Bergs Nerds

Nerds retten die Welt

Folge 15: Gespräch mit Wilhelm Heitmeyer, Forschungs­professor, Gründer und ehemaliger Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewalt­forschung der Universität Bielefeld.

Von Sibylle Berg, 18.06.2019

Wilhelm Heitmeyer ist Soziologe und Gründer des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewalt­forschung der Universität Bielefeld. Von 1996 bis 2013 stand er dem Institut als Direktor vor. Seitdem ist er dort als Forschungs­professor tätig. Er ist Autor und Herausgeber vieler Bücher – zuletzt erschienen ist «Autoritäre Versuchungen».

Guten Morgen, Herr Heitmeyer, haben Sie sich heute schon um den Zustand der Welt gesorgt?

Den tatsächlichen Zustand der Welt kann man eigentlich gar nicht kennen, sondern bekanntlich nur das, was man «geliefert» bekommt – und was man wahrnehmen kann und will. Und selbst diese kleinen Ausschnitte müssen in Wut versetzen angesichts der strukturellen Gewalt, wie es Johan Galtung ausgedrückt hat. Es sind dann nicht nur die Gewalt­akteure, die es bekanntlich zuhauf gibt, sondern auch die gezielt geschaffenen Strukturen, die aus sich selbst heraus die Bedingungen eines menschen­würdigen Lebens tagtäglich zertrümmern. Und dies sind nicht nur die materiellen Bedingungen, sondern auch immer mehr die kulturellen und informationellen Strukturen, die potenziell die Gewalt in sich tragen.

Nun wäre es anmassend, mich als Gewissen der Welt aufzuspielen, über alles zu fluchen, was gerade passiert. Auch deshalb, weil ich das meiste, was an Scheusslichkeiten passiert, ja gar nicht begreife und nicht im Entferntesten kenne. Selbst bei meinen intensivsten Informations­anstrengungen, die ich jeden Tag unternehme.

Die innere Fein­abstimmung zwischen der Notwendigkeit, informiert zu sein, um in der Zeit verankert zu bleiben, und der absoluten Überforderung ist heikel.

Man muss vorsichtig sein. Es gibt die präventive Wirkung des Nicht­wissens, damit man nicht handlungs­unfähig wird. Lähmung ist ja ein Element des Geschäfts­modells, um nicht tätig werden zu können.

Sie begannen in den 1980er-Jahren mit Ihren Forschungen zu gewalt­bereitem Rechts­extremismus und Fremden­feindlichkeit. Sie prägten den Begriff «gruppen­bezogene Menschen­feindlichkeit» und entwickelten die Theorie sozialer Desintegration, um Gewalt zu erklären. Erinnern Sie sich an die Auslöser für Ihre Forschungen?

Einen Auslöser wie etwa einen Schalter, durch den plötzlich etwas angeknipst wird, gab es nicht. Es waren Alltags­beobachtungen bei Jugendlichen mit ihrer Sprache und den dahinter­steckenden Einstellungen – ohne dass sie rechts­extremen Gruppen angehörten.

Die erste empirische Untersuchung zu rechts­extremistischen Orientierungen von 1987 hat dann für viel öffentliche Aufmerksamkeit und Widerstand gesorgt. «Das ist alles Unsinn. Unsere Jugend hat ihre historische Lektion gelernt», hiess es etwa. Für einen damals relativ jungen Wissenschaftler war das keine angenehme Situation. Ich war offensichtlich zu früh mit solchen Ergebnissen.

Oder die Institutionen waren noch mit zu vielen Mitarbeitern besetzt, die in Hitlers Regime auch Gutes gesehen hatten?

In der Nachkriegszeit gab es in zahlreichen Institutionen der neuen Bundes­republik bekannter­massen alte Nazis, die aus heutiger Sicht geradezu unvorstellbare Karrieren gemacht haben, etwa als Juristen in den Verwaltungen und auch in den Geheimdiensten.

Nun ist diese Generation längst ausser Dienst beziehungs­weise verstorben. Auf diese Weise hat das natürlich kein politisches Ende genommen, denn das kam ja für die Personen biologisch zu einem Ende.

Heute ist wieder sehr genau zu beobachten, was sich in den mit dem Gewalt­monopol ausgestatteten Institutionen wie Polizei und Bundes­wehr vollzieht. Die aufgedeckten Fälle werden immer wieder als Einzel­fälle deklariert – wie eh und je –, obwohl wir es nicht wissen und doch mit guten Gründen bezweifeln können. Unabhängige Unter­suchungen dazu gibt es nicht und würden wahrscheinlich auch nicht zugelassen. Und der deutsche Inland­geheimdienst, die Verfassungs­schutz­ämter der Länder und des Bundes haben gerade auch im Zusammen­hang mit den Verbrechen des National­sozialistischen Untergrunds, des NSU, ja absolut versagt. Bis heute werden zum Teil die Akten nicht öffentlich, damit man die Rolle der verschiedenen staatlichen Akteure aufklären könnte.

Gab es noch mehr Ablehnung, ausser der behördlich-institutionellen?

Ja, zum Beispiel bei den frühen Forschungen der Verbindungen von Rechts­extremismus und Hooligans in den Fussball­stadien. Auch da war der öffentliche Wider­stand, vor allem von den gewinn­maximierenden Profi­vereinen, immens: «Der will uns unsere Fans diffamieren.»

