und dem versammelten Volk unter Beifall seinen gebräunten Po präsentiert – ohne tan line.
Hier am Strand wird das Uniforme gepflegt. Der typische Arenal-Tourist ist in etwas mehr als zwei von drei Fällen männlich und Teil einer Gruppe, gelegentlich bis zu dreissig Mann oder mehr stark. Die Zugehörigkeit zu einem grösseren Ganzen wird durch Kleidung markiert: Die einen Truppen tragen Fussballshirts, andere Badeshorts mit Aufdrucken wie «SEXY WEST» oder «#kommdoch». Über die Uniformität hinaus werden auch individuelle Akzente gesetzt. Accessoires wie lustige Sonnenbrillen, schräge Hüte oder das gelegentlich sichtbare Hotdog- und Superheldenkostüm unterstreichen die Originalität ihrer Träger. Seit einigen Jahren beliebt sind auch Plüschaffen in diversen Farben, die man sich um den Hals hängen kann. Drückt man ihnen auf den Bauch, leuchten ihre Augen rot, und sie kreischen, als würden sie gefoltert.
Die Uhr zeigt noch nicht mal eins, und schon wird hier gebechert, was reingeht. Von den Supermärkten an der Strasse tragen die Jungs stapelweise Twelve-Packs mit San-Miguel-Dosen rüber. Da und dort wird der deutsch-mallorquinische Brauch des Eimersaufens gepflegt, mit extrem langen Strohhalmen. Man sitzt oder steht um einen Plastikkübel, nuckelt gemeinsam an den Halmen, freut sich dabei und trainiert unwissentlich die fürs Saugen zuständigen Muskeln im Mundbereich.
Etliche Strandhändler, in der Mehrheit Afrikaner und Pakistani, bieten trotz Verkaufsverbot von der Sonnenbrille übers Freundschaftsarmband bis zum Batiktuch das übliche Sortiment an. Einige verstossen gar gleichzeitig gegen zwei Verbote, indem sie am Strand Bier verkaufen. Chinesinnen mit Strohhüten fragen zweimal pro Minute, ob man denn eine Massage möchte, die «wirklich super» sei.
Mit anderen Worten: Das ist der ideale Ort, um die Wirkung der neuen Gemeindeverordnung über die Zonas de Especial Interés Turístico zu testen, also diejenigen Gebiete, in denen die erwähnten Verbote gelten. Schliesslich hatte die Polizei bereits zu Saisonbeginn stolz die ersten gegen Touristen verhängten Bussen verkündet.
In wenigen Minuten würde also eine Polizeipatrouille auftauchen und die öffentliche Ordnung wiederherstellen.
Das will ich mir nicht entgehen lassen.
Doch – spoiler alert – der Nachmittag verstreicht ohne Uniformierte. Und auch im Posten der policia local, einen kurzen Fussmarsch entfernt bei Balneario 7, ist von Ordnungshütern keine Spur zu sehen. Auch die Nationalpolizei, die immerhin einmal die Strasse entlangfährt, lässt sich nicht von der Horde besoffener Zwerge beeindrucken – die kostümierte «Kulttruppe» des VfB Hilden aus Nordrhein-Westfalen, über deren jährliches Auftauchen in Malle sogar die «Bild»-Zeitung berichtet.
Mallorca ist hart
Man könnte den Ort leicht für eine Art Vorhölle halten. Doch bei allem gelegentlich auftauchenden Gefühl der Befremdung: Hat man sich mal auf den Trubel eingelassen, ist alles gar nicht so schlimm. Selbst als einziger Nüchterner wippe ich mit dem Finger, als aus der Box «Zeig mir deine Möpse» dringt. Oder das hier:
Der Kopf tut weh, die Beine auch!
Hab’ ein komisches Grummeln im Bauch.
Wen wunderts, dass mir schlecht ist, Mallorca ist hart.
Ich sollte vielleicht heute nicht an den Start.
Bei aller Sauferei bleibt die Stimmung am Strand bemerkenswert friedlich. Die meisten hier sind jung. Anfang zwanzig, gelegentlich etwas drüber. Zwischen die Lauten pflanzt sich da und dort auch ruhiges, gesetzteres Publikum. Sie wirken wie angejahrte Stammgäste, die früher mal Gas gegeben haben und nun in Erinnerungen schwelgen, während sie Sonnenöl auf misslungene Tattoos schmieren, die sie sich vor Jahren ein paar Strassen weiter stechen liessen.
