Zu Ohren kommen
Dunkelkammer, Teil I: Diesen Donnerstag hat Melinda Nadj Abonji ihre erste Zürcher Poetikvorlesung gehalten. Zwei weitere Vorlesungen werden folgen. Alle drei werden veröffentlicht in der Republik.
Von Melinda Nadj Abonji, 10.11.2018
Warum ich mich nun trotz allem dazu entschieden habe, über Literatur zu reden, über Kunst. Warum also? Weil ich mittlerweile zur Ansicht gekommen bin, dass es einen Ort gibt, von dem aus ich erzählen muss: die Dunkelkammer.
Zu jenen Autorinnen gehörend, deren Name eine andere Sprache spricht und deren Schreiben oft mit «Herkunft», «Migration», «Mehrsprachigkeit» verbunden wird, halte ich es nun für diese Vorlesungen für notwendig, den Schauplatz zu verschieben. Und die Verschiebung bedeutet eine Präzisierung, weg von meinem Geburtsort hin zu einer Dachkammer, in der ich, nach meiner Ankunft in der Schweiz, die ersten Monate verbracht habe.
Dunkelkammer ist zunächst nichts anderes als ein winziger Raum, ein Ort, von dem ich seit langem weiss, dass er mich zur Literatur gebracht hat, der mich und mein Schreiben geprägt hat wie kein anderer und vermutlich genau deswegen so lange Zeit nicht schreibbar war.
In diesem Jahr habe ich nun eine kurze Prosa geschrieben, die diesen Titel trägt, «Dunkelkammer», und die nächstes Jahr erscheint – eine schwierige Reise, die ohne den feinsinnigen Zuspruch des Schriftstellers Michel Mettler nicht möglich gewesen wäre. Jetzt ist, wie gesagt, ein Anfang gesetzt; das Leben, das erinnerte Leben hat seinen Sprung aufs Papier getan, ist Sprache geworden, ohne dass die Sprache das gelebte Leben ist – nein, selbstverständlich nicht. Aber Leben ist immer in der Sprache, in jedem einzelnen Buchstaben, in den Vokalen und Konsonanten, wenn die Wirklichkeit des gelebten Lebens sich transformiert in Literatur, in etwas, das ohne sie nicht vorhanden wäre; Literatur (Kunst) ist immer «dreiflügelig» – sie ist nie nur das eine, die Biografie der Schriftstellerin, sondern immer auch das Kunstwerk, der Text, und ist immer noch ein Drittes (was oft vergessen geht), nämlich die Idee, die Überzeugung, was Literatur ist und sein soll. Das eine kann vom anderen und vom Dritten nicht geschieden werden, und es ist kompliziert und aufregend und notwendig, die drei Aspekte voneinander zu trennen, um sie, kaum unterscheidbar, wieder zusammenzuführen.
Von Literatur (Kunst) spreche ich nur dann, wenn sie die Fundamente der normativen Ordnung, die sogenannte Wirklichkeit, ausser Kraft zu setzen vermag; sie ist deshalb in einem ständigen Kampf mit dieser Ordnung, die vom Publikum und von der öffentlichen Meinung repräsentiert wird. Und gleichzeitig braucht die Literatur ein Publikum (und sei es noch so marginal) – Leserinnen und Leser, die bereit sind, die normative Ordnung der «äusseren Wirklichkeit» und in sich selbst ausser Kraft zu setzen.
In der heutigen Vorlesung geht es ums Ohr, wie der Gehörsinn mich zum Lesen, zur Literatur und dann zum Schreiben gebracht hat. Die erwähnte Prosa mit dem Titel «Dunkelkammer» ist der existenzielle Brennpunkt der Vorlesung, auf den sich alle Überlegungen zubewegen. Deshalb werde ich den Text am Schluss des Abends lesen.