Und schliesslich löste die erste – sehr frühe – empirische Untersuchung in Deutschland zu islamistischen Einstellungen bei türkisch­stämmigen muslimischen Jugendlichen, die ich 1997 veröffentlicht habe, das Härteste an Angriffen und Diffamierungen aus, was ich bisher erlebt habe. «Das ist ein Kultur­rassist» war noch die gnädigste Charakterisierung.

Kurz gesagt waren möglichst frühzeitige, sensible Wahr­nehmungen von aufkommenden Problemen der Hinter­grund dieser Arbeit. Aber: Wer zu früh bestimmte Probleme aufwirft, der muss mit Abstrafungen rechnen durch Medien, Wissenschaftler und auch die Politik.

An einem typischen Tag wird man beispielsweise mit diesen Nachrichten konfrontiert: Alabama verabschiedet ein Gesetz gegen Abtreibung. Egal, ob es sich um eine Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung oder einem Inzest handelt, egal, ob das Ungeborene schwere Missbildungen aufweist. Weiter lese ich, dass Schweizer Kranken­kassen diverse Krebs­therapien sowie die Rehabilitation nach Schlag­anfällen und Infarkten nicht mehr ohne weiteres bezahlen. Wie kann ich verhindern, mich angesichts dieser Fülle von Schwach­sinn zum hassenden Menschen zu entwickeln?

Es fällt schwer, das zu verhindern. Aber es ist gerade aus der Perspektive der Akteure kein Schwach­sinn, sondern reines Macht­kalkül, mit Gewalt angefüllt. Ihr erstes Beispiel ist religiös aufgeladen, das zweite Beispiel die kapitalistische Gewalt­demonstration gegenüber Leiden. Der Weg in den eigenen Hass ist dann nicht weit.

Aber es ist Vorsicht geboten, weil man sich damit selbst verletzt und sich gemein macht mit jenen Akteuren, die solche Gesetze durchsetzen oder solche Kalkulationen anstellen. Um sich dem nicht auszuliefern, muss man sich meines Erachtens auf die Reich­weiten des eigenen Tuns besinnen. Also auf seinen Alltag, und dort massiv die Stimme erheben, damit man morgens noch in den Spiegel sehen kann – ohne zu erschrecken. Es kostet viel Kraft, im Verwandten­kreis, im Freundes­kreis, im Sport­verein, in der Kirchgemeinde die Stimme zu erheben – und ohnehin, wenn man Zugang zu Medien hat. Gerade im nahen Umfeld kostet das enorm viel Kraft und ist mit hohen sozialen Kosten­risiken verbunden. Übrigens viel höhere als bei grossen Demonstrationen – die zweifellos notwendig sind, um die Grund­normen der Gesellschaft immer wieder öffentlich zu befestigen –, denn dort ist man «unter sich» mit wohligem Gefühl, während man bei Interventionen im sozialen Nah­raum immer Gefahr läuft, allein dazustehen, und viel verlieren kann. Dazu muss man schon hart trainieren.

Apropos hart bleiben: Haben Ihre vor dreissig Jahren begonnenen Studien zu irgendeiner Reaktion der Regierung geführt?

In der Regel kann ich sagen, dass die Reich­weite von Wissenschaft doch sehr gering ist. Das gilt vor allem für missliebige Themen, die zeigen, was schiefläuft. Das liegt zum grössten Teil daran, dass alles, was eine Regierung tut, als Erfolg dargestellt werden muss. Da waren meine Forschungen, insbesondere bei konservativen Parteien, immer störend. Also, am besten: ignorieren, zurück­weisen und diffamieren. Damit haben wir reichliche Erfahrungen gemacht.

Die Wissenschafts­feindlichkeit ist keine Erfindung der neuen Rechten.

Nun, Wissenschaft, zumal Sozial­wissenschaft, hat immer «kurze Arme», weil sie keinen finanziellen Mehrwert in unserer kapitalistischen Gesellschaft verspricht. Sie ist störend. Ja, sie muss störend sein, man muss Sand ins Getriebe werfen. Und man muss insistieren. Immer wieder, trotz aller Frustrationen. Ich kann nicht verhehlen, dass es auch zermürbend sein kann, dass die inzwischen jahrzehnte­langen, empirisch belegten Warnungen vor den politischen Entwicklungen nach rechts in ihren unterschiedlichen brutalen Formen bis hinein in die vornehme «rohe Bürgerlichkeit» immer wieder aggressiv als «Nestbeschmutzung» der deutschen Gesellschaft zurück­gewiesen werden.

Entwicklungen verlaufen oft wellenförmig, vorwärts, rückwärts. Aber am Ende hat sich doch viel zum Besseren verändert auf der Welt.

Ja. Sie erwähnten den Begriff der gruppen­bezogenen Menschen­feindlichkeit. Damit ist gemeint, dass Menschen allein aufgrund ihrer Gruppen­zugehörigkeit und unabhängig von ihrem individuellen Verhalten zum Ziel von Abwertung, Diskriminierung und auch Gewalt werden. Es ist ein Konzept, das über Rassismus hinausreicht, also auch Obdachlose, Schwule und Lesben, Muslime, Juden, Behinderte, Flüchtlinge etc. umfasst.

