Auf lange Sicht

Warum es Frauen so selten an die Spitze der Wirtschaft schaffen

In Verwaltungsräten sind Frauen immer besser vertreten. Doch im Tagesgeschäft der Konzerne geben weiterhin Männer den Ton an.

Von Philipp Albrecht und Andrea Arezina, 10.06.2019

Peter Brabeck, ehemaliger Nestlé-Chef, wurde einmal gefragt, warum es in seiner Konzern­leitung so wenig Frauen gebe. Schuld seien die Gatten der Managerinnen, soll er behauptet haben. Die würden für die Ehefrau nicht in ein anderes Land umziehen wollen. Und wenn man es bei Nestlé ganz nach oben schaffen wolle, müsse man eben standort­technisch flexibel sein.

Die Anwesenden waren sich nicht ganz sicher, ob das wirklich ernst gemeint war.

Unbestritten ist, dass es der Wirtschaft an weiblichen Entscheidungs­trägern mangelt. Für durch­mischtere Teppich­etagen wird bereits einiges unter­nommen: Kinder­krippen werden eingerichtet, Förder­programme aufgezogen und Motivations­panels durchgeführt. Mit bisher überschau­barem Erfolg.

«Der Verwaltungsrat wird weiblicher», titelte zwar eine Zeitung kürzlich und zitierte eine Erhebung der Rekrutierungs­firma Russell Reynolds Associates, wonach aktuell 27 Prozent der Verwaltungsrats­mandate in den 20 grössten börsen­kotierten Unter­nehmen von Frauen besetzt seien. Rekord!

Männerrunde im Steuerraum

Doch das Problem ist: Es bringt wenig, wenn bloss Verwaltungs­räte weiblicher werden. Wichtiger ist das Top­management. Solange nicht auch Geschäfts­leitungen einen höheren Frauen­anteil aufweisen, ist wenig erreicht.

Die Geschäftsleitung ist die Schaltzentrale, der Steuerraum jeder Firma. Hier werden die wichtigen Entscheide getroffen, um den Tanker auf Kurs zu halten. Das oberste Kader bezieht die höchsten Löhne und bekommt die grösste mediale Aufmerksamkeit.

Zurzeit beträgt der Frauenanteil in Geschäfts­leitungen nur gerade 9 Prozent. Das zeigt eine Auswertung der Gewerkschaftsdachorganisation Travailsuisse. Sie beobachtet seit 2002 bei 26 grossen Schweizer Unter­nehmen die Entwicklung des Frauen­anteils in Verwaltungs­rat und Geschäfts­leitung. Auf der Ebene des Verwaltungs­rats liegt der Anteil immerhin schon bei 26 Prozent.

Die Quotenschere

Frauenanteile bei 26 grossen Schweizer Arbeitgebern

20022010201826 % Verwaltungsrat9 % Geschäftsleitung01530 %

Quelle: Travailsuisse

Zwischen dem Frauenanteil auf der Ebene der Geschäfts­leitung und jenem in Verwaltungs­räten ist in den letzten Jahren also eine Schere aufgegangen.

Die gängigste Erklärung dafür lautet: Frauen werden irgendwann schwanger und setzen nach der Geburt eines Kindes die Prioritäten anders – weshalb sie es nur selten in den operativen Führungs­zirkel eines Unter­nehmens schaffen. Strategische Aufgaben übernehmen, meist im Teilzeit­pensum: Dies entspreche eher ihren Wünschen und Möglichkeiten.

Doch zunehmend macht unter Experten eine realistischere These die Runde. Eine, die für männliche Führungs­typen weniger schmeichelhaft ist: Die Rekrutierung von neuen Mitgliedern der Geschäfts­leitung ist meist Sache des CEO, und der ist in den allermeisten Fällen ein Mann. Weil dieser meist Leute aus seinem Netzwerk holt, finden praktisch keine Frauen den Weg ins Topmanagement.

Man hält sich eben vorzugsweise unter seines­gleichen auf. Bei aufstrebenden Manager­typen führt das oftmals zu einem Netz­werk aus Studien­freunden, Golfclub­kollegen und Feierabendbier-Buddys.

Karrierestopp auf der zweitobersten Stufe

Die These klingt plausibel. Denn Geschäfts­leitungen funktionieren anders als Verwaltungs­räte. Hier werden neue Mitglieder vom gesamten Gremium vorgeschlagen und von den Aktionären gewählt. Der Frauen­anteil lässt sich dadurch viel einfacher erhöhen als im Management. Öffentlicher Druck spielt dabei eine Rolle: Weltweite Gross­investoren wie Blackrock, Vanguard oder die norwegische Zentral­bank fordern zunehmend eine nach­haltige Personal­rekrutierung. Dazu zählt auch die Diversität im Verwaltungsrat.

«Firmen reagieren und werden dort besser, wo Druck ausgeübt wird», sagt Matthias Ober­holzer, Schweiz-Chef von Russell Reynolds, der als Head­hunter Führungs­personal für Firmen anwirbt. «Den Druck gibt es allerdings nur auf Ebene des Verwaltungs­rats, nicht auf Ebene der Geschäfts­leitung.»