Ein Baum sein
Im Kindergarten hatte ich eine liebenswürdige Lehrerin: Sie hat mich als Tannenbaum verkleidet, eine braune Hose, ein dunkelgrüner Filzhut für den Kopf, vermutlich hat sie auch mein Gesicht grün geschminkt, ich sollte eine Rolle haben, im «Schneewittchen», und zwar als Tannenbaum, ich stand da und sah den Zwergen zu und natürlich dem schönen Schneewittchen, aber was anderes als ein Tannenbaum hätte ich sein sollen, da ich kein Deutsch, sondern «nur» Ungarisch sprach? Meine Lehrerin versuchte mich zu integrieren ins Spiel, wie man heute sagen würde, und ich? Ich schämte mich in meinem Baumkostüm, schämte mich über mich hinaus und dafür, dass ich bloss dastand, was in meiner Erinnerung eine Ewigkeit dauerte, aber den Unterschied hatte ich ziemlich genau begriffen, zwischen den Zwergen, dem Schneewittchen und dem Baum. Ob es ausser mir noch andere Bäume gab, weiss ich nicht mehr; ich jedenfalls stand einen Baum, und diese kleine Geschichte, die fast schon eine lustige Anekdote sein könnte, ist meine erste Erinnerung an eine öffentlich erlebte Scham; ich fühlte mich lächerlich und dumm in meiner Stummheit.
Am liebsten sass ich dort, wo das Zimmer des Kindergartens am hellsten war – und ich zeichnete, in mich vertieft, grosse und kleinere Menschen, ohne Münder.
«Stumm» und «Stimme» haben wortgeschichtlich nichts miteinander zu tun, was mich erstaunt. «Stumm» ist offenbar mit «stammeln» verwandt, mit «sprachlich gehemmt», «stolpern», «stehen bleiben» und vermutlich auch mit «dumm».
Glücksdeutsch
Lesen war dann, Sie werden verstehen, ein Wunder. Es liess auf sich warten, die Lehrerin beklagte sich über mich, sie liest nicht! Vaters Sprache war unmissverständlich, aber nicht er bewirkte das Wunder. An irgendeinem belanglosen Tag geschah es wie von selbst, die Buchstaben fügten sich zu Worten von A bis Z, zu sinnvollen Sätzen, und der Tag konnte nicht mehr weiter belanglos sein. Und nun setzte ich mich ab, wann immer ich wollte, niemand hatte etwas dagegen, keine besorgten Eltern, die mir bei meiner Lektüreauswahl über die Schulter schauten. Bücher waren gern gesehen in unserer bildungsfernen Familie, wie man so schön abschätzig sagt. Was tat ich also? Ich öffnete das Buch – so fängt es heute noch an – mit den Händen und mit den Augen, einer Aufregung im Brustkorb.
Und ich las, die Buchstaben, die ich miteinander verband, Vokale und Konsonanten – sie waren das Wunder; keine Zeichen, sondern immer neue Wesen, die wie selbstverständlich zu mir sprachen. In meinem Innern hörte ich eine Stimme oder mehrere und ich war – gerettet! Lesen war die überaus konkrete Erfahrung des Glücks, in der Stille Stimmen zu hören; nein, ich tauchte nicht ab, sondern tauchte vielmehr auf, in gehörten Worten, die sich zu Gedanken, Gefühlen, Gefühlsgedanken formten, zu Bildern – und die Stimmen waren immer noch da, auch wenn ich das Buch zuklappte.
In der Schule wurde Züritüütsch gesprochen, mit meinen Eltern und Geschwistern sprach ich Ungarisch, und meine Sprache war das Lesen, auf Hochdeutsch, «Glücksdeutsch» nannte ich es später. Ich hatte eine Sprache gefunden, die immer zu mir sprechen würde, auch wenn die Welt um mich herum mich nicht verstünde und ich sie nicht; ich würde immer Worte und Sätze still in mir aufsagen können, die ich gelesen und gehört hatte – und sie würden mich durch die Tage tragen; ich würde schweigen, aber nie mehr stumm sein.
Es ist notwendig, sich die Stimme in ihrem vollen Bedeutungsumfang zu vergegenwärtigen: Es geht nicht nur um die Sprechfähigkeit, also um die Fähigkeit, Töne mittels der Stimmbänder zu erzeugen, sondern auch um die Ohren, den Gehöreindruck, darum, dass die gesprochenen und gesungenen Töne gehört werden.
