Boris on top, Ukraine im Umschwung, Pause für Cristiano, Österreich schreddert – und diskriminierte Frauen
Woche 30/2019 – das Kurzbriefing aus der Republik-Redaktion.
Von Andrea Arežina, Ronja Beck, Adrienne Fichter und Oliver Fuchs, 26.07.2019
Boris Johnson ist neuer britischer Premierminister
Darum geht es: Theresa May hat es hinter sich; ab sofort ist der Brexit das Problem ihres Nachfolgers. Boris Johnson hat am Dienstag die parteiinterne Wahl gewonnen, seit Mittwoch ist er im Amt. Mays Kabinett war einigermassen ausgeglichen besetzt mit Brexit-Befürwortern und proeuropäischen Moderaten. Johnson hat fast alle Moderaten entlassen – und durch Ultrakonservative und Hardliner ersetzt.
Warum das wichtig ist: Boris, mit vollem Namen Alexander Boris de Pfeffel Johnson, hat einen langen Weg an die Macht hinter sich. Er stammt aus der britischen Oberklasse, wuchs in New York und Brüssel auf. Sein professionelles Leben begann er als Journalist bei der «Times», wo er wegen eines erfundenen Zitates entlassen wurde. Johnson wechselte zum «Daily Telegraph», wurde Korrespondent in Brüssel. Dort erfand er statt einzelner Zitate gleich ganze Geschichten (zum Beispiel die, dass die EU Kondomgrössen standardisieren wolle). Seiner Karriere tat das keinen Abbruch, im Gegenteil. Mit seinen sarkastischen, knackigen Texten wurde er zum Darling der britischen Euroskeptiker. Einmal zurück in London, stieg Johnson in die Politik ein (obwohl er seinem damaligen Chef kurz zuvor das Gegenteil versprochen hatte). Er wurde ins Parlament gewählt, dann zum Bürgermeister von London. Auch als Politiker schrieb er weiterhin für den «Telegraph». Er kehrte zurück ins Parlament (nachdem er zuvor mindestens 17-mal versprochen hatte, nicht erneut zu kandidieren) – wo er sich in einer berühmten Kolumne auf die Seite der Brexit-Befürworter schlug. Monate später berichteten mehrere Medien, dass Johnson zwei Versionen dieser Kolumne entworfen hatte: eine pro Verbleib in der EU und eine pro Brexit. Erst im letzten Moment habe er entschieden, welche denn nun veröffentlicht würde. Seinem Status als Aushängeschild der Brexiteers tat diese Enthüllung keinen Abbruch. Nach dem erfolgreichen Austrittsreferendum galt er als Favorit auf den Posten des Premiers. Er musste seine Ambitionen aber begraben, als ihm ein enger Verbündeter in den Rücken fiel («Ich bin in den letzten Tagen zum Schluss gekommen, dass Boris nicht fähig ist, das Land zu führen.») Stattdessen wurde Theresa May Premierministerin – und machte Johnson zu ihrem Aussenminister. Es folgten zwei Jahre voller Fehltritte und Affären um sexistische und rassistische Äusserungen. Schliesslich trat Johnson zurück, aus Protest gegen den nur harten und nicht ultraharten Brexit-Kurs von Theresa May. Als May schliesslich ihrerseits zurücktrat, erklärte er als Erster, ihre Nachfolge antreten zu wollen. In der Kampagne punktete er mit dem Versprechen, dass Grossbritannien die EU auf jeden Fall am 31. Oktober 2019 verlassen werde. In seiner Siegesrede versprach er, das Land zu einen.
Wie es jetzt weitergeht: Johnson hat über die Jahre sein Image als tölpelhafter, aber liebenswerter Politiker gepflegt. Bisher sind all die Skandale und gebrochenen Versprechen an ihm abgeprallt («Boris ist halt Boris»). Doch damit ist nun wohl Schluss. Denn Johnson hat im Wahlkampf eine Reihe von Versprechen gemacht, die sich unmöglich miteinander vereinbaren lassen. Johnson will den EU-Austrittsvertrag neu verhandeln, doch die EU hat das kategorisch ausgeschlossen. In dem Fall will er ohne Vertrag austreten, doch im Parlament gibt es dafür keine Mehrheit. Was wiederum bedeutete, dass die Briten am 31. Oktober nicht aus der EU austreten würden. Einziger Ausweg: Neuwahlen. Aber, Sie ahnen es schon, er hat seiner Partei hoch und heilig versprochen, dass es diese nicht geben wird. Johnson muss sich nun entscheiden, welches Versprechen er zuerst brechen will – und zum vielleicht ersten Mal in seinem Leben wird er die volle Verantwortung dafür übernehmen müssen.