Dazu habe ich mit einer Forschungs­gruppe von 2002 bis 2011 jährliche, repräsentative Bevölkerungs­befragungen über Ausmasse, Entwicklungen und Erklärungen durchgeführt und in der Reihe «Deutsche Zustände» jedes Jahr publiziert – neben vielen wissenschaftlichen und journalistischen Artikeln und Hunderten von Vorträgen in allen möglichen gesellschaftlichen Institutionen.

Durch dieses Insistieren ist es gelungen, dass der Begriff der gruppen­bezogenen Menschen­feindlichkeit in die Institutionen gewisser­massen «eingedrungen» ist und eine neue, breite Sensibilisierung erzeugt hat, die sich nicht nur auf Rassismus begrenzt.

Aber auch da gab es Wider­stände. Die Wochen­zeitung «Die Zeit» hat zum Beispiel 2008 die langjährige Zusammen­arbeit abrupt beendet mit dem Hinweis, ich würde mit den empirischen Ergebnissen die wunderbare deutsche Gesellschaft gewisser­massen «kaputt­schreiben». So viel zu angeblich weitsichtigen journalistischen Intellektuellen.

In der empirischen Forschung geht man davon aus, dass in jeder Gesellschaft ein Teil der Bevölkerung eine faschistische Einstellung aufweist. Momentan hat man das Gefühl, die Rechts­nationalen würden die Welt beherrschen. Verzerrte Wahrnehmung durch hysterie­befeuernde Medien oder Realität?

Dass es aktuell so aussieht, als ob ein grosses Unterstützungs­potenzial vorhanden ist, hat mit mehreren Faktoren zu tun. Da sind zum einen die realen Probleme der grossen Unsicherheiten durch die schnellen Wandlungs­prozesse und Krisen, etwa die Flüchtlings­krise. Dadurch ist in weiten Teilen der Bevölkerung eine Nervosität und eine Aufgeregtheit entstanden, die durch die ständigen Provokationen und Grenz­überschreitungen der rechten beziehungs­weise rechtsextremen Akteure in immer neuen sprachlichen Eskalations­schleifen in die öffentliche Agenda gelangen, sei das in Nachrichten oder in Talk­shows. Hier setzt das Markt­modell der konkurrierenden Medien als Vervielfältigungs­mechanismus ein. Da Medien nur dann «mehr vom Gleichen» berichten, wenn an der sprachlich-provokativen Eskalations­schraube mit immer neuen Diffamierungen etwa von Flüchtlingen und Bedrohungs­szenarien («Der grosse Bevölkerungsaustausch in Deutschland und Europa») gedreht wird, erscheint das Unterstützungs­potenzial so hoch.

Hinzu kommt im Alltag die Gefahr der sogenannten «Schweige­spirale». Diese Theorie besagt, dass Menschen ihre eigenen gruppen­bezogenen menschen­feindlichen Einstellungen für sich behalten oder nur im privaten Kreis äussern, solange sie den Eindruck haben, sie seien nur eine Minderheit in der Gesellschaft. Gewinnen sie aber den Eindruck, sie seien Teil einer Mehrheit, die so denkt, also im Freundes- und Verwandten­kreis, am Arbeits­platz oder in der Kirch­gemeinde, dann «hauen» sie ihre Sprüche lautstark raus und erzeugen dadurch neue Normalitäts­standards. Dieser Prozess ist gefährlich, weil er den Alltag verändert, den dann auch grosse Massen­demonstrationen («Wir sind viele») nicht mehr drehen können, denn alles, was als normal gilt im Alltag, kann man zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr problematisieren.

Wenn Bevölkerungs­schichten die Demokratien ablehnen, sich einen Führer wünschen, wenn es die Macht­besessenheit einiger Männer schon immer gab, warum bedroht sie humanistische Menschen heute so sehr?

Weltweit gab es immer rechte und rechtsextreme Gruppierungen und Regimes wie in Süd­amerika oder die Milizbewegung in den USA. Das relativ Neue und Überraschende vollzieht sich in Europa, das sich als entwickelte Zivilisation begreift. Der amerikanische Politologe Francis Fukuyama hat sogar Anfang der 90er-Jahre vom «Ende der Geschichte» gesprochen und von der Vollendung der liberalen Demokratie. Ich habe das schon 2001 in einem Aufsatz zu den Schatten­seiten der Globalisierung als gefährlichen Unsinn bezeichnet und die These vertreten, dass ein autoritärer Kapitalismus im Zusammen­wirken mit sozialer Desintegration und Demokratie­entleerung zu einem Aufkommen eines rabiaten Rechts­populismus führen würde.