Der mangelnde Wille, Diversität in Geschäfts­leitungen durchzusetzen, dürfte also ein Grund dafür sein, dass Frauen es selten ganz an die Spitze schaffen. Sondern öfter auf einer Stufe unmittelbar darunter stecken bleiben.

Dass Frauen unterhalb der Geschäfts­leitung besser vertreten sind, illustriert die folgende Grafik. Sie stammt aus dem Schilling­report, einer Auswertung des Zürcher Personal­beraters Guido Schilling. Die Grafik zeigt, wie viele Firmen jeweils eine bestimmte Frauen­quote auf einer Management­stufe erreichen – es handelt sich also um eine Häufigkeits­verteilung der Firmen.

Zum Beispiel auf der Stufe Geschäfts­leitung (dunkelblau), der obersten Stufe. Hier ist diese Verteilung der Firmen links­schief. Das heisst: Ein hoher Anteil der Firmen (40 Prozent) hat überhaupt keine Frau in der Geschäfts­leitung. Jeweils 20 Prozent der Firmen haben nur 10 oder 20 Prozent Frauen in der Geschäfts­leitung; nur 2 Prozent der Firmen haben einen Frauen­anteil von 50 Prozent und damit eine nach Geschlechtern ausgeglichene Geschäfts­leitung.

Anders ist dies auf der Stufe oberes Kader (mittelblau): Am häufigsten vertreten sind Firmen, die einen Frauen­anteil von 10 bis 20 Prozent aufweisen. Nur jede zehnte Firma hat einen Anteil von 0 Prozent Frauen. Zum Vergleich ist schliesslich der Frauen­anteil in der Gesamt­belegschaft dargestellt (hellblau). Hier ist die Verteilung ziemlich ausgeglichen. Am häufigsten sind hier Firmen vertreten, die 50 Prozent erreichen.

Je höher die Ebene, desto weniger Frauen

Verteilung der Firmen nach Frauenanteil und Managementstufe

Geschäftsleitung
Oberes Kader
Belegschaft
0%10%20%30%40%50%60%70%80%0 %0 %3 %02040 % Anteil der Firmen

Quelle: Schillingreport. Lesebeispiel: Der Anteil der Firmen, die im Topmanagement einen Frauenanteil von 10 bis 20 Prozent erreichen (horizontale Achse), beträgt knapp 40 Prozent (vertikale Achse). Die Stufe «oberes Kader» heisst im Report «Topmanagement». Wir haben sie umbenannt, weil wir in diesem Text den Begriff Topmanagement synonym für die Geschäftsleitung verwenden.

Dass es Druck von aussen braucht, damit sich in den Firmen etwas bewegt, zeigt auch das Beispiel der Aktionärs­vereinigung Actares. Sie fordert seit 2018 konsequent einen VR-Frauenanteil von 30 Prozent oder mindestens drei Personen. «Wir lehnen männliche Kandidaten bei Neuwahlen ab, wenn der Frauenanteil kleiner ist», erklärt Actares-Ehrenpräsident Rudolf Meyer. «Wenn der Wille da ist, Frauen zu rekrutieren, dann findet man sie auch.»

Zu viele Frauen in der «Servicefunktion»

Immerhin, eine gute Nachricht: Seit kurzem existiert unter den 20 wert­vollsten Schweizer Börsen­konzernen erstmals ein Verwaltungsrat mit fast so vielen Frauen wie Männern. Die Zurich Insurance Group hat seit der Wahl von Ex-Alpiq-Chefin Jasmin Staiblin einen rekord­hohen Frauen­anteil von 45,5 Prozent. Sogar in der Geschäfts­leitung kommt sie auf 36,5 Prozent.

Aber eben, der Durchschnitt über alle Firmen liegt bei nur 9 Prozent.

Ein weiteres Ergebnis aus dem Schillingreport lässt diese Zahl sogar noch mickriger erscheinen. Es bezieht sich auf die Funktion der Frauen und Männer innerhalb von Geschäfts­leitungen. «Nur 40 Prozent der weiblichen Geschäftsleitungs­mitglieder sind in einer klassischen Business­funktion tätig», steht im Vorwort des Berichts. «60 Prozent bekleiden eine Service­rolle wie etwa im HR (Human Resources) oder in der Kommunikation.»

Nur Servicepersonal

Rollenverteilung in Geschäftsleitungen

Businessfunktion
Servicefunktion
Männer64 % 36 % Frauen40 % 60 %

Quelle: Schillingreport

Das ist gleich doppelt problematisch. Personal und Kommunikation sind erstens Abteilungen ohne sogenannte Profit-and-loss-Verantwortung. Sie haben also in der Regel kein Budget und leisten keinen messbaren Gewinn­beitrag. Auch wenn es Frauen an die Spitze dieser Bereiche schaffen: In der Geschäfts­leitung spielen sie vielfach nur die zweite Geige.