Wenn sich das Hören explizit mit der Stimme kombiniert, wird es gefährlich: Die Wendung «Stimmen hören» ist als übersinnliche Wahrnehmung definiert, und in postreligiösen Gemeinschaften gilt sie meist als Beleg für Wahnvorstellungen, beispielsweise für Schizophrenie. Aber auch in früheren Zeiten war es riskant, Stimmen zu hören; Jeanne d’Arc wurde verbrannt, da sie ihren Widerruf widerrief, dass sie die Stimmen der heiligen Katharina, des Erzengels Michael und der heiligen Margarete gehört hatte. Die Kirche war jahrhundertelang die Autorität, die unerbittlich darüber entschied, ob die gehörten Stimmen göttlichen oder teuflischen Ursprungs waren.
Man sprach also dem Gehörsinn die Fähigkeit zu, uns um den Verstand zu bringen, salopp formuliert; ernsthafter klingt, wenn ich sage, dass die Philosophie, die Religion, aber auch die Philologie ernsthaft bemüht waren, die Sinne ganz allgemein und in allen nur erdenklichen Möglichkeiten zu diskreditieren. Dabei eröffnet der «Sinn» im Althochdeutschen und im Mittelhochdeutschen – obwohl die Etymologie nicht bis in die Einzelheiten geklärt ist – ein vorzügliches Bedeutungsfeld, sin (mit einem «n») bedeutet nämlich «auf den Verstand und die Wahrnehmung bezogen», mit der Grundbedeutung «Weg», «Reise», «Gang». Und das indogermanische sent heisst «eine Richtung nehmen», «gehen», «reisen», «fahren».
Der Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten war es, der sich 1750 in seiner Schrift «Aesthetica» den Sinnen gegenüber zugewandter zeigte: Er definierte Schönheit als Perfektion sinnlicher Erkenntnis und wies den Sinnen dementsprechend ein eigenes Urteilsvermögen zu. Die Dichtung sah Baumgarten als Mittel dazu, auf sinnliche Weise Erkenntnisse zu vermitteln (im Dienste der Schönheit).
Ich war überrascht, als ich zur Vorbereitung der Vorlesungen die 1772 erschienene «Abhandlung über den Ursprung der Sprache» von Johann Gottfried Herder erneut las; leidenschaftlich und in präzis formulierter Polemik – einerseits gegen die Rationalisten unter den Aufklärern und andererseits gegen die Sensualisten – postulierte Herder, dass «die Vernunftmässigkeit des Menschen (...) die gänzliche Bestimmung seiner denkenden Kraft im Verhältnis seiner Sinnlichkeit und Triebe» sei. Die Sprache ist nicht göttlichen oder tierischen Ursprungs, sondern der Mensch sei «zum Sprachgeschöpfe gebildet» und das Gehör sei das «Organ der Sprache», der «Sinn der Sprache».
Gehör
Die Musikschullehrerin stellte eine Begabung fest, das Gehör!, und das hiess: nicht Klavier, nicht Gitarre, nicht Gesang, sondern Geige. Meine Eltern fühlten sich geehrt, und ich bekam eine Viertelgeige und eine Lehrerin, Frau Stifter, mit fleischlosen Fingern und senfgelbem Flaumhaar. Es war ein Debakel, hatte mit Musik nichts zu tun, aber mit Drill. Haltung! rief Frau Stifter. Die Finger! Der Rücken!
Ich weigerte mich, die Notenschrift zu lernen, die Sprache der Musik, so jammerte meine Lehrerin und war sehr, sehr unglücklich über mich, weil: Die Begabung, sie ist da, aber sie reicht lange nicht aus!
Weil ich ein braves Kind war und dazu noch ein Mädchen, sagte ich niemandem, dass ich nichts anderes wollte als Kanonsingen, oisere güggel dä isch tot ... Und was da alles geschah, während des Singens, das hätte Frau Stifter umgebracht, all die toten Güggel in meinem Kopf, die ich ganz deutlich sah, ein, zwei, drei, vier Güggel ... betrauert und bestattet von diesen übereinandergelagerten Tönen – kokodaa – war das der Sterbenslaut des Güggels oder der Erweckungsruf? Unsere Kinderstimmen, die doch all die Güggel wieder und immer wieder lebendig werden liessen ...
