Die einsame Volkskrankheit
Psychische Krankheiten sind so verbreitet wie die Grippe: Sie reissen grosse Löcher in Biografien. Und in die Volkswirtschaft. Was tun? Teil 1 von 2.
Von Ivo Scherrer, 24.06.2019
Eine Dunkelheit überfalle oft seine Seele, «so undurchdringlich wie der Oktobernebel», schrieb Johann Wolfgang von Goethe 1766 in einem Brief an seine Schwester. Der Dichter litt ein Leben lang an starken depressiven Schüben. Ein Zustand, in dem nichts so begehrenswert erschien wie «das Wiederkäuen des eigenen Elends».
Depressionen lassen sich schwer in Worte fassen – nur die Betroffenen wissen, wie es sich anfühlt, wenn das Leben in Verzweiflung erstarrt. Neben Goethe könnten rund 360’000 Schweizerinnen und Schweizer dies besser beschreiben als ich. So viele kämpfen gemäss Schätzungen pro Jahr mit einer schweren depressiven Störung. Rund eine Million weitere Menschen leiden hierzulande unter einer mittelschweren und leichten Depression. Und knapp 10’000 im Jahr versuchen, sich das Leben zu nehmen.
Das Paradoxe daran ist, dass Gesunde keine Ahnung von der massenhaften Verbreitung dieser Fälle haben. Und die Erkrankten auch nicht. Denn zum Krankheitsbild der Depression gehört der Rückzug, das Gefühl von Schwäche und Schande. Viele begreifen den eigenen Fall als persönliches Versagen. Depression ist mit Sicherheit die einsamste Volkskrankheit der Geschichte.
Dabei ist eine psychische Störung etwas, was so gut wie jedem Menschen passieren kann. 2014 etwa beanspruchten fast 465’000 Schweizerinnen und Schweizer ambulante Gesundheitsleistungen aufgrund psychischer Leiden. Dazu kommen die 75’000 schweren Fälle, die in einer Klinik behandelt werden. Fast die Hälfte der Schweizer Bevölkerung kennt eine psychische Krise aus Erfahrung. Fast eine Dreiviertelmillion, also knapp 10 Prozent der Bevölkerung, bezieht Psychopharmaka.
Grippe, Beinbrüche und Herzinfarkte in Ehren – rund ein Drittel aller Lebensjahre, die wir in der Schweiz an Krankheiten verlieren, sind nicht körperlichen, sondern psychischen Problemen geschuldet.
Hinzu kommt, dass oft nicht nur die erkrankte Person lahmgelegt wird. Sondern ganze Familien. Wenn etwa Ihre Freundin, Ihr Kind, Ihr Vater im Elend erstickt oder vielleicht an Suizid denkt, wird alles andere zweitrangig.
Dafür, dass psychische Krankheiten brutale Löcher in die Biografien, aber auch in die Volkswirtschaft reissen, ist der Kenntnisstand in der Bevölkerung wie in der Politik verblüffend naiv: Man weiss fast nichts. Depressiven wird gern geraten, sich zusammenzureissen. Was das Schuldgefühl effizient verstärkt, aber kein bisschen weiterhilft.
Der Grund für das weit verbreitete Unwissen ist, dass psychische Krankheiten zwar ganze Leben zerstören können, aber nur schwer fassbar sind. Die Grenze zwischen Gesundheit und Leiden verläuft peinlich fliessend. Und über die Schwere der Krankheit entscheidet letztlich nicht die Ärztin allein, sondern zu einem grossen Teil der Patient: Die entscheidende Frage ist, wie viel Leid der Patient erfährt und wie stark die alltägliche Lebensfähigkeit eingeschränkt wird.
Das Hartnäckigste: Ein Provisorium
Es wird erwartet, dass der Bundesrat diesen Mittwoch die Vernehmlassung zur Neuregelung der psychologischen Psychotherapie eröffnet, indem er die Verordnung über die Krankenversicherung anpasst.
