Baut dieser Frau endlich ein Denkmal!
Rosa Luxemburg hat jahrelang in Zürich geforscht und gewirkt. Aus der offiziellen Erinnerung aber ist sie weitestgehend getilgt. Höchste Zeit, das zu ändern.
Von Melinda Nadj Abonji, 14.06.2019
Man kann am heutigen Tag wieder einmal darüber nachdenken, wem in diesem Land die historische Erinnerung gilt. Welche Denkmäler standhaft behaupten, sie erinnerten an eine denkwürdige Persönlichkeit. Und man kann mit Blick auf die grösste Stadt dieses Landes fragen, ob die «Weltgeschichte» wirklich angemessen repräsentiert ist mit Zwingli–Pestalozzi–Waldmann–Keller–Escher.
Es ist an der Zeit einzufordern, dass der öffentliche Raum – weil er unsere Köpfe und unser Bewusstsein mitprägt – immer wieder zur Debatte steht: Wer ist repräsentiert und warum? Und ist das noch auf der Höhe der Zeit?
Ich möchte die Frage konkretisieren: warum nicht Rosa Luxemburg? Warum geht die Stadt Zürich mit einer der brillantesten Intellektuellen, die je hier geforscht, hier ihr Denken geformt haben, so verdruckst, so bescheiden, so heimlich um?
Wer weiss schon, dass Rosa Luxemburg 1889 in die Schweiz kam, um an der Zürcher Universität zu studieren, weil «man» sich hier seit 1840 gegenüber dem «Frauenstudium» aufgeschlossen zeigte, vor allem dank des aus Offenburg stammenden Gründungsrektors Lorenz Oken? Luxemburg studierte Botanik und Zoologie, später dann Nationalökonomie. Sie promovierte 1897 magna cum laude über die «industrielle Entwicklung Polens». Ihr Professor Julius Wolf hatte für ihre «treffliche Arbeit» offenbar summa cum laude beantragt, aber die hohe Fakultät lehnte ab: Das sei für eine Frau zu viel. Dabei hielt Wolf Rosa Luxemburg, die als erste Frau der Zürcher Universität zur Dr. oec. promovierte, für «den begabtesten Schüler» seiner Zürcher Jahre.
Mit dem Studium setzte Luxemburg ihre bereits als Schülerin begonnene politische Arbeit fort. Ausserdem bewegte sie sich in den Emigrantenzirkeln der russischen und der polnischen Sozialdemokratie, die in Zürich Zuflucht gefunden hatten. Der dritte Kongress der Sozialistischen Internationale fand 1894 in der Zürcher Tonhalle statt. Hier sprach Luxemburg erstmals öffentlich, und zwar plädierte sie für ihre Zulassung an der Versammlung. Ihr Auftritt hinterliess bei etlichen Männern einen bleibenden Eindruck. Der belgische Sozialistenführer Emile Vandervelde erinnerte sich: «Ich sehe sie noch, wie sie aus der Menge der Delegierten aufsprang und sich auf einen Stuhl schwang, um besser verstanden zu werden. (...) Sie [verfocht] ihre Sache mit einem solchen Magnetismus im Blick und mit so flammenden Worten, dass die Masse des Kongresses, erobert und bezaubert, die Hand für ihre Zulassung erhob.»
Vandervelde irrte: «Die Masse» war sicher «bezaubert», aber «erobern» liessen die Männer sich nicht. Die 23-jährige Luxemburg wurde nicht als Delegierte zugelassen.
Es gäbe viele Möglichkeiten, Rosa Luxemburg die Ehre zu erweisen: Ein Denkmal der promovierten Ökonomin und Verfasserin von «Die Akkumulation des Kapitals» in unmittelbarer Nähe von Alfred Escher wäre aussagekräftig. Luxemburg müsste allerdings in die entgegengesetzte Richtung blicken, zum Bahnhof, um die ankommenden und abreisenden Menschen zu grüssen: Als entschiedene Gegnerin des Nationalismus, Klassenkämpferin, Kritikerin der Kolonialpolitik stünde sie an diesem zentralen Ort – Rücken an Rücken zu «Gründervater» Escher – für die weltoffene, sozialdemokratische Stadt, die Zürich ja zu sein verspricht.