Kanonsingen bedeutete: die eigene Stimme in einem Meer von Stimmen und klingende Wörter, die sich zu Bildern transformierten. Und Kanonsingen war ganz ähnlich wie Lesen; beides war dramatisch und erforderte vollkommene Hinwendung.
Die Ohren, sie sind unsere kaum wahrgenommenen Türen oder Fenster, die wir nie schliessen können, die offen stehen – im Grunde sind wir immer ganz Ohr –, und der enge, gekrümmte Gang, der uns schützt vor zu viel Wind, zu viel Lärm, führt zu den Gehörknöchelchen, die kleinsten im Körper, befähigt, die Schallwellen aufzunehmen und zu übersetzen. Auch wenn ich es bedaure, dass die Wissenschaft die kleinen Knochen im Mittelohr mit brachialen Namen bedacht hat – Hammer, Amboss, Steigbügel –, so geht es mir selbstverständlich nicht um wissenschaftlich beweisbare Aspekte des Gehörs, sondern darum, dem Ohr mehr zuzutrauen als die Fähigkeit zu hören.
Ich habe das Ohr schon vor einigen Jahren als intelligentes Organ bezeichnet; wir denken mit den Ohren – «hörend Worte denken» heisst es bei Herder –, und ich glaube, diese Ohren-Intelligenz ist auch damit verbunden, dass wir mit dem Gehör erinnern und so einer sinnlichen Spur folgen können, die mit dem blossen Verstand nicht auffindbar wäre. Dementsprechend erweitere ich Herders Aussage: hörend mehr als Worte denken.
Marieluise Fleisser
In my dreams you’re talking to me.
Your voice is moving through me (...)
(Laurie Anderson, «Example #22», vom Album «Big Science»)
Ich war zweiundzwanzig, Studentin, Kellnerin, Köchin, hatte gerade mit meiner Schwester eine Band gegründet, als ich Marieluise Fleisser las, und zwar ihre erste Erzählung mit dem Titel «Meine Zwillingsschwester Olga», den sie später zu «Die Dreizehnjährigen» abänderte. Ich wusste sofort: Dieser Text hat eine andere Stimme, eine bis anhin noch nie gehörte, und sie rief mir zu: Lies mich! Ich will deine ungeteilte Aufmerksamkeit!
Aber nun, hören Sie selbst, wie Fleissers Erzählung beginnt:
Es fing damit an, dass er eine kleine Tonpfeife aus der Tasche zog und sie anrauchte. Die Kinder standen um ihn herum und waren neidisch. Er hiess Willy Sandner.
«Ich habe noch neunundzwanzig. Sie sind von einem Matrosen», sagte er und sah zu Olga hinüber. Olga schaute in die schwarze Öffnung der Garnisonskirche.
«Es ist leicht auszudenken», sagte er, «dass nicht jeder dreissig weisse Pfeifen hat.» Wie unheimlich leer die Kirche immer war, ganz protestantisch. Olga zog die Schultern zusammen. «Protestanten kommen nicht in den Himmel», sagte sie laut und musterte Erna. Erna wurde dunkelrot.
Sandner sagte: «Ich kann auch welche wegschenken, wenn ich will.» Olga bat nicht. Die Kinder lauerten regungslos nach einer Pfeife.
«Überhaupt tue ich, was mir gefällt», er lüftete die Lippe ein wenig. Ich dachte, Olga sei dumm, sie hätte sie mir schenken können.
Erna wollte eine haben. «Will vielleicht noch jemand eine?» Er griff in die Tasche, stellte den Kiefer vor, indem er sich bückte. Träumerisch klopfte er die weissen Pfeiflein an seinem Absatz entzwei.
Die Kinder waren gelähmt. Ich höre noch wie heute den Wind in den Kastanien klatschen.
Der Erzählbeginn fällt mit dem Handlungsbeginn zusammen: «Es fing damit an.» Was anfängt, bleibt unbestimmt – «es» –, aber auf diese Art beginnen Katastrophenberichte. Im letzten Satz der zitierten Textstelle wird deutlich, dass eine Erwachsene im Rückblick erzählt: «Ich höre noch wie heute den Wind in den Kastanien klatschen.»