Das jetzige Modell, das sogenannte Delegationsmodell, ist ein über zwanzig Jahre altes Provisorium, ausgehandelt von Ruth Dreifuss und durch bundesgerichtliche Rechtsprechung ergänzt. Im Delegationsmodell können Psychologinnen die von ihnen erbrachten Psychotherapien nur dann über die obligatorische Krankenkasse verrechnen, wenn sie «delegiert» arbeiten. Dies bedeutet, dass sie von einem Psychiater angestellt sind, ihre Therapien in dessen Räumen anbieten müssen und seiner Aufsicht unterstehen.
Als das Delegationsmodell Mitte der 1990er-Jahre entwickelt wurde, war Psychologe noch kein geschützter Beruf. Und die Politik befürchtete eine Explosion der Krankenkassenprämien, wenn die Kosten von durch Psychologinnen erbrachten Psychotherapien unkontrolliert übernommen würden.
Seit 2013 ist die Weiterbildung von Psychologen zu diplomierten Psychotherapeuten gesetzlich geregelt, inklusive offizieller Akkreditierung verschiedener Weiterbildungsstudiengänge durch das Bundesamt für Gesundheit. Was hat dies an der Stellung der psychologischen Psychotherapeutin geändert? Nichts. Denn die Politik warnte immer noch vor einer Kostenexplosion, sollten Psychologinnen besser gestellt werden und auch selbst über die Krankenkasse abrechnen können (mit einer naiven Rechnung, wie morgen in Teil 2 zu sehen sein wird).
Vergangenes Jahr versuchte Gesundheitsminister Alain Berset, die Neuregelung der psychologischen Psychotherapie erneut auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Daraufhin lancierten die Schweizer Psychologen eine Petition – fast 100’000 Leute unterschrieben.
Worauf nun doch die Vernehmlassung kommt. Wenn auch inoffiziell mit einem klaren Ziel: dass sich bei der Finanzierung nichts Wesentliches ändert. Denn viele Politikerinnen fürchten weiterhin die Prämienexplosion. Und damit ist die Ausgangslage fast die gleiche wie vor zwanzig Jahren.
Emotion und Evolution
Einer der Gründe für den Widerwillen, das Angebot an psychologischen Dienstleistungen auszubauen, ist der Verdacht, dass die weite Verbreitung von psychischen Krankheiten in Wahrheit die Krankheit selbst ist. Und zwar das Symptom für die Verweichlichung in einer Gesellschaft ohne echten Existenzkampf.
Das einzige Problem dieser These: Sie widerspricht den Fakten. Gesundheitsforscher haben längst herausgefunden, dass psychische Leiden in allen Kulturen ähnlich weit verbreitet sind. Sie sind also kein Ausdruck westlicher Wohlstandsverwahrlosung. Im Gegenteil: Von Zimbabwe bis in die Schweiz sind ärmere und schlechter ausgebildete Menschen in der Regel stärker betroffen.
Psychische Leiden sind also keine Luxusprobleme, sondern Teil der menschlichen Natur. Nur wozu? Die plausibelste Erklärung in einem Wort: Evolution. Für sie zählt nur das Überleben der Gene. Das Wohlbefinden des Individuums, das die Gene temporär beherbergt, ist ihr egal. Der Psychiater Randolph Nesse schreibt, dass psychische Krankheiten im Prinzip nichts als überempfindliche Alarmsysteme sind. Emotionen wie Angst, Panik, Wut oder Schmerz warnen vor existenziellen Gefahren. Und sind im Zweifel etwas übersensibel eingestellt.
Dass Panikattacken die Hölle sein können, spielt dabei keine Rolle. Lieber tausendmal ein Angstausbruch, weil ich hinter dem Felsen eine Raubkatze vermute, als einmal die falsche Zuversicht, dass da kein Löwe lauert, der mir – und damit meinen Genen – den Garaus macht.