Ein junger Kerl vor mir, trainierter Body, charmantes Lächeln, konversiert mit einem der Strandhändler, die hier alle Helmut heissen: «Komm, ich verkauf ein paar für dich», und nimmt ihm die Sonnenbrillen ab. Gemeinsam stapfen Touri und Händler durch den Sand davon. Nach ein paar Minuten ist der Junge zurück: «Vier Stück!», und hebt unter dem Jubel seiner Kumpel die Arme in die Luft. Den Händler freuts, die Verkaufsförderung durch den gut aussehenden Deutschen hat gewirkt.
Mit steigendem Alkoholpegel ziehen die Umsätze an. Einer lässt sich eine grüne Strähne ins Haar flechten, der andere liegt auf seinem frisch erworbenen Batiktuch. Das hat er gekauft, weil sein Kumpel das Leintuch nicht teilen will, das er aus dem Hotel mit an den Strand genommen hat. Währenddessen kneten die Massagefrauen, was das Zeug hält.
Der Alkohol, die Gäste und die Händler – sie bilden eine wunderbare Symbiose.
Und aus dem Lautsprecher singts:
Jeden Tag Pommes, Bratwurst und Bier.
Man ist kein Mensch mehr, lebt wie ein Tier.
An diesen Tagen ist gar nichts normal.
Die Dauerparty wird zur Höllenqual.
Aber scheiss drauf! Malle ist nur einmal im Jahr.
Ole, Ole und Schalala!
Aber scheiss drauf! Malle ist nur einmal im Jahr.
Ole, Ole und Schalala!
Der Nachmittag streicht so dahin, und irgendwann rette ich mich aus der Sonne in eines der frisch renovierten Restaurants gegenüber der Promenade. Ein junger Mann macht am Tisch zweier gesetzterer Damen halt und lallt: «Ich bin der Bierkapitän, ich will eure Bierbäuche seh’n», geht dann aber wortlos ab.
So langsam leert sich nun der Strand. Viele haben sich für ein paar Stunden in ihre Bleiben zurückgezogen. Man macht Siesta, ein paar wenige werden mit ihren neuen Eroberungen vögeln gehen. Nicht zufällig stehen in den Apotheken riesige Regale mit Kondomen. Ob sie denn mit dem Umsatz bei den Präservativen zufrieden sei, frage ich die Apothekerin: «Ja, doch, jetzt ziehts wieder an.»
Kein Wunder. Am ersten Juni-Samstag sollen über 150’000 Fluggäste am Flughafen von Palma gelandet sein. Lange hatten die Hoteliers über die schlechte Saison gejammert. Dann, kurz bevor sie losging, begriffen auch die letzten Regengeplagten im Norden oben, dass Auffahrt und Pfingsten dieses Jahr günstig liegen. Das Geschäft kam langsam in Schwung. Anfang Juni stand laut der deutschsprachigen «Mallorca Zeitung» eines der ersten «schwierigen Wochenenden» für Arenal an. Die Gymnasiastinnen hatten ihr Abi in der Tasche und die Hobbysportler ihr Saisonende. Zeit zum Feiern.
Der Barde von Arenal
«Vor zwei Jahren war das hier noch das ‹Krombacher Eck›», sagt Peter Wackel. Wir sitzen am Tischchen in einem der neuen schicken Lokale an der Strasse hinter der Strandpromenade. Wackel kennt hier jeden, auch den DJ, der über unseren Köpfen Chill-out auflegt. Soll hier alles ein bisschen wie Ibiza werden, meint er.
Hab dich heute am Strand gehört, Peter.
Ich hör mich manchmal aus drei Ecken gleichzeitig.
Peter Wackel – bürgerlicher Name Steffen Haas – ist Partysänger. Und die Stimme, die «Aber scheiss drauf, Malle ist nur einmal im Jahr» zum Besten gibt. Das Lied hat ihm einst den Zorn der Mallorquiner eingetragen, weil die Tageszeitung «Ultima Hora» den Refrain fälschlicherweise mit «Mallorca ist scheisse» übersetzt hatte.
Wenn Wackel singt, fliesst das Bier aus den Zapfhähnen, es fallen die Hemmungen – und manchmal auch die Menschen von den Barstühlen. Vor 19 Jahren, mit Anfang zwanzig, wanderte er nach Mallorca aus. Früher war Partysingen ein Hobby, heute sein Beruf. Daneben hat er Einnahmen aus Ferienimmobilien. Hier in Arenal leben würde er nie wieder, sagt er. Mit Frau und Familie bewohnt Wackel eine Finca weiter landeinwärts.
Peter, was ist denn nun mit den Verboten, von denen man liest?
