Die Schweiz bastelt an einem Bumerang
Der Wirtschaftsminister, die Wirtschaft und das Parlament streben ein Freihandelsabkommen mit den USA an. Warum das ins Auge gehen könnte.
Eine Analyse von Joseph de Weck, 10.07.2019
Seit je herrscht in Bundesbern die Meinung vor, Wirtschaftsminister sollten einfach still sitzen, ab und zu die Sozialpartner zum runden Tisch einladen und sonst den Markt spielen lassen. Das Wesentliche regle sich von allein.
Darum ist der Wirtschaftsminister in erster Linie Handelsminister. Hier zahlt sich Aktivismus aus. Es gibt spannende Reisen zu wichtigen Gesprächspartnern, Fotos für die Medien, mitunter handfeste Ergebnisse.
So reist Guy Parmelin in die Welt und vor allem nach Washington.
Sein Ziel: ein Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten, dem zweitwichtigsten Handelspartner der Schweiz. Der SVP-Bundesrat möchte dem Volk aufzeigen: Die Schweiz hat handelspolitische Alternativen zur Europäischen Union. 2020 wird über die Begrenzungsinitiative der Schweizerischen Volkspartei abgestimmt. Sie fordert die Kündigung der Personenfreizügigkeit, also das Ende der bilateralen Handelsabkommen mit der EU.
Auch das Parlament und die Wirtschaft wollen ein Freihandelsabkommen mit Washington. 2006 scheiterte ein erster Versuch, doch die Strategie lautet unverändert: Die Schweiz soll ihre Handelsströme geografisch diversifizieren und Länder mit starkem Wachstum besser erschliessen. Dazu zählen primär die Schwellenländer, aber auch die USA, wo Präsident Donald Trump die Konjunktur mit tieferen Steuern und hohen Defiziten anheizt.
Schlafende Hunde
Manchmal ist weniger jedoch mehr. Donald Trump ist in zwei Punkten äusserst konsequent: in seiner Handels- und Chinapolitik.
Schon in den 1980er-Jahren beklagte er das Handelsdefizit der USA. Dieses habe die Verarmung der Mittelschicht verursacht; sie sei das Opfer unfairer Diskriminierungen durch die Länder, mit denen die USA Handel treibt.
China ist die andere Konstante. Trump ist einer, der «gewinnen» will und «Schwäche» verabscheut. Für ihn ist es evident, dass die USA jederzeit das stärkste Land der Welt sein müssen. China ist der neue Herausforderer, da muss man dagegenhalten.
Viele Demokraten sehen das ähnlich. Die Rüstungsindustrie ohnehin, da sie nach dem Untergang der Terrormiliz Islamischer Staat einen neuen, für das Geschäft nützlichen Feind braucht. Und weite Teile der amerikanischen Wirtschaft unterstützen immer deutlicher Trumps Vorgehen gegen China.
Die Schweiz ist kleiner, kein politischer Machtfaktor, aber in wirtschaftlicher Hinsicht nervt sie den US-Präsidenten genauso. Dies aus zwei Gründen:
1. Der Schweizer Handelsüberschuss
Die Vereinigten Staaten sind die zweitgrösste Exportdestination für Güter made in Switzerland. Vor allem Uhren, Pharmaprodukte, Maschinen und Elektronik verschifft die Schweiz über den Atlantik. In die Gegenrichtung fliesst nicht viel. Das Handelsdefizit der USA gegenüber der Schweiz beträgt gut 19 Milliarden Franken jährlich. Pro Kopf ist die Eidgenossenschaft damit der fast vier Mal schlimmere «Sünder» als Deutschland.
Der unermüdliche Twitterer Trump stellt die Bundesrepublik oft an den Pranger, ihn ärgert das Handelsdefizit von fast 50 Milliarden Euro gegenüber den Deutschen. Der Präsident droht mit Zöllen auf die Einfuhr von Autos, sollte die EU ihre Märkte nicht weiter öffnen. Brüssel und Berlin werden zwar nicht müde klarzustellen, dass die Handelsbilanz relativ ausgeglichen ist, wenn man den Handel mit Dienstleistungen einbezieht. Aber Trump interessiert sich nur für die Industriejobs in seinen Wähler-Stammlanden des Mittleren Westens und des nordamerikanischen «Rostgürtels».
2. Die China-Nähe der Schweiz
Die Schweiz biedert sich dem immer autoritärer werdenden China an. Sie ist der erste kontinentaleuropäische Staat, der einen modernen Freihandelsvertrag mit Peking geschlossen hat. Auch macht der Bundesrat keine Anstalten, den Verkauf von Schweizer Unternehmen und Zukunftstechnologien an chinesische Staatskonzerne zu unterbinden.