Die Erzählerin, die im Imperfekt zu erzählen begonnen hatte, was damals geschehen ist, wechselt ins Präsens und überbrückt die zeitliche Distanz durch den Hörsinn: Damals hörte sie, was sie heute noch hört. Die sinnliche Erinnerung ist immer noch lebendig in der Erzählerin; sie gibt sich als Erwachsene zu erkennen, taucht aber wieder ein in die Ereignisse, die Gefühls- und Gedankenwelt der Jugendlichen, kommentiert das Geschehen nur an einigen wenigen Stellen, was aber umso brisanter wirkt: «Und wieder empfand ich, als seien wir gegen ihn [Sandner] im Unrecht.»
Marieluise Fleissers Erzählung machte mich mit einer unvergessenen Kraft darauf aufmerksam, dass Literatur davon lebt, wie erzählt wird. Nicht der Stoff, der Inhalt, das Thema – das alles suggeriert, dass etwas Fixes, Festumrissenes da ist, was man lediglich mittels einer zur Verfügung stehenden Sprache zu beschreiben braucht –, sondern das poetische Verfahren ist entscheidend, der Vorgang des Erzählens, dem ich auf die Spur komme, wenn ich lesend zuhöre – still, dann laut –, mich der Bewegung des Textes überantworte und anhand klarer Kriterien analysiere.
Kalter Kaffee, werden Sie vielleicht denken, hatte doch der bereits erwähnte Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten in seiner «Aesthetica» in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass die Schönheit eines Kunstwerkes damit zu tun hat, wie es sich darstellt, und nicht so sehr damit, was es darstellt.
Ja, kalter Kaffee, aber immer noch wärmstens zu empfehlen, wenn Sie an die an Schwindsucht leidende Literaturkritik denken, die sich, wenn überhaupt, nur noch nebulös daran erinnert, dass Literatur sich vor allem durch ihr poetisches Verfahren auszeichnet.
Zu diesem Wie gehört die Frage: Wer erzählt, wer hat das Sagen? Das ist keine literaturtheoretische Frage, sondern die entscheidende Frage nach der Macht; das heisst zum einen: Wer hat die Autorität, wer hat das Sagen? Und zum zweiten: Wer hat die Fähigkeit zu erzählen, wer kann erzählen und wer nicht?
In Fleissers Prosa erzählt die erwachsene Erzählerin in der Sprache der Jugendlichen, sie wird im Erzählen wieder zur Beteiligten und vollzieht so, in dieser unmittelbaren Erzählweise, noch einmal die Grausamkeit, Rohheit dieser damaligen Welt, indem sie sie sinnlich erfahrbar macht – denn: Dramatisch ist, was dem Körper widerfährt. Und alles mündet, vor den sehenden Augen der Jugendlichen, in eine fatale Ausweglosigkeit: «Ich wusste, das nahm ein schiefes Ende. Man durfte sich nicht darein mischen. Ich war traurig und stumm.»
Diese damalige Welt ist also definiert vom Hinnehmen-Müssen, alles läuft nach einem vorgeprägten, autoritären Muster ab, indem die Jugendlichen nichts zu sagen haben. Im Gegenteil: «‹Protestanten kommen nicht in den Himmel›, sagte Olga laut und musterte Erna. Erna wurde dunkelrot.»
Die Jugendlichen greifen auf den von den Autoritäten gelernten Kulturschutt zurück und festigen ihrerseits die gesellschaftliche (Hack-)Ordnung, unter der sie selbst leiden. «Erna schimpfte: ‹Die Rothaarigen kennt man›» heisst es an einer anderen Stelle, Erna, die soeben noch von Olga gedemütigt worden war. Urteile, Zurichtungen, Befehle – die gesellschaftliche Macht und Gewalt prägt die Welt der Jugendlichen bis ins Innerste, formt ihre Körper und Seelen. Genau davon erzählt die Erwachsene, die dieser Welt nicht mehr ausgeliefert ist, sie ist nicht mehr stumm wie damals, sie kann erzählen; obwohl das Geschehen die Erzählerin immer noch bedrängt – «Ich höre noch wie heute den Wind in den Kastanien klatschen» –, ist das verdichtete Erzählen in schroffen, kantigen Schnitten eine emanzipatorische Gegenbewegung zum so Erzählten, zu damals, als die Jugendliche keine Stimme hatte, keine Stimme zu haben hatte.