Früher hatten die überall Schilder, dieses Jahr sind die alle wieder weg. Und die linke Stadtregierung will nicht wirklich gegen die Strandhändler vorgehen, weil die sagen: Die müssen ja auch von was leben. Dabei sind ein paar davon richtig aggressiv. In Magaluf drüben, wo die Briten urlauben, geht das nicht. Wenn da ein Händler einen Briten blöd anmacht, hat er eine Faust im Gesicht.
Magaluf – der Ort wird in Zusammenhang mit Arenal häufig genannt, im Sinne von: noch schlimmer als hier. Er ist der britische Gegenpol zum deutschen Strand. Dort säuft und feiert die Jugend des Vereinigten Königreichs. Jedes Jahr druckt die englische Boulevard-Presse Fotos von sympathischen Teenagern ab, die beim Balkon-Jumpen in Magaluf in die Tiefe stürzen und sich das Genick brechen.
Keine Nationalität sei in grossen Gruppen erträglich, findet Peter Wackel. Darum soll auch Arenal weniger deutsch werden. Man hätte gerne ein durchmischteres Publikum hier.
Tatsächlich war vor allem in deutschen Medien von den neuen Verboten die Rede. Am Strand ist davon nichts zu sehen. Die grösste Neuerung betrifft die Sauflokale, sie mussten Absperrungen zur Strasse hin bauen. Was gut sei, findet Wackel, nun könne einem nicht mehr jeder das Handy vom Tisch klauen, wenn man draussen sitze.
Wirklich neu sind die Verbote auch nicht. Mallorca nimmt immer wieder Anläufe in diese Richtung. Bereits eine konservative Vorgängerregierung in Palma hatte ein Massnahmenpaket erlassen – doch die linke Opposition focht es als grundrechtswidrig vor Gericht an, weil die Konservativen Einschränkungen der Versammlungsfreiheit mit hineingepackt hatten.
Die Sicherheitsfrage
«Du musst meinen Schweizer treffen», sagt Peter Wackel und winkt einem muskulösen Blonden zu, der mit den Augen das Lokal absucht. Wackels Bodyguard Diego, der mal Schaffhauser war, aber schon als Kind nach Spanien kam. Schweizerdeutsch hat er etwas verlernt, dafür kann er Kampfsport. Um neun wird Peter Wackel im «Bierkönig» auftreten, drüben an der Schinkenstrasse, wo mächtig viel los ist. Eines der ganz grossen Sauflokale, sieht aus wie eine Reithalle, mit Bayernflaggen und Wappen behängt. Hier war Diego früher Security, bevor er sich selbstständig machte und jetzt seine eigene Firma aufbaut. Seine Geschäftsaussichten sind blendend.
«Hat ja viel zu wenig Polizei auf der Insel», sagt Wackel. «Nur wenn der König hier Urlaub macht, schicken sie mehr Beamte vom Festland.» Ansonsten sei die Polizei massiv unterbesetzt. Arenal habe echt ein Problem, findet der Partysänger. «Nachts würde ich hier nicht alleine rumlaufen.» Respektive nur mit Diego an seiner Seite.
Du findest also, dass gar nicht die Sauftouristen das Problem sind?
Vor fünf Jahren hätte ich noch gesagt, alles bestens. Aber heute ist es schlimm. Es wird geklaut, Leute werden überfallen. Die Hoteliers haben die Schnauze voll. Die kriegen täglich Anzeigen von bestohlenen Gästen.
600 bis 700 Millionen Euro seien in den vergangenen Jahren in Renovationen und Neubauten an der Platja geflossen, schätzt man in Arenal. Viele alte Bunker der Holzklasse sind neuen Vier- und Fünfsternehotels gewichen. Schnitzelbuden sind zu Steakhouses mutiert, Biergärten zu Lounges. Arenal möchte einen anderen Tourismus.
Vor allem aber hat der Ort nun mehr Kapazitäten. Ein jahrelanger Baustopp wurde aufgehoben, die Vorgängerregierung in Palma hatte erlaubt, die Hotelflächen um 40 Prozent anzuheben – unter der Bedingung, dass der Komfort verbessert wird. Das Resultat sind Ersatzneubauten. Hippe Designtempel sind keine Seltenheit mehr. Zurück zur Natur geht nicht. Also träumt Arenal ein wenig davon, wie Miami Beach zu werden. Und wenn die Polizei die ansteigende Kriminalität nicht in den Griff bekommt, weicht die Tourismusindustrie auf private Sicherheitsdienste aus. Eine Chance für Diego, den Ex-Schweizer.
So richtig auf die Sauftouris verzichten kann und will man in Arenal allerdings doch nicht. Sie würden der Insel unter dem Strich mehr Wertschöpfung generieren als die Golftouristen, meint Wackel. Und Goldgruben wie der «Bierkönig» gehören schliesslich einflussreichen mallorquinischen Familien.