Diese These gewinnt inzwischen immer mehr an Gewicht, zumal wir seit der Jahr­tausend­wende «entsicherte Jahrzehnte» erleben müssen. Dazu gehören vor allem die verschiedenen Krisen, wobei nicht alles, was sich verändert, eine Krise ist. Sie ist dann gegeben, wenn die sozialen und politischen Routinen nicht mehr funktionieren und der Zustand vor der Krise nicht wieder herstellbar ist. Solche Konstellationen ergaben sich beginnend 2001 mit dem Anschlag auf das World Trade Center, dann 2005 mit der Hartz-IV-Krise, dann 2008/2009 mit der Finanz- und Bankenkrise sowie 2015 mit der Flüchtlings­krise. Hier setzen Kontroll­verluste ein, die für gesellschaftliche Entwicklungen sehr gefährlich sind und von denen primär alle politischen Varianten im rechten Spektrum profitieren. Das Geschäfts­modell funktioniert dann so, dass einerseits die Kontroll­verluste besonders betont werden und mit Szenarien des Untergangs, etwa des deutschen Volkes, operiert wird und andererseits die Wieder­herstellung der Kontrolle propagiert wird mit dem Konzept einer geschlossenen Gesellschaft und einer autoritären, illiberalen Demokratie.

Die genannten Krisen haben einen globalen Hinter­grund und sind kein «Natur­ereignis», für das niemand verantwortlich ist. Der neoliberale Kapitalismus hat in den vergangenen Jahrzehnten einen ungeheuren Kontroll­gewinn erzielt, das heisst, er konnte seine Prinzipien überall ungehindert durchsetzen mit immer neuen «Land­nahmen» in der Ökonomie und damit in die Gesellschaft eindringen. Dagegen musste die national­staatliche Politik – auch aufgrund eigenen Zutuns – riesige Kontroll­verluste hinnehmen gegenüber dem «gefrässigen» Kapitalismus, und die internationalen Institutionen waren nicht in der Lage, diesen Prozess einzuhegen, wie das zum Beispiel nach dem Zweiten Weltkrieg noch möglich war.

zVg
«Es muss besorgt machen, mit welcher Vehemenz sich Verschwörungs­theorien heute verbreiten, insbesondere mit antisemitischer Ziel­richtung.»
Wilhelm Heitmeyer

Nicht zu vernachlässigen ist die Überforderung des Einzelnen in einer Zeit, die sich exponentiell beschleunigt, als Ursache für die Sehnsucht nach Ordnung und Überschaubarkeit – glauben Sie, es gibt den einen grossen Plan, also das Pendant zum Kampf­begriff der Umvolkung der Rechten?

Ob es einen Plan hinter dem Ganzen gibt, zielt auf die Frage nach Verschwörungs­theorien. Von solchen Ansätzen halte ich gar nichts, weil diese aufgezeigten Krisen nicht planbar sind.

Gleichwohl muss es besorgt machen, mit welcher Vehemenz sich Verschwörungs­theorien heute verbreiten, insbesondere mit antisemitischer Ziel­richtung. Dahinter liegt bei denjenigen, die diesen Theorien folgen, vor allem ein subjektiv wahrgenommener Kontroll­verlust, der Unsicherheit erzeugt. Die Verschwörungs­theorien suggerieren ihnen Sicherheit durch die Feindbilder. Hier setzen die Vertreter des rechten und rechts­extremen Spektrums erfolgreich an.

Die Unterstützung durch Milliardäre wie die Koch-Brüder und Bob Mercer, das organisierte, fast paramilitärische Agieren im Netz, die geschickte Auslegung der demokratischen Grundrechte, um die Demokratie abzuschaffen: Das klingt nach lange vorbereiteter Organisation, auf die humanistische Kräfte bisher nur verspätet reagieren konnten.

Dies ist zweifellos richtig, und nicht nur das Kapital ist vorhanden, sondern mehr denn je gibt es die neuen Kommunikations­mittel, die die Ideologie produzieren und vervielfältigen. Ein wichtiges Mittel sind die hate crimes, um Bevölkerungs­gruppen aufzuhetzen und andere in Angst zu versetzen. Eine besondere Gefahr besteht darin, dass in stabilisierende Institutionen der jeweiligen Gesellschaften eingedrungen wird und die bisher geltenden Normalitäts­standards der jeweiligen Gesellschaften verschoben werden in eine autoritäre, national­radikalistische Richtung. Nicht von ungefähr werden immer wieder verdeckte Finanz­ströme aufgedeckt, die diese Bestrebungen verstärken sollen. Das hat zweifellos Folgen.

Die Verschiebung der Kräfte in den Verfassungs­gerichten am oberen Ende der Macht, die Verbreitung von Angst und Repressionen durch Nazischläger­truppen am unteren Ende ...

Wir haben es heute am Ende des zweiten Jahrzehnts nach der Jahrtausend­wende mit einem breiten, sich immer weiter ausbildenden Spektrum von rechts­konservativen, rechts­populistischen, autoritär-nationalistischen Parteien und Bewegungen sowie gewaltsam agierenden Rechts­extremisten beziehungsweise Neonazis zu tun. Zudem mit einem sich auffüllenden intellektuellen Milieu, das historisch aufgeladen wird und daraus seine Zukunfts­visionen entwickelt.

Innerhalb dieses Spektrums sind es in der Tat nicht nur abgehängte Klassen, die etwa Verheissungen der Überlegenheit des deutschen Volkes oder der weissen Rasse folgen. Sondern besondere Aufmerksamkeit muss den intellektuellen «Transmissions­akteuren» mit ihrer öffentlichen Reputation gelten, die für die Normalisierung solcher Positionen wie derjenigen der gruppenbezogenen Menschen­feindlichkeit sorgen, während gleichzeitig die «Akteure der Tat» diese Legitimationen für ihre diskriminierenden oder gewalttätigen Aktionen nutzen.