Wer hat das Sagen? – Die Wichtigkeit dieser Frage kann nicht genügend ermessen werden. Die grundlegende Konsequenz dieser Frage zu verstehen, heisst anzuerkennen, dass Sprache nie neutral ist. Für die Meinungslenkung nutzbar gemachte Sprache ist, da ihre Absicht offensichtlich, also hörbar ist, weniger gefährlich als jene Sprache, die sich ständig als neutral und transparent ausweist oder stillschweigend davon ausgeht, dass sie neutral und transparent ist. Davon wird in der nächsten Vorlesung eingehender die Rede sein – wie die Sprache zur Sprache kommt.
Wer hat das Sagen? An dieser Stelle ist ein kurzer Abstecher in die literarische Öffentlichkeit notwendig, ins Feld der Literaturkritik – und ich werde die Tonart wechseln, um einen Halbton erhöhen, das kann nur gut sein, da sich Ihre Ohren, um der Wachsamkeit willen, nicht allzu sehr an meinen Grundton gewöhnen sollten; ich muss, zum Einstieg, vom Mantelgeschäft sprechen. Denken Sie bei «Mantel» bitte nicht an ein längeres Übergewand mit Ärmeln zum Schutz gegen Regen, Schnee oder sogar Schmutz; denken Sie daran, was Sprache alles leistet, wenn der Mantel sich zum überregionalen Teil einer Tageszeitung transformiert. Kein Kleidungsstück ist davor gefeit, als Ausdruck einer unerfreulich zu nennenden Entwicklung herhalten zu müssen. Mantel her!, und die medialen Grossgrundbesitzer sind nicht etwa ins Mantelgeschäft eingestiegen, um irgendwas oder irgendwen wärmend zu ummanteln, wie es das schöne Wort «Mantel» verspricht, nein, das Mantelgeschäft ist, ich sage es offen, ein schamloses Geschäft, um weiterhin maximal zu profitieren – ein Deckmantel, ein Euphemismus für Entlassungen en masse, der (Kultur-)Journalismus wird ausgehungert, stattdessen investiert man lieber in, sagen wir mal, Wüstenspringmäuse, Mäntel aller Art oder Slogans: «An der Spitze ist es einsam, kleiden Sie sich trotzdem gut!»
Und die Kunstkritik, die Literaturkritik? Ist natürlich ein äusserst unlukratives, glanzloses Geschäft (geworden), man muss Tod durch Monotonie befürchten, die Stimme eines Kritikers wird schon seit längerem multipliziert, vom TA zur BZ zum «Bund» zur BaZ (bald) – und selbstredend alles nicht nur auf Papier, sondern auch online plus auf allen sozialen Medien. Überregionale Vielfalt in der Einfalt, könnte man sagen.
Wie begegnen nun die verbleibenden Herren Kritiker (sie sind es in der Mehrzahl) der Ummantelung und in der Folge dem dauernden Überdruck? Sie sind, das darf man ruhig sagen, heillos überfordert. Haben sie soeben noch einer entlassenen Kollegin zum Abschied gewinkt, machs guet!, müssen sie schon wieder ein 500-seitiges Buch besprechen. Geplagt von einem Dauerschluckauf, lassen sie den Daumen hochschnellen, dann wieder runter, und dazwischen ein Satz wie: Autor XY «hat geliefert».
Die gehetzten Kritiker, die Mantelplage hat sie erwischt, und die Vervielfältigung ihrer Stimme freut sie gar nicht so richtig. Und die Literatur? Braucht zu viel Zeit (für wenig Geld) – da bleiben eben nur der Daumen und die Angst, dass man beim nächsten Deal selbst den Hut nehmen muss.
Umso grösser mein Respekt vor allen Kritikerinnen und Kritikern, die nicht manisch der verordneten Aushungerung der Kunst hinterherhecheln, sondern Rückgrat haben, im Wissen um die Wichtigkeit ihrer klugen und unentbehrlichen Vermittlungsarbeit.