Der sonst auf den Schutz der Privatsphäre samt Inländer-Bankgeheimnis bedachten Schweizer Politik macht es ebenso wenig Sorgen, dass mit Sunrise ein grosser Telekom-Anbieter seine Infrastruktur von morgen (5G) in die Hände des staatsnahen chinesischen Unternehmens Huawei legt. Doch die Trump-Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, diesen Konzern kleinzumachen.
Zuletzt signalisierte die Schweiz sogar unverblümt, sich der «Belt and Road»-Initiative anzunähern – die «neue Seidenstrasse» ist das Prestigevorhaben des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping. Ein zweifelhaftes Unterfangen: China will dank undurchsichtigen Investitionen in Verkehrsinfrastrukturen auf dem eurasischen Kontinent dem chinesischen Staatskapitalismus das Tor zu Europa öffnen.
Man müsste also annehmen, dass sich Bern zurückhält und hofft, in Washington werde die «kleine» Schweiz erst gar nicht auf dem Radar von Trump und seines Handelsbeauftragten Robert Lighthizer erscheinen.
Problematische Klauseln
Im Trio mit Bundespräsident Ueli Maurer und auch Aussenminister Ignazio Cassis macht Parmelin jedoch genau das Gegenteil. Er spricht bei Lighthizer in Washington vor, es geht um die Aufnahme von Gesprächen über einen Freihandelsvertrag.
Welch einen strategischen Fehler Bern gerade begeht, wird noch deutlicher, wenn man einen Blick auf die offiziell veröffentlichten Ziele der USA in den laufenden Verhandlungen mit der Europäischen Union, Grossbritannien und Japan wirft. Sie unterscheiden sich kaum voneinander.
Der erste Abschnitt der Verhandlungsmandate stellt jeweils unverblümt klar, worum es bei den Verhandlungen vorrangig gehen muss: um die Verringerung des Handelsdefizits. Die USA wollen ihre Exporte steigern.
Im Auge hat Trump vor allem die Landwirtschaft. Darum drängen er und der Kongress darauf, die Agrarzölle zu senken. Darüber hinaus wollen die USA die technischen Handelsbarrieren beseitigen, also etwa die nationalen Auflagen zur Tierhaltung oder Pestizidnutzung. Kurzum, Washington will hormonbehandeltes Rindfleisch und genmanipulierten Mais exportieren.
Selbst gegenüber den Brexit-Briten, zu denen die USA angeblich eine «special relationship» pflegen und die nun ebenfalls ein Handelsabkommen anstreben, macht Trump in den Verhandlungen keine Zugeständnisse. Im Falle der Schweiz dürften die US-Handelsdiplomaten erst recht Druck machen: Die hiesigen Zölle auf die Einfuhr von landwirtschaftlichen Gütern betragen durchschnittlich 36,1 Prozent – in der EU sind es bloss 10,7 Prozent.
Umgekehrt sind die Schweizer Bauern geschäftstüchtige Exporteure: Seit der Jahrtausendwende haben ihre Verkäufe in die USA stark zugenommen. Im Agrarbereich hat die Schweiz einen Überschuss von 500 Millionen Dollar.
In Trumps neuen Handelsverträgen findet sich zudem die berüchtigte Anti-China-Klausel. Im neuen nordamerikanischen Freihandelsabkommen setzten die USA etwa durch, dass sie faktisch ihr Veto einlegen dürfen, wenn Kanada und Mexiko Wirtschaftsabkommen mit China anstreben: Ottawa und Mexico City müssen die Vertragstexte, die sie mit Peking aushandeln, dreissig Tage vor der Unterzeichnung Washington vorlegen. Sind die USA nicht einverstanden, darf der US-Präsident das Freihandelsabkommen mit Kanada bzw. Mexiko innerhalb von sechs Monaten kündigen.
Trump stellt seine Handelspartner damit vor die ultimative Entscheidung: China oder die USA. Auch in den Zielen für die Verhandlungen mit der EU und Grossbritannien wird eine solche Klausel gefordert. In einem formellen Verhandlungsmandat für der Schweiz dürfte dies kaum anders sein.
Eine weitere Standardforderung Trumps betrifft die Nahostpolitik. Die Schweiz und die EU verweigern die Einfuhr von Gütern, die aus illegalen Siedlungen Israels in Palästina stammen. Aus europäischer Perspektive ist klar: Eine völkerrechtliche Anerkennung dieser Siedlungen kann erst erfolgen, wenn es zu einer einvernehmlichen Lösung kommt. Doch Trump fordert, dass die EU und das Vereinigte Königreich diese Importsperren aufheben und damit die Zweistaatenlösung untergraben.
