Europa – ein ganz neues Spiel
Europas Rechtsnationale wollen die EU nicht mehr verlassen. Selbst Salvini setzt auf Europa – das ein Schulterschluss von Populisten und Christdemokraten radikal verändern soll. Erstmals entsteht eine richtige gesamteuropäische Debatte.
Von Joseph de Weck, 23.04.2019
Im Jahr 2003 sahen die Philosophen Jacques Derrida und Jürgen Habermas den Moment gekommen: Endlich entstehe eine «europäische Öffentlichkeit». In Berlin, Paris, Rom, Madrid, London strömten Menschen auf die Strasse, um gegen den Irakkrieg zu protestieren. Das Europa der Bürgerinnen und Bürger wurde sicht- und hörbar. Das werde der Vertiefung und weiteren Demokratisierung der Europäischen Union einen Schub geben, hofften die beiden Denker. Die EU kann nämlich nur dann zur massgeblichen Instanz für die zentralen Politikfelder werden, wenn ein Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Europäerinnen und Europäern entsteht.
Bald jedoch folgte die Ernüchterung. 2005 versenkten die Franzosen die europäische Verfassung in einer Volksabstimmung. Die Bürgerinnen und Bürger der EU waren zwar gegen den Irakkrieg, aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie gemeinsam Politik machen wollten.
Heute ist die Ausgangslage fast umgekehrt: Die Europäer streiten wie nie zuvor – über die Wirtschafts-, die Migrations- und die Aussenpolitik. Aber in den EU-Ländern gibt es praktisch keine politische Partei mehr, die ernsthaft die EU verlassen will. Stattdessen beteiligen sich gerade die traditionellen Anti-EU-Parteien immer intensiver an einer gesamteuropäischen Auseinandersetzung über die gemeinsame politische Zukunft des Kontinents. In gewisser Weise ist die EU heute geschlossener denn je.
Drei Erkenntnisschocks
Paradoxerweise wäre diese Entwicklung ohne die Eurokrise, den syrischen Bürgerkrieg und den Brexit nicht denkbar. Erst durch diese drei Schocks haben viele Menschen in der EU verstanden, dass die Europapolitik sie direkt betrifft und dass die EU handeln muss – handeln können muss. Die Eurokrise und der syrische Bürgerkrieg haben unmissverständlich aufgezeigt, was mit der Währungsunion und der europäischen Flüchtlingspolitik nicht stimmt – und wie viel auf dem Spiel steht.
Beispiel Griechenland: Inzwischen haben Reformen das Land und die gesamte Eurozone zwar wieder etwas stabilisiert, aber das Grundproblem ist geblieben. Gerät ein Euroland in die Krise, hat es keine andere Wahl, als sich Austeritätsmassnahmen aufzuerlegen. Deutschland, die Niederlande und weitere EU-Mitglieder fordern das ultimativ. Doch wenn eine Volkswirtschaft im freien Fall ist, wären Programme zur Ankurbelung der Konjunktur zweckmässiger. Eine überzogene Sparpolitik beschleunigt in einer solchen Situation die Abwärtsspirale.
Auch beim Flüchtlingsthema stösst die europäische Solidarität schnell an Grenzen. Auf dem Höhepunkt der Krise 2015 entschied die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel im Alleingang, syrische Bürgerkriegsflüchtlinge aufzunehmen. Ungarn und Frankreich hingegen führten 2015 unilaterale Grenzkontrollen ein. Das Schengen-Abkommen, das die Reisefreiheit der Europäer ermöglicht, wurde ausgesetzt. Erst Merkels überaus realpolitischer Deal mit Recep Tayyip Erdoğan – die Türkei fängt die Flüchtlinge ab – brachte ein abruptes Ende des Menschenstroms und verhinderte, dass weitere innereuropäische Grenzen aufgezogen wurden.