Die Erweiterung der Ohren
Ich bin, wie Sie erfahren haben, eine Leserin, eine, die daran glaubt, dass Lesen eine Kunst ist. Eine Kunst der Zuwendung. Lesen und Schreiben, Sie werden das nicht zum ersten Mal gehört haben, sind ein unzertrennliches Paar, und ich habe Ihnen erzählt, wie ich zum Lesen gekommen bin, und nicht, wie ich Schriftstellerin geworden bin.
Und so habe ich Ihnen erzählt, dass ich ohne das Lesen nie Schriftstellerin geworden wäre, und das ist doch entscheidend.
Nun möchte ich Ihnen noch ein Beispiel geben, wie die Ohren während des Schreibens der «Dunkelkammer» wirksam geworden sind, obwohl: Wirksam werden bedeutet nicht, dass dieses Wie während des Schreibens bewusst ist. Nur zu einem Bruchteil ist es bewusst; das poetische Verfahren geschieht in einem Schwebezustand zwischen Wissen und Nichtwissen. Nur wenn ich mich diesem Schwebezustand überlassen kann, bin ich auf eine schwer zu erklärende Art aufmerksam, die Sinne aber, dessen bin ich mir sicher, spielen eine wichtige Rolle in dieser Innenwelt, die die Vernunft, die Erinnerung oder das Gedächtnis und die Vorstellungskraft umfasst.
Während des Schreibens höre ich zu, mit dem inneren Ohr, und von allem Anfang an hat das Ohr ein untrügliches Gefühl für den Rhythmus des Geschriebenen, die zeitliche Gliederung der Satzelemente; der Klang eines Wortes, eines Satzes erklingt stumm, das heisst im geistigen Ohr, und wird auf seine Stimmigkeit geprüft («Wir reden von der innern, notwendigen Genesis eines Worts, als dem Merkmal einer deutlichen Besinnung», schreibt Herder). Vor allem mit dem Ohr erfahre ich, ob das Wort in der Abfolge seiner Vokale stimmt. Die Vokale, daran sei erinnert, sind Räume; Herder nennt sie «das Erste und Lebendigste und die Türangeln der Sprache». Es ist entscheidend, ob ein Wort ein rundes «o» braucht oder ein hoch aufschiessendes «i». Oder ein helles «a» wie bei «Kammer». Das doppelte «a» der Dachkammer, von der Sie bereits gehört haben, wurde mir während des Schreibens und Mithörens zu hell, und so wurde sie, im Laufe der Zeit, des Fortschreibens, zur Dunkelkammer, weil es in dieser Kammer, um die es sich handelt, nie wirklich hell wurde; so kam ich, unvorhergesehen, auf den aus der camera obscura entlehnten Begriff der Dunkelkammer, der im heutigen Sprachgebrauch einen «schwach erhellten Raum zum Arbeiten mit lichtempfindlichen Stoffen» meint.
Für die Arbeit mit den Buchstaben ist (neben dem Ohr-Vertrauen) vor allem ein unsichtbarer Stoff notwendig: die Imagination – und das Gebiet jenseits der Imagination.