Zweitens haben längst nicht alle grossen Firmen eine HR- oder Kommunikations­position in der Geschäfts­leitung. Die Chancen, aus dieser Funktion heraus CEO zu werden oder überhaupt in die Geschäfts­leitung aufzusteigen, schwinden dadurch noch mehr. Ein Teufels­kreis.

Bescheidenheit ist ein Karrierekiller

Männer­netzwerke sind jedoch nicht der einzige Grund für den Frauen­mangel in Geschäfts­leitungen. An der HSG, der wichtigsten Kader­schmiede im Land, ist jede dritte Studierende der Wirtschafts­wissenschaften eine Frau. Tendenz steigend. Gudrun Sander, Leiterin des dortigen Kompetenz­zentrums für Diversity und Inklusion, beobachtet, dass der Frauen­anteil sogar übers Doktorat hinaus hoch bleibt. Bei anderen Fächern sei das nicht so.

Doch dann würden Frauen irgendwo im mittleren Kader hängen bleiben. Dies aus verschiedenen Gründen. Einer davon: Frauen würden sich bei Bewerbungen auf Kader­stellen viel mehr Gedanken machen als Männer. «Frauen bewerben sich generell erst, wenn sie beim Anforderungs­profil hinter jeden Punkt ein Häkchen setzen können», sagt Sander. «Männern reicht ein Häkchen hinter 7 von 10 Punkten, damit sie sich bewerben.»

Headhunter verzweifeln mitunter an der Aufgabe, genug Kandidatinnen für hohe Positionen zu finden. Hoch bedeutet hier eine Stelle im oberen Kader eines der 100 umsatz­stärksten Schweizer Unternehmen, wo der Jahreslohn mindestens eine Viertel­million Franken beträgt. Matthias Oberholzer von Russell Reynolds erzählt, dass seine Kundschaft zuweilen wünschte, dass 30 bis 40 Prozent Frauen auf der Longlist für eine Position stehen. Dies gelinge aber nur mit grosser Kreativität: «Immer öfter müssen wir in den Benelux­staaten oder in Skandinavien nach Kandidatinnen suchen.»

Seit ein paar Jahren ist es in grossen Firmen Usus, einen Chief Technology Officer in die Geschäfts­leitung zu berufen. Doch in der Technologie sind Frauen sogar noch deutlicher unter­vertreten als in anderen Bereichen. Für einen Kunden habe Oberholzer unlängst einen neuen Global Head of IT gesucht. Es hätte für ihn sogar einen Zuschlag gegeben, wenn letztlich eine vorgeschlagene Frau den Posten bekommen hätte. Obwohl er «jeden Stein umgedreht» habe, liess sich aber keine einzige Kandidatin mit der passenden Qualifikation und Branchen­erfahrung für den Job finden.

Softie-Lösung der Schweizer Politik

An der Politik sind diese Umstände nicht vorbei­gegangen. Doch der Weg ist holprig. Nächste Woche befindet der Ständerat über die umstrittene Quoten­frage. Vor einem Jahr hatte der Nationalrat mit einer einzigen Stimme Unterschied beschlossen, dass in Verwaltungs­räten mindestens 30 Prozent und in Geschäfts­leitungen 20 Prozent Frauen Einsitz nehmen sollten.

Doch die zuständige Kommission des Ständerats hat Mitte Mai den Geschlechter­richtwert nach den zwei Bereichen weiter differenziert. Für Geschäfts­leitungen will sie nun nichts mehr von einer Mindest­empfehlung wissen. FDP-Ständerat Andrea Caroni nennt es einen «politischen Kompromiss». Bei Geschäfts­leitungen sei der Auswahl­pool eben kleiner.

Der Entscheid fiel hauchdünn – eine Stimme machte auch hier den Unterschied. Ein Blick auf die Mitglieder­liste zeigt: In der 13-köpfigen Kommission sitzt mit CVP-Ständerätin Anne Seydoux nur eine einzige Frau. Sie unterlag – zusammen mit den linken Vertretern und Parteikollege Beat Vonlanthen. Gut möglich, dass sie wieder unterliegen, wenn der Ständerat am 19. Juni über die Richtwerte in Schweizer Unternehmen abstimmt.

Dabei ist der Begriff «Quote» ohnehin irreführend. Anders als in den Nachbar­ländern der Schweiz sowie in Belgien, Holland, Norwegen und Finnland, wo teilweise harte Quoten gelten, wird in der Schweiz ein sogenannter Comply-or-explain-Ansatz verfolgt. Das heisst: Wer den Richt­wert nicht erfüllt, muss nicht mit Sanktionen rechnen, sondern einzig im Vergütungs­bericht Gründe und Verbesserungs­massnahmen aufführen.

Die Wirtschaft geht unterdessen eigene Wege. Bei Nestlé zum Beispiel stellte der neue Chef Mark Schneider im März einen Aktionsplan vor. Bis 2020 soll der Frauen­anteil in den 200 wichtigsten Führungs­positionen von heute 20 auf 30 Prozent gehievt werden. Die sonderbare Ehemänner­theorie von Ex-Chef Peter Brabeck gilt bei Nestlé also offensichtlich als überholt.

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