Politischer Umschwung in der Ukraine ist perfekt
Darum geht es: Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski geht als Gewinner aus den Parlamentswahlen vom vergangenen Sonntag. Fast 44 Prozent der Stimmen gingen an seine Partei «Diener des Volkes». Damit hält der Ex-Komödiant und neue Präsident der Ukraine die absolute Mehrheit im Obersten Rat, dem ukrainischen Parlament. Die prorussische «Oppositionsplattform – Für das Leben» ist mit 13 Prozent der Stimmen die zweitstärkste Kraft. Die Partei «Europäische Solidarität» des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko erhielt gut 8 Prozent der Stimmen.
Warum das wichtig ist: Der Wahlausgang zeichnet einen definitiven Machtwechsel in der Ukraine. Dieser kündigte sich bereits im April an. Damals stiess der politische Newcomer Selenski mit 73 Prozent der Stimmen den damaligen Präsidenten Poroschenko aus dem Amt. Die Ukrainer kannten Selenski bis dahin als TV-Schauspieler. Ebenfalls kaum über politische Erfahrung verfügen seine zur Wahl aufgestellten Kandidaten, ein bunter Haufen aus – unter anderem – Journalisten, Aktivistinnen, Geschäftsleuten. Ein frischer Wind gegen das korrupte Establishment – diese Taktik kam an bei den Wählern. Zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit 1991 hat wieder eine Partei die absolute Mehrheit im ukrainischen Parlament. Die wirtschaftliche Situation in der Ukraine ist düster, und der Krieg im Donbass dauert an. Die Hoffnung auf tief greifende Reformen ist gross. Mit dem jetzigen Wahlergebnis gerät Selenski weiter unter Druck, seine Wahlversprechen einzulösen.
Was als Nächstes geschieht: Am Tag der Unabhängigkeit der Ukraine, dem 24. August, will Selenski erstmals sein neues Parlament zusammentreten lassen. Den Posten des Premierministers soll ein unabhängiger Ökonom einnehmen. In den nächsten Monaten wird sich zeigen, ob Selenskis durchmischte Dienerschaft eine gemeinsame politische Linie finden kann. Dass es mit der neuen Regierung in naher Zukunft zu einer Lösung im Donbass-Konflikt kommen wird, sehen Experten als unwahrscheinlich an.
Kein Strafverfahren gegen Cristiano Ronaldo
Darum geht es: Die Staatsanwaltschaft von Las Vegas hat sich entschieden, keine Anklage gegen den portugiesischen Fussballer Cristiano Ronaldo zu erheben. Sie begründet den Entscheid damit, dass die Anschuldigungen wegen sexuellen Übergriffs «nicht zweifelsfrei bewiesen» werden könnten. Somit muss sich Ronaldo in der Sache keinem Strafverfahren stellen. Bei dem mutmasslichen Opfer handelt es sich um Kathryn Mayorga. Die Amerikanerin gibt an, der Fussballer habe sie 2009 in Las Vegas vergewaltigt. Ronaldo streitet dies ab.
Warum das wichtig ist: Den Fall um Kathryn Mayorga hatte erstmals der «Spiegel» publik gemacht. 2017 machte das Magazin im Rahmen der Football Leaks bekannt, dass Ronaldo einer Frau, die ihn unter anderem der Vergewaltigung beschuldigte, Schweigegeld gezahlt hatte. Im Herbst 2018 gab sich die Frau schliesslich als Kathryn Mayorga zu erkennen. Damit wurden viele weitere Details zum Fall bekannt. Mayorga und Ronaldo hatten sich 2009 in einem Nachtclub in Las Vegas kennengelernt. Danach sei es zum Geschlechtsverkehr gekommen, der einvernehmlich gewesen sei, beteuert Ronaldo. Laut geleakten Dokumenten, die der «Spiegel» veröffentlichte, sagte Ronaldo jedoch selbst aus, Mayorga habe mehrmals Nein und Stopp gesagt. Seine Anwälte entgegneten, dass es sich bei den Dokumenten um Fälschungen handle. Mayorga ging noch am Tag nach der gemeinsamen Nacht zur Polizei und liess sich medizinisch untersuchen. Sie wies verschiedene Verletzungen im Intimbereich auf. Ronaldos Namen nannte Mayorga damals noch nicht. Die #MeToo-Bewegung habe ihr schliesslich den Mut gegeben, 2018 erneut zur Polizei zu gehen und den Namen des mutmasslichen Täters zu nennen. Trotz der Befunde und Dokumente verzichtet die Staatsanwaltschaft nun auf eine Anklage. Nach amerikanischen Recht wird ein Strafverfahren nur dann eröffnet, wenn ein Vorwurf mit äusserster Wahrscheinlichkeit bewiesen werden kann. Für Ronaldo ist dieser Entscheid ein erster Befreiungsschlag.