Die Forschung debattiert weiterhin fieberhaft, welche (neuro-)biologischen Prozesse hinter psychischen Leiden stecken. Ist die Versorgung des Hirns mit chemischen Botenstoffen verantwortlich? Oder etwa doch die bakterielle Versorgung des Magens, die Aktivitäten des Immunsystems oder die plastischen Entwicklungen verschiedener Hirnregionen? Kein Erklärungsansatz hat sich bisher allein durchsetzen können.
Fest steht, dass die Veranlagung vererbbar ist – je mehr Fälle in der Familie, desto höher das Risiko, selbst zu erkranken. Doch ob man selbst erkrankt und wenn ja: wann und wie, ist eine Frage des jeweiligen kulturellen und sozialen Umfelds, eine Frage der individuellen Biografie und Biologie.
2000 Jahre Tradition
So spannend die verschiedenen Erklärungsansätze über die Ursachen psychischer Krankheiten sind, so wenig hilfreich sind sie, wenn es einen erwischt.
Mir geschah dies nach einem grösseren operativen Eingriff, dem ich mich nach einer medizinischen Komplikation unterziehen musste. Ich begann mich über mein Problem zu informieren. Ich las über mögliche Komplikationen, Infektionen, Rückfälle. Keine unvernünftigen Sorgen per se, doch entwickelten sie sich langsam zu einem Monster. Die Gespräche mit Eltern, Freunden, meiner Partnerin drehten sich bald nur noch um Medizin. Es war, als hätte mir der Chirurg das Organ für plausible Wahrscheinlichkeitsrechnungen entfernt.
Ich habe das Glück, in einer Familie aufgewachsen zu sein, die psychische Störungen und einen leichten Hang zum Wahnsinn nicht als Ausnahme behandelt. (Ein zweifelhaftes Glück, da depressive Störungen in meiner Familie öfter vorkommen, als man es sich wünschen könnte.) So ging ich ungerührt zu einem Psychiater und unterzog mich einer kognitiven Verhaltenstherapie. Es hat sich zuweilen etwas absurd angefühlt, einem anderen erwachsenen Mann gegenüberzusitzen und meine doch relativ absurden Worst-Case-Szenarien auszubreiten. Doch hat mir nichts anderes je so sehr geholfen. In einer Verhaltenstherapie lernte ich, destruktive Gedanken und obsessive Handlungen zu identifizieren und mich von ihnen zu distanzieren. Ich lernte, mich systematisch auf das Positive zu konzentrieren und Platz für das Leben zu machen.
Im Kern sind solche Übungen zwei Jahrtausende alt: Meine Therapie lehnte sich verblüffend eng an die Methoden der antiken Stoiker oder an die Achtsamkeitsmeditation aus der buddhistischen Tradition an. Wie einst im alten Rom oder an den Füssen des Himalaya geht es darum, die Dinge zu akzeptieren, die nicht kontrolliert werden können. Und dort seine Energie zu investieren, wo es sich am ehesten lohnt.
Trotzdem war ich verblüfft, als ich vor etwa fünf Jahren beschloss, mit meinen Freunden offen über die eigenen Erlebnisse und die Leiden naher Verwandter zu sprechen. Es war, als öffne man eine Tür. Und lande in einer neuen, erstaunlich bevölkerten Welt. Da war etwa der hochprofessionelle Freund, der derart von Versagensängsten geplagt wird, dass die Arbeit, die er liebt, zur täglichen Tortur verkommt. Da sind die würdigen Eltern von Freunden, die ihre Sorgen in Alkohol ertränken oder ihre Depressionen ein ganzes Leben lang in stiller Qual hinter sich herzerren. Da ist die Freundin, die ein Leben lang ein Kind wollte, es bekam und danach an nichts dachte, als das Leben so rasch als möglich zu beenden. Da ist die Grossmutter, die nach unzähligen Operationen nicht mehr mag und versucht, sich die Treppe runterzustürzen, und im Spitalbett wieder aufwacht.