Euro und Schengen: Gemäss der reinen Lehre ist es nicht falsch, beide als «Fehlkonstruktionen» zu kritisieren, wie das EU-Gegner gern und oft tun; in der Krise zeigten sich die schweren Unzulänglichkeiten. Doch was am Reissbrett falsch ist und in der Praxis nur mit Ach und Krach am Leben erhalten wird, kann dennoch Bestand haben. Die Realität ist stärker als die Theorie. Und vor allem: Der EU-Austritt ist auch keine Lösung.
Der Brexit schreckt ab
Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras suchte 2015 den Showdown mit Brüssel und drohte implizit mit dem Austritt aus der Eurozone. Doch die damit verbundene Vernichtung der Ersparnisse der Griechen hätte er nicht verantworten können. Der Grexit unterblieb.
Eine analoge Geschichte hat sich soeben in Italien abgespielt. Die Rechtsnationalisten der Lega und die 5-Sterne-Bewegung wollten mehr Geld ausgeben. Aber sie schraubten ihre Pläne ein gutes Stück zurück, und dies nicht etwa deshalb, weil Brüssel opponierte: Die steigenden Zinsen italienischer Staatsanleihen waren Grund genug. Seit Griechenland die Anleihenmärkte aus dem Dornröschenschlaf geweckt hat, funktioniert der Überwachungsmechanismus ganz gut, wird man sich in Berlin wohl denken.
Auch der Brexit hat dazu beigetragen, dass die EU an Stabilität gewinnt. Das Votum auf der Insel hat die Kontinentaleuropäer weder gespalten noch zu Verbrüderung animiert. Doch seit dem Londoner Debakel ist ein Austritt für andere Länder kaum mehr denkbar. Claudio Borghi, Chefökonom der Lega, schrieb 2014 das Buch «Basta Euro». Jüngst aber verwies er auf den Brexit und erklärte an einer Konferenz in Griechenland, ein unilateraler Euroaustritt sei keine Option. Hervé Juvin, der neue intellektuelle Kopf des Rassemblement national in Frankreich, sagt geradeheraus, es sei «unverantwortlich», einen Austritt aus der Währungsunion zu fordern.
So haben die meisten rechtsnationalen Parteien den Exit aus dem Programm gestrichen. Der Rassemblement national, die Lega, die Schwedendemokraten, die FPÖ in Österreich, das Forum für Demokratie in den Niederlanden – von diesen traditionellen Anti-EU-Parteien will keine mehr den Austritt. In der Bundesrepublik hat die AfD den «Dexit» auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Sie will ihn nur noch in Betracht ziehen, wenn die EU sich in den kommenden fünf Jahren nicht in ihrem Sinne wandelt.
Orbáns Vision
Da kaum mehr eine Partei die EU verlassen will, intensiviert sich nun die Auseinandersetzung um ihre politische Gestaltung. Die Rechtsnationalisten übernehmen die Strategie von Viktor Orbán. Austreten wollte der ungarische Ministerpräsident nie. Er plädiert für eine «starke EU», vor allem in der Verteidigungspolitik. Er will die Union weder abschaffen noch verlassen, sondern nach seinen Idealen formen. Eine Rede anlässlich der Feier zum Gedenken an den verstorbenen deutschen Kanzler Helmut Kohl im Juni 2018 ist höchst aufschlussreich.
Darin bezeichnet Orbán seine Fidesz-Partei als CSU des europäischen Mitte-rechts-Lagers. Er deklariert, es sei Zeit für eine «christlich-demokratische Renaissance». Der Nationalstaat und «unsere im Christentum wurzelnde Kultur» müssten beschützt werden. Die Mitte-rechts-Parteien müssten dafür aus der «antipopulistischen Front gelöst» werden. Orbáns grosses Ziel ist es, nach dem österreichischen Vorbild auf europäischer Ebene Koalitionen zwischen Christdemokraten und Populisten zu schaffen. Er verfolgt jedoch eine gesamteuropäische Vision. Er hat nämlich verstanden, dass er sein weisses, «christliches» und nationales Ungarn nicht allein verteidigen kann.