Denkbar ist auch, dass der Helvetiaplatz endlich umgetauft wird. «Treffen wir uns am Rosalux?» Klingt doch gut! Zur brillanten Rednerin und Verfasserin von «Massenstreik, Partei und Gewerkschaften» würde dieser Ort (mein Lieblingsplatz, übrigens) perfekt passen. Ausserdem hätte man die ewige Diskussion um die «Aufwertung» des Platzes elegant und ohne finanziellen Aufwand gelöst.
Kein Denkmal, kein Platz, keine Strasse, keine Gasse, nicht einmal ein Gässchen erinnert heute in Zürich an Rosa Luxemburg. Einzig an der Plattenstrasse 47 informiert eine Plakette: «Hier wohnte 1894/95 Rosa Luxemburg, 1871 geboren / 1919 ermordet». Und darunter steht ihr berühmt gewordener Satz: «Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden».
Womit bereits die nächste Frage auftaucht: Warum gehört Rosa Luxemburg nicht zum Schulstoff? Warum sind ihre theoretischen Schriften, ihre Reden und Flugblätter nicht Gegenstand von Kolloquien und Seminaren? Dann könnte man ausgiebig diskutieren, warum ihr berühmter Satz im Kontext eine ganz andere Brisanz erhält: Er war nämlich an Lenin gerichtet, gegen Lenin und bedeutete eine klare Ablehnung der bolschewistischen Gewaltherrschaft (die Fortsetzung des zaristischen Terrors mit neuen Mitteln). Denn auch das gilt es ins Bewusstsein zu rufen: In der diffamierenden Rede von der «roten Rosa» ist viel zu lange ein falsches Narrativ verbreitet worden, das Luxemburgs vehementen Anti-Militarismus unterschlägt, ihr Denken in einen Kontext rückt, den erst die Verbrecher nach ihr geschaffen haben.
Es gibt noch viele andere schöne Möglichkeiten, Rosa Luxemburg zu würdigen. Ein neu zu gründendes Institut für Literaturkritik müsste ihren Namen tragen, denn ja, auch das noch: Was diese Frau zur Dichtung zu sagen wusste, ist schlicht phänomenal. Ihre Art zu lesen und zu schreiben würde wieder dringende Massstäbe für ein Metier setzen, das fast nur noch scharrende Kulturfunktionäre beheimatet.
Und wenn ich mir nun überlege, ob es reicht, alle 28 Jahre einen Frauenstreik zu organisieren, für Reformen zu kämpfen, eine gerechte Entlöhnung – vor allem auch von unbezahlter Reproduktionsarbeit –, für eine angemessene Repräsentation im öffentlichen Raum etc., dann fällt mir ein Wort von Luxemburg ein: «Halbheit». Ihre Alternative zur halbherzigen Reform: Revolution; die grundsätzliche, klare Analyse dessen, was ist – und dann der Kampf für eine radikale Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Ansonsten verbessert sich einiges, aber grundsätzlich ändert sich nichts.
Rosa Luxemburg gehört in die Öffentlichkeit! Zum einen in den physischen Raum dieser Stadt, der immer Teil der Erinnerungspolitik ist. Und zum anderen in den mentalen Raum der Bildungsinstitute, die lange genug die Arbeit dieser glänzenden Intellektuellen ignorierten.
Melinda Nadj Abonji ist eine der wichtigsten Stimmen der Schweizer Gegenwartsliteratur. Im Jahr 2010 wurde sie für ihren Roman «Tauben fliegen auf» mit dem Deutschen Buchpreis und dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Der Roman erzählt vom «Gastarbeiter»-Leben in der Schweiz und von einer Sommerreise in die heute serbische Vojvodina, die in atmosphärisch dichten Schilderungen die Vorboten der Jugoslawienkriege spürbar werden lässt.
2017 erschien ihr Roman «Schildkrötensoldat», der mit dem Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank ausgezeichnet wurde. Das Werk erzählt die Geschichte von Zoltán Kertész, einem Jungen aus der Vojvodina, der «nicht ganz richtig im Kopf» ist, sich auf seine Weise aber dem Krieg und der gesellschaftlichen Ordnung verweigert. Und von seiner Cousine Hanna, die zwar depressiv und mit Medikamenten sediert ist, aber Zoltán – und der Literatur – die Treue hält.
Von der Autorin publizierte die Republik zuletzt die Zürcher Poetikvorlesungen in leicht gekürzter Form.