Autogrammstunde mit dem Botschafter
Die Müllberge am Strand sind längst abgetragen, die Liegestühle gestapelt und gesichert. An der Promenade massiert ein Tourist die Schultern einer Chinesin, ein anderer versucht die Sonnenbrille weiterzuverkaufen, die er doch nicht will. Und im Wasser draussen stehen einige Fischer. Der Strand hat Feierabend. Nicht aber Peter Wackel, der hat jetzt Auftritt im «Bierkönig».
Was man angesichts seiner Aussagen über die neuen Benimmregeln nicht zwingend vermuten würde: Peter Wackel ist offizieller Botschafter der Stadtregierung für gemässigten Sauftourismus – weil die feiernde Bande wohl eher auf ihren Landsmann hört als auf die Vertretung der Stadtverwaltung. Was Wackel aber wirklich kritisiert, ist das Verhalten vieler Komasauftouristen: «Früher hat man gegenseitig auf sich achtgegeben. Heute lassen sie ihren Kumpel einfach auf der Strasse liegen, wenn er nicht mehr kann», sagt Wackel. Da habe sich doch etwas verändert.
Nach der Ankunft im «Bierkönig» jubelt eine vierstellige Zahl mehrheitlich recht junger Gäste, als der Mann am DJ-Pult den Namen des nächsten Acts ankündigt. Peter Wackel ist zur Institution geworden. Träte er nicht auf, wäre das Lokal um die Uhrzeit halb leer. Wackel singt seine Hits, darunter sein Standardwerk «I Love Malle» sowie beliebte Cover-Versionen, etwa von «Manchmal möchte ich schon mit dir» oder «Joana (du geile Sau)». Dazwischen wirft er T-Shirts in die jubelnde Menge. Nach etlichen Zugaben derselben Songs signiert er geduldig Autogramm um Autogramm.
Der Uhrzeiger steht auf kurz vor elf. Wackel zieht mit ein paar Freunden und Bodyguard Diego ein Haus weiter. In ein neues Designhotel, das eine Cocktailbar auf dem Dach hat. Ins neue Arenal. Wackel will kein Bier, er will jetzt einen Hugo.
Im Dunkeln lauern Langfinger
Im alten Arenal, drüben an der Schinkenstrasse, wird noch lange weitergefeiert. «In den frühen Morgenstunden kotzen diese Lokale Tausende Betrunkene aus», sagt Wackel. Die torkeln dann durch die finsteren Strassen weit hinter der Promenade, die dritte und vierte Reihe, auf der verzweifelten Suche nach ihren Hotels. Dort werden sie zur leichten Beute für die Diebe. Und manchmal für «Klauhuren», eine lokale Spezialität – Frauen, die unverschämt günstige Blowjobs anbieten und den Kunden dabei die Taschen leeren.
Schon etwas Strassenbeleuchtung würde die Situation wohl entschärfen, ist sich die Runde einig. Vielleicht ringt sich die Stadtregierung zu Laternen durch, wenn aus den Grossbaustellen entlang der Gehsteige die nächsten Hotels werden. Und deren Geschäftsführer sich nicht Tag für Tag anhören mögen, dass ihre Gäste beklaut werden.
Normalerweise habe ich auf Reisen nie Angst um meine Sicherheit. Aber die letzten paar hundert Meter zu meinem Mietwagen denke ich an Wackels Aussagen über Taschendiebe und Strassenräuber. Auf der Autobahn raus aus dem Moloch fällt mir auf, wie konzentriert der Tourismus auf diesen paar Kilometern ist. Für eine Insel wie Mallorca ist es gar nicht mal so blöd, einen Ort wie Arenal zu haben. Alles, was Individualreisenden ein Horror ist, versammelt sich hier.
Arenal hat alles. Und von allem etwas zu viel. Jetzt will sich der Ort neu erfinden. Allerdings ohne die lieb gewonnenen Einnahmen aus dem Sauftourismus aufzugeben.
Nach ein paar Minuten endet die neue Autobahn in den Ostteil der Insel. Hier beginnt das spärlicher besiedelte Hinterland. In Arenal wird bis in die frühen Morgenstunden gebechert. Auf dem Land schlafen um diese Uhrzeit die Fincabesitzerinnen.
Sie sind froh, dass Arenal an den Rändern der Platja aufhört.
Tomeu Coll stammt aus Mallorca und schloss 2004 an der Universitat Autònoma de Barcelona sein Fotografie-Studium ab. Seither hat er seine Arbeiten in diversen Ausstellungen inner- und ausserhalb von Spanien gezeigt.