Der italienische Vizeministerpräsident Matteo Salvini sieht das genauso. Das «christliche Europa» stehe auf dem Spiel, behauptet er. Bei dem jährlichen Meeting der Lega in dem norditalienischen Dorf Pontida rief Salvini 50’000 Sympathisanten zu: «Allein werden wir nichts erreichen. Um zu gewinnen, muss man Italien einigen, so wie man nun Europa einigen muss. Und ich denke an eine Liga der Ligen Europas, die alle freien und souveränen Bewegungen sammelt, welche ihre Völker und Grenzen verteidigen wollen.»
Der Moderator der Lega-Konferenz schrie: «Auch in Paris muss man Matteo-Sprechchöre hören!» Der Lega-Chef ist inzwischen in Paris präsent: Der Rassemblement national wirbt auf Flyern mit dem Porträt Salvinis und proklamiert: «Unsere Ideen kommen in ganz Europa an die Macht.» Bei der Startkundgebung zur Europakampagne der Partei von Marine Le Pen lautete der Slogan «On arrive!». Nicht: «On part!»
Die Europa-Nationalisten
Das Etikett «EU-Gegner» stimmt für diese politischen Kräfte nicht mehr. Für Orbán und Salvini schliessen sich Nationalismus und eine proeuropäische Gesinnung nicht aus. Es entwickelt sich ein eigentlicher Euro-Nationalismus, nun, da die Rechtsnationalisten glauben, bald in Brüssel an den Schalthebeln der Macht zu sitzen.
Dies bedeutet nicht, dass sich die euronationalistischen Parteien rundum einig wären. Freihandel, Währungsunion, Gesellschaftspolitik, Russland: In vielen Fragen sind sie meilenweit voneinander entfernt. Eine Analyse des Abstimmungsverhaltens der Nationalisten im Europäischen Parlament zeigt deutlich, dass sie in kaum einem Politikbereich geschlossen votieren und dass sich ihre Ja- und Nein-Stimmen deshalb bei vielen Geschäften gegenseitig aufheben.
«Wenn du es träumen kannst, kannst du es auch tun», zitiert Salvini jedoch gern Walt Disney. Und so lud der italienische Vizeministerpräsident vergangene Woche Europas rechtsnationale Parteien in ein Mailänder Luxushotel, um vor den Wahlen eine gemeinsame Allianz zu schmieden. In einem diffusen Konzept der Verteidigung des «christlichen Abendlands», im Kampf gegen Islam, Migration und «Eliten» sowie in einer Politik der dichten Grenzen sollen sich die nationalistischen Parteien finden.
Die AfD, die Dänen und die Finnen sind in Mailand aufmarschiert. Die FPÖ hat ebenfalls erklärt, bei der neuen Allianz mitzumachen. Nach den Wahlen wird man sehen, ob Salvini auch Le Pen, Orbán und insbesondere Polens Jarosław Kaczyński für sich gewinnen kann. Aufgrund der Russlandfrage und unterschiedlicher wirtschaftspolitischer Überzeugungen hat Kaczyński bislang immer Abstand zu Le Pen gehalten.
Eine europäische Öffentlichkeit entsteht
Im Glauben an seine Gestaltungskraft steht Salvini seinem Gegenspieler Emmanuel Macron in nichts nach. Auch der französische Präsident ist überzeugt, sein Land werde erst wieder zur Ruhe kommen, wenn Europa sich wandle. Auch er wendet sich an alle Europäerinnen und Europäer; auch er sucht die grenz- und sprachüberschreitende Debatte. Und mit seinem spanischen Verbündeten Ciudadanos will er nach den Wahlen eine neue Parteienallianz bilden und die politische Rechte in das eigene Lager ziehen. Wie Orbán spricht Macron von einer «europäischen Renaissance», nur meint er eine im Geist der Aufklärung und nicht eines reaktionären Christentums.
Neben dem steten Brüsseler Verhandlungsprozess zwischen den EU-Staaten gibt es nun also eine öffentliche innereuropäische Auseinandersetzung – und damit tatsächlich den Ansatz einer europäischen Öffentlichkeit.
Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte droht Polen mit Entzug von EU-Geldern, falls die Regierung sich nicht an rechtsstaatliche Kriterien hält. Der italienische Wirtschaftsminister Luigi di Maio attackiert Brüssels Budgetpolitik und reist nach Montargis in Frankreich, um eine Gruppe von gilets jaunes zu besuchen. Der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez wirft der italienischen Regierung vor, Flüchtlingsschiffe nicht an Land zu lassen. Orbán und Macron liefern sich sowieso die ganze Zeit öffentliche Auseinandersetzungen.
Doch Orbán würdigt Macrons Brief an die Bürger der 28 EU-Mitgliedsstaaten als «Beginn einer seriösen europäischen Debatte». Öffentlichkeit entsteht nicht, wenn sich zwei einig sind, sondern wenn die verschiedenen Lager akzeptieren, dass sie ihre Konflikte in einem gemeinsamen Rahmen austragen, den alle als legitim ansehen. Dieses Stadium scheint erreicht. Eine europäische Öffentlichkeit nimmt konkrete Gestalt an.
Deutschland im Abseits
Ob man diese neue europäische Realität alles in allem begrüssen soll? Die neue Auseinandersetzung hat das Potenzial, Konflikte zu entnationalisieren. Europapolitik wandelt sich derzeit vom professionellen Brüsseler Ausbalancieren nationaler Interessen zu einer transnationalen Auseinandersetzung um Werte und Politikkonzepte. Dass die Europäer um die Zukunft der EU streiten, dürfte sie unter dem Strich mehr verbinden, als dass es sie trennt.
Für die Funktionsfähigkeit der Kompromissmaschine EU wird dies jedoch zum Stresstest. Zudem verstärkt die europäische Frage das Dilemma der Linken. In Europa hat sie derzeit keine Machtperspektive. Aber das blosse EU-Bashing, wie es die linkspopulistische France insoumise in Frankreich praktiziert, spaltet und schwächt die Linke noch weiter.
Auch kann nicht ganz ausgeschlossen werden, dass Orbáns Plan funktioniert und er am Ende als Sieger aus der Auseinandersetzung hervorgeht. Gemäss Umfragen werden die Rechtspopulisten bei den kommenden Wahlen zwar nur leicht zulegen und auf 20 Prozent der Stimmen kommen. Wenn die Briten bei der Wahl dabei sind, werden sie etwas höher liegen. Die Europäische Volkspartei (EVP) ihrerseits sackt auf 25 Prozent ab. Sollten die Nationalisten aber mittelfristig deutliche Gewinne machen, kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine populistische Rechtskoalition den als Bollwerk gegen den Illiberalismus gedachten EU-Institutionen schweren Schaden zufügen wird.
Es ist kein gutes Omen, dass die EVP sich immer noch nicht dazu durchringen konnte, Orbán, der Ungarn Schritt für Schritt in einen autoritären Staat verwandelt, aus der Partei zu drängen. Namentlich die neue CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer will einen Ausschluss Orbáns verhindern. Einerseits, um die Wahlchancen ihres Kandidaten Manfred Weber für den Posten des Kommissionspräsidenten intakt zu halten. Andererseits, weil sich die Deutsche mit der neuen Debatte schwertut. Im Unterschied zu Macron und Salvini möchte Berlin am liebsten, dass alles einfach so bleibt, wie es ist.
Kramp-Karrenbauer erteilt daher lieber Lektionen, wie man Europapolitik «richtig» macht – zum Beispiel, indem man den Sitz des Europaparlaments nach Brüssel verlegt und nicht mehr in Strassburg tagt. Die deutsche Politik, die praktisch nur noch Deutschland im Auge hat, ist nationalistischer, als es die Bundesrepublik wahrhaben will. Sind die eigentlichen Erznationalisten die Deutschen – nur dass sie es nicht wissen und auch gar nicht sein wollen?
Joseph de Weck ist Politologe in Paris. Zuvor hat er für «Bloomberg News» in Deutschland und das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten in Bern gearbeitet. Joseph de Weck schrieb in der Republik zuletzt über Emmanuel Macron und Angela Merkel.