Don’t try it at home
So unterschiedlich die Probleme sind, eines ist allen gemein: Don’t try it at home – unternehmen Sie keine Selbstversuche. Nichts beendet laut Statistik eine Depression so wirkungsvoll wie eine möglichst schnelle Therapie. Mit den richtigen Gesprächen und Medikamenten lassen sich endlose oder grausame Dramen verhindern.
Natürlich nicht immer. Als Angehöriger von chronisch kranken Verwandten weiss ich nur zu gut, dass professionelle Hilfe in schweren Fällen an ihre Grenzen stösst. Die Behandlung von komplexeren Fällen kann einem lebenslangen trial and error gleichkommen: Mit jedem Klinikaufenthalt werden neue Methoden erprobt und an der Medikation getüftelt – oft nur mit kurzfristigem Erfolg. Doch auch der kurzfristige Behandlungserfolg ist in solchen Fällen oft die kurze Zeit, die verhindert, dass sich jemand das Leben nimmt.
Nur ist dieses Wissen nicht sehr verbreitet: Rund zwei Drittel der Schweizer mit schwerer Depression, nämlich 240’000 der eingangs erwähnten 360’000, erhalten keine professionelle Unterstützung – dies aufgrund von Betreuungsengpässen, Angst vor Stigmatisierung, Fehldiagnosen oder finanziellen Problemen.
Eine unnötige Verlängerung des Leidens. Und eine krasse Verschwendung von Leben.
Sie, statistisch gesehen
Angenommen, es erwischt Sie. Sie geraten in den Strudel einer Depression oder sonst einer psychischen Krankheit. Was können Sie dann statistisch gesehen erwarten?
Als Frau werden Sie mit wesentlich höherer Wahrscheinlichkeit mit Angststörungen oder Depressionen kämpfen. Als Mann neigen Sie eher dazu, ein Suchtproblem zu haben.
Aller Wahrscheinlichkeit nach würden Sie sich nur bedingt trauen, mit Freundinnen über Ihre Probleme zu reden – und schon gar nicht würden Sie das mit Ihren Arbeitskollegen tun. Sie würden sich davor fürchten, als schwach oder unfähig zu gelten. Die Folge: Je schlechter es Ihnen geht, umso mehr haben Sie das Gefühl, allein zu sein, ohne niemand.
Ringen Sie sich trotz Verzweiflung und Erschöpfung dazu durch, Hilfe zu suchen, ist die längst nicht garantiert. Gehen Sie zu einer Ärztin, besteht die Gefahr, dass Ihre Symptome fälschlicherweise auf ein körperliches Leiden zurückgeführt werden. Falsche Diagnosen sind keine Seltenheit. Denn für Hausärzte besteht keine Pflicht, sich psychiatrisch weiterzubilden – obwohl rund 30 Prozent ihrer Patientinnen aufgrund psychischer Erkrankungen zu ihnen kommen.
Versuchen Sie einen Platz bei einem Psychiater zu finden, ist das alles andere als einfach. In einem Experiment wurde getestet, wie viel Zeit eine Patientin aufwenden muss, um einen Termin zu bekommen. Da rund die Hälfte der Psychiaterinnen keine neuen Patienten mehr nimmt und in vielen Fällen in einer Praxis niemand zu erreichen ist, sind es im Schnitt sieben Anrufe, die Sie machen müssen, um einen ersten Termin zu vereinbaren. In der Regel warten Sie sechs bis sieben Wochen auf einen ersten Termin. Eine lange Zeit, wenn es Ihnen wirklich schlecht geht.
Wohnen sie fernab der städtischen Ballungsgebiete oder sind Sie nach einem Psychiater auf der Suche, der auf die Behandlung von Kindern und Jugendlichen spezialisiert ist, kann die Suche bedeutend länger dauern. Oft Monate.