Ich suche immer nach zutreffenden Bezeichnungen für die neue Bewegungen der Nationalisten. Neonazis ist zu simpel, Faschisten trifft es in Teilen. Populisten ist mir zu kuschelig …

Mit dem Begriff der «Faschisten» als Motor zur Beschreibung der aktuellen Entwicklung habe ich Schwierigkeiten. Natürlich gibt es diese und hat es immer gegeben, auch solche Gruppen. Aber wir haben es nach meiner Betrachtung in absehbarer Zeit nicht mit erkennbaren faschistischen Systemen zu tun, die auf der obsessiven Betonung des Niedergangs, der Betonung der Opferrolle einer Gemeinschaft, Kulten der Einheit und Reinheit sowie einem Führerkult und einem Gewaltkult mit para­militärischen Einheiten beruhen. Diese Elemente waren historisch die ideologischen und organisatorischen Motoren.

Allerdings können wir uns nun wegen der vielen technologischen Veränderungen nicht mehr sicher sein, ob die historischen Bezeichnungen heute noch taugen – oder ob nicht ganz neue Kriterien und Kennzeichnungen notwendig sind. Es sei daran erinnert, dass die technologischen Umwälzungen im 19. Jahrhundert die barbarischen Entwicklungen im 20. Jahrhundert mit hervor­gerufen haben.

Insgesamt kann man die inzwischen breit ausdifferenzierten Milieus nicht mehr auf einen Begriff bringen. Ich arbeite mit einem Eskalations­modell mit fünf Facetten, es ist gewisser­massen ein «Zwiebel­modell». Die äussere, grösste Schale stellen Bevölkerungs­gruppen mit gruppen­bezogener Menschen­feindlichkeit in ihren Einstellungen dar. Diese liefern Legitimationen für den «autoritären National­radikalismus» wie die AfD. Auch diese liefern wiederum Legitimationen für die system­feindlichen Milieus wie die Parteien Die Rechte, NPD etc., die bereits mit Gewalt hantieren. Dann gibt es die neonazistischen Unter­stützungs­netzwerke wie die gewalt­tätigen «Kameradschaften», die nahe an rechts­terroristischen Zellen platziert sind.

Neben diesem Szenario, das nur auf Deutschland gespiegelt ist, stellt sich die Frage, welche Facette die gefährlichste ist für die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie.

Ganz eindeutig falsch ist die Verwendung des blank polierten Begriffs «Rechts­populismus», wie ihn Medien, Politik und auch die Wissenschaft lieben. «Rechts­populismus» hat eine flache Ideologie und ist interessiert an gesellschaftlichen Erregungs­zuständen, hervorgerufen via Massen­medien. Der gewalttätige Rechts­extremismus setzt auf Schrecken in öffentlichen Räumen, auf Strassen und Plätzen. Dies ist dramatisch für schwache Gruppen wie Flüchtlinge oder Juden.

Von besonderer Bedeutung ist aber der «autoritäre National­radikalismus» der AfD, weil er auf die Institutionen dieser Gesellschaft zielt, um sie zu destabilisieren. Also Parlamente, Justiz, Polizei, Schulen, Theater, politische Bildung ... Es wird gefährlich, wenn dadurch neue Normalitäts­standards eingeführt werden.

Was müsste passieren, um eine radikale und überraschende Umkehrung der anscheinend überlegenen Strukturiertheit der Rechten zu brechen?

Es gibt eine ganze Reihe politischer Fehl­entwicklungen, die sich zum einen im Zusammenspiel des globalen Kapitalismus mit seinen ständigen «Land­nahmen» und dem Eindringen in alle Poren der Gesellschaft zeigen; weiter eine Demokratie­entleerung, wie ich sie nenne, bei der der Apparat zwar wie geschmiert läuft, aber das Vertrauen in Lösungs­kapazitäten und auch in die Wahrnehmung von Bürgern durch politische Eliten abgenommen hat und weiter abnimmt. Und drittens sind es die Status­ängste aufgrund der schnellen technologischen Entwicklungen.

Zahlreiche dieser Probleme und deren Zusammen­wirken haben die Rechten bis Rechts­extremen nicht erfunden, sie sind ja real. Sie haben daraus die Untergangs­fantasien des «Deutschseins», die Kontroll­verluste und das Versprechen der Wieder­herstellung von Kontrolle («Wir holen uns unser Land zurück») auf die Spitze getrieben – und hatten als entscheidenden Treiber die Flüchtlings­bewegung zur Verfügung. Wobei immer wieder zu betonen ist, dass die Flüchtlings­bewegung nicht die Ursache der aktuellen Rechts­entwicklung darstellt. Sie war bestenfalls ein wichtiger Beschleunigungs­faktor. Der skizzierte Ursachen­zusammenhang war vorher da und auch die damit verbundenen Einstellungs­muster rechts­populistischer Art etwa oder das Potenzial für den «autoritären National­radikalismus» der AfD. So entstehen autoritäre Versuchungen.