Abgerundet werden diese abschreckenden Mandate mit einer Wechselkursklausel: Es sei sicherzustellen, dass die Handelspartner ihre Währung nicht künstlich zulasten der USA schwächen.
Auch das ist ungemütlich: Seit Jahren wirft das US-Finanzministerium der Schweiz nicht ganz unberechtigt vor, den Kurs des Schweizer Frankens zu drücken, um die Exportwirtschaft zu stützen. Das bilaterale Handelsdefizit hat sich in der Tat erst nach Einführung des Euro-Franken-Mindestkurses durch die Schweizerische Nationalbank im Jahr 2011 aufgetan.
Verlorene Mühen
Vor diesem Hintergrund ist die Offensive in Washington im besten Fall eine Vergeudung von Steuergeldern. Denn die Eidgenossenschaft wird einem solchen Vertrag nie zustimmen: nicht die Bauern, nicht die gesundheits- und umweltbewussten Kräfte, nicht die Nationalbank – und am wenigsten die Superpatrioten, die immerfort der Unabhängigkeit das Wort reden.
Im schlechtesten Fall schadet sie jedoch der Schweiz. Denn die Schweiz wird Trump nur enttäuschen können. In solchen Fällen kennt dieser nur eine Methode: Sanktionen. China, Japan, Türkei, die EU – allen drohte er mit Zöllen und führte diese auch ein. Mit welchem Hebel werden die USA auf die Schweiz einwirken? Und wie liesse sich dann eine Eskalation entschärfen? Durch die Bestellung von US-Kampfjets?
Selbst wenn die Schweiz mit Trump einen Handelsvertrag schliessen könnte: Vor seiner Willkür ist niemand sicher. Im November 2018 unterschrieb er mit Mexiko ein Freihandelsabkommen. Das hielt ihn nicht davon ab, mit neuen Zöllen zu drohen, um Zugeständnisse in der Migrationspolitik zu erwirken. Wer einmal einknickt, wird es ein zweites Mal tun, hat sich Trump gedacht.
Falsche Freunde
Teile der Landesführung, des Parlaments wie auch der Wirtschaft wollen einen Freihandelsvertrag mit einem Land abschliessen, dessen Präsident sich keinen Deut um Abmachungen schert und dessen Verhandlungsstrategie auf Erpressung beruht. Das ist wahnwitzig.
Zumindest das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) müsste jedoch wissen, dass die transatlantischen Ambitionen ihres Bundesrats grob fahrlässig bis gefährlich sind. Oder dringt das Seco bei Parmelin nicht durch, da dieser in erster Linie seiner Partei einen Erfolg bei der kommenden Abstimmung über die Kündigung der bilateralen Verträge ermöglichen will? Offenbar stellt das Generalsekretariat seines Departements – wider die Einschätzung des Seco – zurzeit sogar offen das Freizügigkeitsabkommen mit der EU infrage.
Veröffentlichen die US-Handelsdiplomaten aber erst einmal die offiziellen Ziele für die Verhandlungen mit der Schweiz, dürfte eine solche Strategie wie ein Bumerang auf Parmelins SVP zurückfallen.
Wofür würden sich die Schweizerinnen und Schweizer eher entscheiden: für einen Vasallenvertrag mit den unberechenbar gewordenen USA oder für ein ausgefeiltes Rahmenabkommen mit den Schwesterdemokratien in Europa?
Sicher: Auch die EU setzt auf Machtpolitik wie jetzt mit dem Auslaufen der Börsenäquivalenz. Doch Brüssel wäre eben bereit, dieser Machtpolitik Grenzen zu setzen und die Beilegung möglicher Konflikte einem unabhängigen Schiedsgericht in die Hände zu legen. Im Gegensatz zu den USA ist es der EU bisher auch nicht in den Sinn gekommen, ein Vetorecht bei Abkommen der Schweiz mit Drittstaaten zu fordern, geschweige denn die Nationalbank in ein vertragliches Korsett zu schnüren.
Ob Bundesbern, Wirtschaftsvertreter und insbesondere die SVP bald ganz anders über Guy Parmelin und seinen offensiven Umgang mit dem USA-Dossier denken?
Joseph de Weck ist Politologe in Paris. Zuvor hat er für «Bloomberg News» in Deutschland und das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten in Bern gearbeitet. Joseph de Weck schrieb in der Republik zuletzt über ein ganz neues Spiel in Europa.