Haben Sie nun endlich einen Therapieplatz, ist die zwischenmenschliche Chemie zwischen Ihnen und Ihrer Therapeutin essenziell für den Behandlungserfolg. Gerade für Erwachsene ist ein Therapieverhältnis äusserst intim – und es kann gut sein, dass man sich einfach nicht versteht. Und Sie kein Vertrauen aufbauen können. In diesem Fall ist es das Richtige, den Therapeuten zu wechseln. Dann geht der ganze Suchprozess von vorne los.
Sollte sich Ihr Zustand mit oder ohne Therapie verschlechtern, kann es sein, dass Sie sich in eine stationäre psychiatrische Pflege begeben müssen, also in eine Klinik, in der Sie von Psychiaterinnen, Psychologen, Pflegepersonal, Mal-, Ergo- und Physiotherapeutinnen umsorgt werden. Diese Aufenthalte sind wertvoll und oft lebensrettend – doch werden Sie feststellen, dass es nicht unbedingt die vergnüglichste Sache der Welt ist, 24 Stunden pro Tag an sieben Tagen die Woche auf engstem Raum mit anderen Leidensgenossen zu verbringen.
Sind Sie aus der Klinik (und aus dem Gröbsten) draussen, sind intermediäre Begleittherapien beim Wiedereintritt ins Leben selten. Was dummerweise Ihr Rückfallrisiko erhöht.
Der Fehler im System
Nicht nur für Depressive ist das heutige System schwer zu navigieren. Auch Ihre Psychiaterinnen sind in der Regel überlastet. Sie sind Mangelware und werden zunehmend knapp: Im Schnitt sind sie gerade zehn Jahre vom Pensionierungsalter entfernt. Junge Mediziner lassen sich aus Prestige- und Einkommensgründen nur widerwillig zu Psychiatern ausbilden. Resultat: Bis Mitte des nächsten Jahrzehnts wird eine Lücke von 1000 Psychiatern erwartet – und dies bei rund 3200 Psychiaterinnen (in Vollzeitprozenten gerechnet). Aufgrund des akuten Nachwuchsmangels sind bereits heute fast 40 Prozent der Psychiater in der Schweiz weder hier aufgewachsen noch ausgebildet.
So kann es geschehen, dass Ihre zuständige Psychiaterin Ihre Sprache nur gebrochen spricht. Dies habe ich selbst erlebt, als ich eine Freundin nach einem Suizidversuch in die Klinik begleitet habe. Die zuständige Psychiaterin konnte sich auf Deutsch nur rudimentär verständigen – für Zwischentöne bestand keine Chance. Dies kann durchaus über Leben und Tod entscheiden. In jeder Therapie ist die Sprache – das Ausgesprochene wie auch das Unausgesprochene – das zentrale Behandlungswerkzeug. Die mangelnden Sprachkenntnisse gewisser ausländischer Psychiater kritisiert auch Pierre Vallon, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie.
Hinzu kommt das Problem der Ausbildung, deren Qualität von Land zu Land schwankt. Nicht in allen europäischen Ländern geniessen die Psychiater eine Therapieausbildung. Und selbst innerhalb der Schweiz schwankt sie erheblich: Wie viel therapeutische Praxis wirklich in der sechsjährigen Ausbildung steckt, hängt stark von pädagogischen Fähigkeiten und der zeitlichen Verfügbarkeit des jeweiligen Oberarztes ab.
Das Problem ist, dass im jetzigen System die Person der Psychiaterin eine zu zentrale Rolle einnimmt. Psychologen werden nur dann von der Krankenkasse akzeptiert, wenn sie von einem Psychiater delegiert arbeiten. Das heisst: in dessen Räumlichkeiten und unter dessen Aufsicht. Eine Psychiaterin, kann, wenn sie will, pro Woche maximal 100 Stunden Psychotherapie delegieren. Gemäss gängiger Praxis und Rechtsprechung muss der Psychiater jede Patientin, die er an einen Psychologen delegiert, regelmässig selbst sehen. Oder zumindest den Fall intensiv begleiten.