Was als Nächstes geschieht: Ein erster Befreiungsschlag – der Fall hat sich für den Fussballer noch nicht erledigt. Tauchen neue Beweise auf, kann es doch noch zu einem Strafverfahren kommen. Darüber hinaus hat Mayorga 2018 eine Zivilklage gegen Ronaldo eingereicht. Der jetzige Entscheid der Staatsanwaltschaft habe auf dieses Verfahren keinen Einfluss, betont Mayorgas Anwalt Leslie Mark Stovall. Zudem gilt bei Zivilverfahren in den USA – im Gegensatz zu einem Strafverfahren – der Grundsatz preponderance of the evidence, also ein Überwiegen der Beweise. Ein ziviles Verfahren wird dann eröffnet, wenn der Beschuldigte mit höherer Wahrscheinlichkeit schuldig statt unschuldig ist. Die Anwälte von Ronaldo wollen derweil erwirken, dass auch diese Klage abgewiesen wird oder vor einem Schiedsgericht landet. So könnte Ronaldo einer möglichen Gefängnisstrafe entgehen.
Österreich: Nach Ibiza kommt die Schredder-Affäre
Darum geht es: Hat Sebastian Kurz Daten unrechtmässig vernichten lassen? Diesem Vorwurf muss sich der ehemalige Bundeskanzler und ÖVP-Parteichef zurzeit stellen. Recherchen vom österreichischen «Kurier» legten vergangenen Samstag offen, dass ein Mitarbeiter der ÖVP am 23. Mai 2019 unter falschem Namen bei der Firma Reisswolf dreimal eine Festplatte hat schreddern lassen. Der Datenträger stammte aus dem Bundeskanzleramt. Die Wochenzeitung «Falter» präzisierte kurz darauf: Nicht eine, sondern fünf Festplatten seien zerstört worden. Beim ÖVP-Mitarbeiter handle es sich zudem um Arno M., den Social-Media-Beauftragten von Kurz. Der «Falter» veröffentlichte ein Überwachungsvideo, dass M. am Schredder zeigen soll.
Warum das wichtig ist: Arno M. hatte die Datenträger wenige Tage nach Veröffentlichung des Ibiza-Videos schreddern lassen und damit kurz vor der Abwahl von Kanzler Kurz am 27. Mai. Da Arno M. die Rechnung für das Schreddern nicht bezahlte, flog seine falsche Identität auf, und der Reisswolf-Chef meldete sich bei der Polizei. Der Zeitpunkt der Schredderung rief die Sonderkommission Ibiza auf den Plan, die in der gleichnamigen Affäre ermittelt. Gegen Arno M. besteht der Verdacht, Beweismittel vernichtet zu haben. Bereits am 18. Juli hatte die Sonderkommission seine Wohnung durchsuchen lassen und Arno M. einvernommen. Der ehemalige Kanzler Sebastian Kurz mag an dem Vorgehen seines Mitarbeiters nichts Auffälliges erkennen. Es handle sich grundsätzlich um einen «vollkommen normalen Vorgang», im Rahmen eines Regierungswechsels Daten zu vernichten. Zudem sei die Befürchtung naheliegend, sensible Daten könnten an die Öffentlichkeit gelangen, so geschehen 2017. Ob Arno M. die Daten tatsächlich hatte zerstören dürfen oder ob sie ins Staatsarchiv hätten überführt werden müssen, ist ungewiss. Zum jetzigen Zeitpunkt ist noch nicht geklärt, um welche Festplatten es sich handelte. ÖVP-Generalsekretär Karl Nehammer betonte, dass die Daten nichts mit der Ibiza-Affäre zu tun gehabt hätten. Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein hat derweil eine interne Untersuchung angeordnet.
Was als Nächstes passiert: Kanzlerin Bierlein wurde mit Parlamentsanfragen zur Sache eingedeckt. Die Parteien äussern Zweifel an den Erklärungen der ÖVP. Bierlein wolle die Anfragen möglichst rasch beantworten. Die oppositionelle Liste Jetzt plädierte am Mittwoch zudem für eine Sondersitzung des Nationalrats. FPÖ, SPÖ und Neos gaben sich jedoch zurückhaltend. Man solle zuerst die Ergebnisse der Untersuchung abwarten. Es wird mit einer Sondersitzung Ende August gerechnet.
Stellen-Killer bei Frauen
Darum geht es: Ein Forscherinnen-Team verschickte in Deutschland, Österreich und der Schweiz rund 9000 fiktive Bewerbungen auf Voll- und Teilzeitstellen. Die Studie liegt vor und kommt zu folgendem Schluss: Besonders verheiratete Frauen, die noch keine Kinder haben, werden bei der Stellensuche diskriminiert.