Dunkelkammer*
Jene Zeit im Dunkeln – dunkel ist das Stirnrunzeln des Vaters, die gleichförmigen Tage, der Mund: stumm – jene Zeit im Dunkeln – eine Zeit ohne Zeitgefühl, verbunden mit einem Geruch, säuerlich, kalt, aber nicht frisch, schattige, feuchte Wände, Spielzeug aus dickem Plastik, ein Geruch ohne Ausweg, der Jahre später in einer Schublade sitzt, eine schmale, unscheinbare Küchenschublade, vollgestopft mit Krimskrams, Schnur, Schere, Korken, Stoffresten, Papierschnipseln, ein paar Zigaretten – warum soll dieses zusammengewürfelte Zeug dafür verantwortlich sein, dass sich alles im Wirbel dreht, es einen Augenblick lang finster wird? –
Vater, er wickelt sie aus dem Vorhang (kindliches, nutzloses Versteck), packt sie in seine Arme, Mutter? fehlt, hat sich vermutlich versteckt, im Schlafzimmer in die Decke vergraben –
ein schnauziger, junger Mann, Vater, fährt los, nachts, im dunkelgrünen Ford Taunus, hinten, zwischen der hinteren Sitzreihe und dem Vordersitz kauernd, ich, Sonntagabend, im Blick das Glühwürmchen, das sich am Steuerrad hin und her bewegt, Muratti Ambassador, Blitzlichter und der aufwirbelnde Rauch, das Köfferchen auf dem Hintersitz, vielleicht spricht Vater, vermutlich spricht er Worte, auf Ungarisch, «kis anyám», «meine kleine Mutter», die tapfer sein muss, und er parkiert seinen Ford auf dem Vorplatz, das Haus, es ist zweistöckig –
im Korridor, vor zwei faltigen Gesichtern, es riecht, aber das Kind steht nur da, mit dem Köfferchen, sagen die beiden etwas? sag doch was, bleib doch nicht da stehen! sagen sie vermutlich, aber es bleibt unverstanden; und sie sagt nichts, weil sie weiss, dass es unverstanden bliebe, Ohren, die hören, wie Vater die Wagentür zuschlägt, Gas gibt (er fährt in die Zukunft, sein Montagmorgen beginnt um drei Uhr nachts) –
das Zimmer ist eine Dachkammer, wach liegen, im Gitterbett, und die Tür zur Treppe ist geschlossen, ein Finger fährt von einem Gitterstab zum nächsten, befühlt die Luft zwischen den Stäben, das Gesicht zur Dachluke gedreht, die Öffnung hin zum Nachthimmel, der das Kind immer noch kennt und dem sich das Kind anvertraut, sich zuwendet, in einer tauben Angst.
Die Frage, die sich viel später stellt, beim Öffnen der Schublade: ob man den Gerüchen und dem Ohr entlangschreiben müsste, zu einer Sprache jenseits des Willens (und des Besitzes), eine Bewegung ins Unbekannte, hin zum Abwesenden.
Melinda Nadj Abonji ist eine der wichtigsten Stimmen der Schweizer Gegenwartsliteratur. Im Jahr 2010 wurde sie für ihren Roman «Tauben fliegen auf» mit dem Deutschen Buchpreis und dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Der Roman erzählt vom «Gastarbeiter»-Leben in der Schweiz und von einer Sommerreise in die heute serbische Vojvodina, die in atmosphärisch dichten Schilderungen die Vorboten der Jugoslawienkriege spürbar werden lässt.
2017 erschien ihr Roman «Schildkrötensoldat», der mit dem Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank ausgezeichnet wurde. Das Werk erzählt die Geschichte von Zoltán Kertész, einem Jungen aus der Vojvodina, der «nicht ganz richtig im Kopf» ist, sich auf seine Weise aber dem Krieg und der gesellschaftlichen Ordnung verweigert. Und von seiner Cousine Hanna, die zwar depressiv und mit Medikamenten sediert ist, aber Zoltán – und der Literatur – die Treue hält.
Die Zürcher Poetikvorlesungen finden seit 1996 statt und wurden von Schriftstellerinnen wie Herta Müller, Brigitte Kronauer, Lukas Bärfuss oder Durs Grünbein gehalten. Sie werden begleitet von den ebenfalls öffentlichen Werkstattgesprächen. Die Republik publiziert die Manuskripte der drei diesjährigen Poetikvorlesungen von Melinda Nadj Abonji in leicht gekürzter Form.
Zürcher Poetikvorlesungen mit Melinda Nadj Abonji
Im Literaturhaus Zürich begann am 8. November die dreiteilige Reihe der Poetikvorlesungen. Auf Teil I, «Zu Ohren kommen», folgt am 15. November (20 Uhr) Teil II: «Aus einem Hund wird kein Speck». Teil III, «Worte, nach Luft schnappend», beschliesst am 22. November (20 Uhr) die Reihe.
Die Poetikvorlesungen werden in Kooperation mit dem Deutschen Seminar der Universität Zürich durchgeführt. Jeweils am Freitag (16./23. November) nach den Veranstaltungen im Literaturhaus findet von 10.15 bis 12 Uhr am Deutschen Seminar (Schönberggasse 9, 8001 Zürich) ein Kolloquium statt, in dem Melinda Nadj Abonji mit Studierenden und Interessierten über ihre Texte spricht. Auch diese Kolloquien sind öffentlich.