Eine kurzfristige radikale Umkehrung ist nicht in Sicht, weil keine grundsätzliche Änderung des genannten Wirkungs­zusammenhanges durch die demokratischen Parteien in Sicht ist und der globale Finanz­kapitalismus ohnehin kein Interesse an gesellschaftlicher Integration hat. Wenn sich zudem diese Parteien nicht von innen selbst zerlegen, wird das Autoritäre in Politik und Gesellschaft nicht einfach wieder verschwinden. Auch deshalb nicht, weil sich der Rechts­populismus in seinen ständigen Versuchen, über Massen­medien und in den sozialen Netzwerken auf Erregungs­zustände zu setzen, nicht erschöpfen kann. Und weil der gewalttätige Rechts­extremismus, der ja vor allem darauf zielt, Schrecken im öffentlichen Raum zu verbreiten, auf viele Bürger abschreckend wirkt. Vor allem der «autoritäre National­radikalismus» ist es, der auf der Erfolgsspur wandelt, weil er die «rohe Bürgerlichkeit» hinter sich versammelt und – das ist wichtig und soll hier absichtsvoll insistierend wiederholt werden – auf die zentralen Institutionen dieser Gesellschaft zielt, also Schulen, Parlamente, Justiz, auch Theater, Gedenk­stätten, politische Bildung und Erinnerungs­kultur, Polizei, Medien etc. Das Ziel ist es, sie zu destabilisieren, um mit Hilfe eines autoritären Kontroll­paradigmas gegen die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie vorzugehen.

Einfache Gegengifte gibt es nicht mehr.

Neben der Überforderung des Einzelnen in einer Zeit, die sich exponentiell beschleunigt, ist der Hang des Menschen, sich auf- und andere abzuwerten, ein globales Problem. Hilft die viel zitierte Bildung, um die momentane inszenierte Aufwallung des Primitiven unter Kontrolle zu halten?

Ja, jeder Mensch ist bestrebt, ein positives Selbstbild von sich zu zeichnen. Wenn dies nicht mehr gelingt, weil man in Prozesse der sozialen Desintegration hineingerät, also Status­verluste und Anerkennungs­defizite entweder subjektiv wahrnimmt oder faktisch objektiv erfährt, dann kommt dieser latent immer vorhandene Prozess auf Touren und die gruppen­bezogene Menschen­feindlichkeit kann um sich greifen. Die Abwertung schwacher sozialer Gruppen wird dann zur eigenen Aufwertung genutzt. Solange das gewisser­massen privat «hinter den eigenen Gardinen» erfolgt, ist das schon schlimm. Gefährlich wird es aber dann, wenn dies im öffentlichen Raum passiert und politisch gebündelt wird. Die Ab- und Ausgrenzungen werden mit einer Ideologie der Ungleichwertigkeit versehen, die die beiden basalen Grundwerte der deutschen Verfassung, also die Gleichwertigkeit aller Menschen, die in dieser Gesellschaft leben, und die psychische und physische Unversehrtheit, verletzen oder zerstören.

Hier setzen die Akteure des bereits aufgezeigten rechten Spektrums an.

Als Puffer gegen solche Entwicklungen und um diese wieder­kehrenden Prozesse gewisser­massen «einzuhegen», wird in der Tat immer wieder Bildung aufgeführt. Auch unsere Ergebnisse der zehnjährigen Langzeit­untersuchung mit jährlichen repräsentativen Bevölkerungs­befragungen zeigen, dass der Bildungs­faktor wichtig ist. Aber formal höhere Bildung schützt keineswegs vor solchen Einstellungen. Schon vor zwanzig Jahren waren fremden­feindliche Einstellungen unter Studierenden in wirtschafts­wissenschaftlichen, ingenieur­wissenschaftlichen und juristischen Studien­gängen nachweisbar, also dort, wo Führungs­eliten ausgebildet werden. Und heute bröckelt dieser Faktor etwa im Hinblick auf islam- beziehungs­weise muslim­feindliche Einstellungen. Also, es ist Vorsicht geboten und zeigt die Bedeutung gesellschaftlicher Diskurse, die solche Positionierungen wesentlich beeinflussen.

Viele Männer, auch Geistes­wissenschaftler und Intellektuelle, die unter einer subjektiven und tatsächlichen Bedeutungs­losigkeit leiden, sehen sich im Schulter­schluss mit den Neurechten auf der Seite von Macht und Wichtigkeit.

Ja, das ist eine der bedrückendsten Entwicklungen, die ich so auch nicht in dieser Vehemenz erwartet hatte, trotz der vielen Jahre, in denen ich mich mit gesellschaftlichen Entwicklungen beschäftigt habe.

Mit dem Vordringen der «Ambivalenz der Moderne» haben sich Eindeutigkeiten aufgelöst, und gerade in den vergangenen beiden Jahr­zehnten verschwammen politische und gesellschaftliche Koordinaten wie links/rechts, oben/unten, innen/aussen. Dadurch taucht auch unter diesen Intellektuellen die Sehnsucht nach neuer Klarheit, nach Eindeutigkeiten und nach Identität auf. Es ist einfach unvorstellbar, weshalb diese Intellektuellen es nicht schaffen, die Ambivalenzen, also die Wider­sprüchlichkeiten, und die Ambiguitäten, also die unklaren Situationen, auszuhalten, sondern nach neuen Grenz­ziehungen, biologistischen Menschenbildern etc. gieren.