Warum das wichtig ist: In Vorstellungsgesprächen ist die Frage: «Wie sieht es betreffend Familienplanung aus?» laut Arbeitsrecht nicht zulässig. Aber selbst bei der öffentlichen Verwaltung kommt es vor, dass Bewerberinnen diese Frage gestellt wird, wie ein Beispiel zeigt. Die Einladung zum Vorstellungsgespräch folgt erst, wenn man mit seinem schriftlichen Bewerbungsdossier den zukünftigen Arbeitgeber überzeugen konnte. Hier kann aber die «falsche» Familiensituation – verheiratet und noch keine Kinder – bei Teilzeitstellen bereits zum Ausscheiden aus dem Bewerbungsprozess führen. Das zeigen die Untersuchungen des deutschen Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit, an denen auch die Professorin Ana Fernandes der Berner Fachhochschule mitgearbeitet hat. Während Frauen im Mutterschaftsurlaub sind, braucht die Firma einen Ersatz, einigen Unternehmen scheint das zu aufwendig, sie laden werdende Mütter nicht zum Bewerbungsgespräch ein. Professorin Fernandes sagt: «Um eine Diskriminierung zu verhindern, sollten Frauen deshalb darauf verzichten, bei Bewerbungen ihre familiäre Situation zu erwähnen.»
Was als Nächstes geschieht: Bereits angekündigt, in Bewerbungen das Geschlecht zu anonymisieren, hat die Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr. Beim Bund würde man sich freuen, wenn sich diese Praxis in der Schweiz verbreitete.
Zum Schluss: Amerika kann also doch Brüssel
Nach den ersten verhängten europäischen Strafen gegen die Datenschutzverletzungen von Big-Tech-Konzernen legte die US-Bundeshandelskommission FTC diese Woche nach. Und schaffte einen Weltrekord: 5 Milliarden Dollar muss Facebook für sein Aufsichtsversagen rund um das Big Data-Unternehmen Cambridge Analytica bezahlen. Ausserdem wird das soziale Netzwerk einem strengen Privacy-Regime unterstellt: Telefonnummern dürfen unter anderem nicht mehr für Werbezwecke verwendet werden. Der Aktienkurs legte nach Bekanntmachung des Vergleichs zu. Kurios? Nein. Weil der Status quo bleibt, was die Anleger natürlich beruhigt. Die Rekordbusse ist nur symbolische Pflästerchenpolitik. Facebooks Geschäftsmodell wird mit dem Deal endgültig legitimiert. Der Konzern darf weiterhin alle persönlichen Informationen von unwissenden Nutzern absaugen, wenn auch mit ein paar eingebauten Hindernissen. Gut möglich, dass der diese Woche erschienene Dok-Film «The Great Hack» – der den Fall Cambridge Analytica rekonstruiert – den grösseren Imageschaden für Facebook bringt. Bilder mögen stärker sein als Zahlen.
Top-Storys
Klima Schwankende Temperaturen, Wärmephasen – das gab es schon früher, argumentieren Leugner des Klimawandels gerne. Das stimmt, sagen nun Forscher der Universität Bern. Jedoch waren das rein regionale Phänomene, wie ihre detaillierten Analysen zeigen. Eine globale Erwärmung wie heute habe es in den letzten 2000 Jahren nie gegeben.
Fest des Hasses Woodstock jährt sich diese Woche zum 20. Mal. Sie lesen richtig. Es geht hier nicht um das Original 1969, sondern um Woodstock III, das 1999 im Staat New York wütete. Das Musikfestival, auf dem Bands wie Limp Bizkit oder die Red Hot Chili Peppers auftraten, lief innert Kürze gewaltig aus dem Ruder. Wie Woodstock III das Amerika von heute voraussah, zeigt die Rückschau von «Vice».
Noch mehr Hass Bleiben wir doch gleich bei den USA. Die haben zurzeit einen Präsidenten an der Backe, der sich – es überrascht leider nicht – rassistische Beleidigungen gegen Kongressabgeordnete erlaubt. Wie konnte das passieren? Der ehemalige Auslandskorrespondent Casper Selg sucht nach Antworten im «Echo der Zeit».
Hirn statt Hass Im Sommer 2009 verkündete Hirnforscher Henry Markram, in zehn Jahren eine perfekte Computersimulation des menschlichen Hirns präsentieren zu können. Sie hätten davon gehört, hätte er es geschafft. Was das von der EU mit einer Milliarde Euro geförderte «Human Brain Project» will und wieso unklar ist, ob es der Forschung überhaupt von Nutzen ist, lesen Sie in «The Atlantic».