Auf den ersten Blick kann die Aufsichtspflicht der Psychiater sinnvoll erscheinen: als Qualitätskontolle. Und als Nadelöhr gegen das Ausufern der Kosten. Doch das Korsett verursacht mehrere Probleme: So sind viele Psychiaterinnen nicht an der Gründung einer grösseren Praxis interessiert und bevorzugen es, allein zu arbeiten. Psychiater Vallon schätzt, dass nur zwischen einem Drittel und der Hälfte seiner Kolleginnen an Psychotherapeuten delegiert. Psychologinnen, die keinen Psychiater finden, bleibt nur die Arbeit in einer psychiatrischen Klinik oder die Selbstständigkeit. Als Selbstständige können sie zwar alle möglichen Therapien anbieten. Die Patientinnen müssen sie aber aus der eigenen Tasche bezahlen oder über teure Zusatzversicherungen abrechnen.
2012 arbeiteten mehr als 40 Prozent der über 2300 Psychologinnen und Psychologen mit Fachtitel selbstständig (in Vollzeitprozenten). Dies führt zu einer faktischen Zweiklassengesellschaft, da sich nur Gutverdienende eine Psychotherapie ausserhalb der Grundversicherung leisten können. Wenn man bedenkt, dass eine Psychotherapie in der Regel rund 30 bis 35 Sitzungen à rund 150 Franken braucht. Die Psychotherapie wird so zu einem Luxusgut.
Dramatisch wird es, wenn Psychiaterinnen, die sich in Rente begeben, keine Nachfolge für ihre Praxen finden. (Dies wird beim sich abzeichnenden Psychiatermangel wohl häufig der Fall sein.)
Beispielsweise in der Praxisgemeinschaft Klösterli in Zofingen AG, wo der Kinder- und Jugendpsychiater Ulrich Fischer über Jahre Patienten an mehrere Psychologen delegierte. Vor seiner Pensionierung suchte er zwei Jahre lang eine Nachfolge. Ohne Erfolg. Übernommen wurde die Praxis schliesslich von der Neuropsychologin Prisca Zulauf. Anders als psychologische Psychotherapeuten dürfen Neuropsychologinnen mit Fachtitel seit 2017 neuropsychologische Abklärungen über die Grundversicherung abrechnen. Mit solchen Abklärungen finanziert sich die Praxis nun.
Psychotherapien kann aber auch Zulauf nur über die Zusatzversicherung abrechnen, und delegieren darf sie als Psychologin nicht. Die Praxis kann somit keine Psychotherapie mehr über die Grundversicherung anbieten. Ihre Dienste werden nun von eher wohlhabenden Patienten mit Zusatzversicherung in Anspruch genommen oder von Familien, die für das Wohl ihrer Kinder tief in die eigene Tasche greifen. Die angebotenen Stunden an Psychotherapien sind in der Folge um über 80 Prozent eingebrochen. Dies ist besonders bedenklich, da sich die Praxis auf die Behandlung von Jugendlichen und Kindern spezialisiert hatte – just das Gebiet, in dem der Nutzen am grössten und die Zahl von guten Angeboten am kleinsten ist.
Kurz: Das jetzige System war zu Recht als Provisorium geplant. Etwas Neues muss her.
Was aber passiert, wenn wir den Zugang vereinfachen? Explodieren dann die Kosten? Lesen Sie dazu Teil 2 – mit einer kurzen Rechnung und einer ziemlich eindeutigen Antwort.
Hinweis: In dem Satz «So spannend die verschiedenen Erklärungsansätze über die Ursachen psychischer Krankheiten sind, so wenig hilfreich sind sie, wenn es einen erwischt» haben wir auf Hinweis aus der Leserschaft das Wort «wenig» ergänzt – besten Dank für den Hinweis.
Ivo Scherrer ist selbstständiger Analyst und Autor. Er ist Mitgründer der Thinktanks foraus – Forum Aussenpolitik (Schweiz) und Argo (Frankreich) sowie der politischen Bewegung Operation Libero.