Staunen kann man auch darüber, wie in intellektuellen Wochen­zeitungen und Magazinen diese Linien gepflegt werden.

Wie könnte man die Wütenden, die Entfesselten, die Hassenden, die nun den Rausch des endlich Sagbaren erleben, wieder in eine kultivierte Gesellschaft eingliedern?

O je. Da bin ich völlig überfragt. Wenn es vorrangig um Macht geht, gibt es keine Chance. Denn die eigene Ohnmacht soll ja gerade überwunden werden, koste es, was es wolle – zumal wir in einer absoluten Konkurrenz­gesellschaft leben, in der es sich niemand leisten kann, ein Verlierer zu sein.

Eine der wichtigsten Kategorien in den Ländern, in denen Parteien und Bewegungen des rechts­populistischen bis rechts­extremistischen Spektrums ihre Positionen öffentlich gewinn­bringend auftischen, ist der schon mehrfach angeführte Kontroll­verlust. Dabei spielt es keine Rolle, ob dieser nur wahrgenommen wird oder tatsächlich existiert. Wenn jemand Angst hat, dann ist diese Angst für ihn real, es sei denn, sie wird absichtsvoll instrumentalisiert aus Macht­gründen. In Gross­britannien war der wirkungs­vollste Slogan Let’s take back control again. Wieder­herstellung von Kontrolle zwecks eigener alter Grösse, die sich nie wieder in ein «Weltreich» verwandelt wird.

Ich stehe auch vor einem Rätsel: Warum handeln Menschen gegen ihre eigenen Interessen? Ausgerechnet in jenen Regionen, die ohnehin durch die Deindustrialisierung infolge der neoliberalen Politik von Margaret Thatcher seit je leidet. Es ist wohl eine undurchschaubare Mischung aus sozialen und vor allem kulturellen Gründen. Anders wären die Anstiege fremden­feindlicher Gewalt seit dem Brexit-Votum nicht zu erklären.

Einen grossen Anteil an der Attraktivität von Gewalt hat meiner Meinung nach die Langeweile. Gewalt ist Erregung, Adrenalin, das Verbreiten von Furcht. Was kann man gegen sie tun? Jugend­zentren mit Rock­konzerten und Billard­tischen?

Gewalt ist immer eine Macht­demonstration, die wiederum Anerkennung schafft in der jeweiligen Bezugs­gruppe, etwa von Jugendlichen. Dort wo sich Gewalt in «leerer Zeit» ausbildet, ist genauer hinzusehen, welche Anerkennungs­quellen es für den Einzelnen gibt. Die Anerkennungs­quelle in der Schule ist Leistung; die Anerkennungs­quelle in der Familie ist Liebe; die Anerkennungs­quelle in der Gruppe von Gleichaltrigen ist Zugehörigkeit und Stärke.

Überall dort, wo einzelne oder gar alle wichtigen Anerkennungs­quellen versiegen, wird Gewalt zu einer attraktiven Anerkennungs­quelle. Da helfen keine Rock­konzerte oder Billiard­tische. Wir haben in dieser Konkurrenz­gesellschaft keine Kultur der Anerkennung. Im Gegenteil: Anerkennung wird verknappt, um die Konkurrenz­gesellschaft anzuheizen.

Wenn man sich die aktuellen Ergebnisse der EU-Wahl ansieht: Wird der Neoliberalismus die dominierende Welt­macht? Reden wir dann von einem neuen digitalisierten Feudal­system?

Es gibt keine «alternativlose Politik», wie uns jahrelang in Deutschland eingehämmert worden ist. Deshalb ist auch der Kampf nicht aussichtslos, und sei es nur, um Schlimmeres zu verhindern. Ausserdem ist es nichts Neues, dass die grössten Feinde im linken Spektrum sie selbst sind; das heisst, die jeweiligen Überlegenheits­fantasien linker Gruppen, Bewegungen und Parteien sind dadurch auch noch Helfers­helfer – ohne es absichtsvoll sein zu wollen.

Hinzu kommt, dass der traditionelle politische «Werkzeug­kasten» mit Gesetzen, Geld und moralischen Appellen nicht ausreicht, zumal sich eine dramatische Veränderung von Öffentlichkeit vollzogen hat und weiter vollziehen wird. Bisher sprach man davon, dass in der Öffentlichkeit von Parlamenten, Medien und so weiter die Deutungs­kämpfe stattfinden. Öffentlichkeit im Singular. Dies ist vorbei, weil wir nun mit verschiedenen Öffentlichkeiten, also im Plural, zurecht­kommen müssen. Es sind die teilweise abgedichteten «Filter­blasen», in denen es nicht um Debatten, sondern um Aufschaukelungen und Selbst­bestätigungen geht. Und man weiss ja, dass homogene Gruppen immer gefährlich sind.

Aufschlussreich ist auch, dass im Jahr 2019 des «autoritären National­radikalismus» die AfD jene Partei ist, die am intensivsten im Netz unterwegs ist, um auch auf diese Weise ihr Projekt einer geschlossenen Gesellschaft und illiberalen Demokratie voranzubringen. Ungeklärt ist allerdings, wer das organisiert beziehungsweise ob möglicherweise «Maschinen» dies produzieren.

Eine breite, öffentlich sichtbare Unterstützung durch Gross­konzerne ist zumindest in Deutschland nicht in Sicht, weil diese in ihrer Verwertungs­logik denken, nach der bei den grossen Kontroll­gewinnen der vergangenen Jahrzehnte ohnehin kein Bedarf besteht. Die aktuelle Politik der Zuwanderungs­begrenzung etwa der AfD steht angesichts des Fachkräfte­mangels zurzeit sogar im Gegensatz zu eigenen Interessen.

Wenn Kevin Kühnert von dem redet, wozu Sozial­demokraten einst angetreten waren, folgt ein tagelanger Aufschrei. Die Kämpfe links gegen rechts wirken auf mich so unmodern. Was könnte ein Konzept fernab von überholtem Sozialismus und Kapitalismus sein?

Das ist nun eine sogenannte Hunderttausend-Dollar-Frage, die ich nicht beantworten kann, weil ich kein Gesellschafts­architekt bin. Die derzeitige hektische Diskussion im Frühjahr 2019 hat sich am Grundrecht auf bezahlbares Wohnen entzündet. Und das zu Recht, weil das eine soziale und politische Zeitbombe ist. Der soziale Wohnungs­bau in Deutschland wurde weltweit beneidet als wichtiges Steuerungs­instrument zu sozialem Ausgleich und menschen­würdigem Wohnen. Und auch hier hat die folgsame neoliberale Politik deutscher Regierungen und Städte wie etwa in Dresden viele Schleusen geöffnet für die reine Kapital­vermehrung grosser Immobilien­konzerne und gleichzeitig den sozialen Wohnungs­bau so gut wie abgeschafft. Das Prinzip des Grund­gesetzes «Eigentum verpflichtet» ist ausgehebelt durch das Zusammenspiel von Kapital und Politik. Und der Artikel 1 des Grund­gesetzes, «Die Würde des Menschen ist unantastbar», gleich mit. Die Würde des Menschen wird antastbar durch unwürdiges Wohnen.

Jeder Widerstand oder selbst nachdenkliche Überlegungen werden dann von den kapitalnahen Akteuren konservativer Parteien in Verbindung mit der Wohnungs­wirtschaft mit dem Hammer eines angeblichen «Staats­sozialismus» zertrümmert. Gott sei Dank gibt es noch die gemeinwohl­orientierten Genossenschaften wie etwa in München, die dagegenhalten, allerdings ohne nachhaltige Breiten­wirkung gegen die überbordende Marktmacht.

So, jetzt ein wenig gute Laune: Trotz der üblichen Hass- und Abwertungs­kanonade der neoliberalen Steigbügel­halter – ein schönes Wort, das ich schon immer mal verwenden wollte – wächst die Zahl der Jugendlichen, die am Klimastreik teilnehmen. Äussern sich einflussreiche Influencer dezidiert politisch, wächst die antifaschistische Bewegung. Glauben Sie an die Wirksamkeit ausser­parlamentarischen Widerstands?

Ja, das ist ungemein wichtig. Vor 25 Jahren habe ich mal in einem Artikel einer überregionalen Zeitung dafür plädiert, für Jugendliche «Wutplätze» in den Zeitungen einzurichten, damit hornhäutige Politiker und Politikerinnen sich ein ständiges seismografisches Bild über die Gefühls­lagen von Jugendlichen in ihren Städten und Gemeinden bilden können. Nur abschätzige Bemerkungen waren die Folge. Dies wiederholt sich heute in grossem Massstab, wenn der FDP-Vorsitzende Christian Lindner die Bewegung mit dem Hinweis diffamiert, dies solle man den Profis überlassen. Das ist wohlgesetztes Kalkül, weil er weiss, wie kapital­getriebener Lobbyismus zu wessen Gunsten funktioniert.

Generell stecken solche Bewegungen in einem Dilemma. Und ein Dilemma zeichnet sich dadurch aus, dass alles, was man macht, falsch ist. Was bedeutet das? Die Bewegungs­forschung zeigt, dass es immer zunächst eine Aufwärts­entwicklung gibt mit euphorischen Begleit­umständen unter anderem mit den Medien­berichten, die als Erfolge aufmunternd inter­pretiert werden. Wenn dann keine besonderen Impulse oder Provokationen kommen, lässt diese Aufmerksamkeit nach. Um die Bewegung trotzdem am Leben zu erhalten, reichen dann keine spontanen Aufrufe oder Symbol­figuren mehr. Dann müssen Organisationen aufgebaut werden, um zu «überleben». Sie geraten dann leicht in routinisierte Abläufe hinein, sodass die Bewegung erlahmt.

Es ist eine schwierige Grat­wanderung ohne Erfolgs­garantie. Das Feiern der Bewegung durch kapital­getriebene Akteure auf höchsten Ebenen muss misstrauisch machen.

Ihre Arbeit hat das Fundament für das gelegt, was wir heute über Faschismus zu wissen glauben, Sie haben das Gerüst gebaut, auf dem nun nach erstaunten Rede­versuchen und Analysen einer Bedrohung der Demokratien ein Gegen­konzept entwickelt wird.

Ich danke Ihnen für Ihre Hartnäckigkeit, Ihre Arbeit und besonders dafür, dass Sie Zeit für mich hatten.