Café Europa – Folge 3

Wo die wilden Kerle nicht mehr wohnen

In Zagrebs Kino Europa hält man Europas Werte hoch. Auch wenn sie einen noch so sehr zum Korinthenkacker machen. Serie «Café Europa», Folge 3.

Von Solmaz Khorsand (Text und Bilder), 17.05.2019

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«Café Europa», Folge 3: Wo die wilden Kerle nicht mehr wohnen
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So ein Name kann schon eine Bürde sein. Sechs Buchstaben muss Bojan Tišljar Tag für Tag gerecht werden. In bunten Farben leuchten sie ihm von der Fassade seines Arbeits­platzes entgegen: E-U-R-O-P-A.

Tišljar rührt in seinem Espresso. Er sitzt in der Varšavska ulica 3, einer schattigen Seiten­gasse des Petra Preradovića trg, eines Platzes in der Zagreber Altstadt.

Es ist die Adresse des Kino Europa.

Zur Serie «Café Europa»

Ist dort, wo Europa draufsteht, auch Europa drin? Die Reporterinnen Solmaz Khorsand und Michael Kuratli haben Lokale aufgesucht, Cafés, Restaurants, Imbisse und Kinos, die «Europa» heissen – wie der Kontinent. Sie zeigen ihn in seiner Vielfalt. Und gelegentlich in seiner Einfalt. Willkommen in den Cafés Europa dieses Kontinents. Entscheiden Sie selbst, ob Sie weiterziehen oder verweilen wollen.

Bauarbeiter trinken hier mittags ihr erstes Bier auf der Terrasse des Kinocafés. Neben ihnen ziehen Mädchen an langen dünnen Zigaretten und prahlen in akzentfreiem Netflix-Englisch mit der toughness und der Brüderlichkeit auf dem Balkan, während drinnen ältere Damen im Trenchcoat an der Kinokasse stehen und ungeduldig darauf warten, dass sie endlich aufmacht.

Tišljar, 27, schmale Statur, Ziegenbart und Männerdutt, ist hier Event­manager. Vor sieben Jahren hat er in Kroatiens berühmtestem Kino als freiwilliger Helfer angefangen, Tickets kontrolliert, in der Bar mitgeholfen, Popcorn gemacht. Heute kümmert er sich um das Programm, achtet darauf, dass für jeden etwas dabei ist, Matineen für die Intellektuellen, pädagogisch Anspruchs­volles für die Kinder, ein bisschen Verquirltes aus Hollywood und dann natürlich ganz viel Trauriges, Abstraktes und Verwirrendes aus Europa. Während andere Kinos an den Haupt­strassen der Stadt leer stehen oder zu Einkaufs­zentren umgebaut wurden, hält das «Europa» mit seinen zwei Sälen und dem Café wacker die Stellung. Und das seit 1925.

Faire Gehälter, transparente Abläufe und wahres Können: Bojan Tišljar setzt im Kino Europa auf EU-Werte.

Europa. Täglich hört Bojan Tišljar den Trommel­wirbel, den diese sechs Buchstaben mit sich bringen: Professionalität, Stabilität, Ordnung, Regeln, Transparenz und Fortschritt. «Das ist für mich Europa», sagt er. Und wo Europa draufsteht, muss auch Europa drin sein. Im Grossen in Brüssel so wie im Kleinen in der Varšavska ulica 3. Im Kino bedeutet es faire Gehälter, transparente Abläufe und wahres Können. Keiner soll hier angeheuert werden, nur weil der Neffe eines Onkels eines Freundes seinem Spezi einen Gefallen schuldet. Kein Unter-der-Hand. Kein «Machen wir schon». Kein «Lass uns beide Augen ganz fest zudrücken».

Noch nicht einmal geraucht wird hier drinnen, und das in Zagreb, wo überall geraucht wird. Es ist ein klares Statement. Denn hier, in der Varšavska-Strasse, herrscht Europa. Diese sechs Buchstaben sollen die Richtung vorgeben.

Nicht die anderen sechs, die bis 1991 auf dem Dach des Kinos zu lesen waren:
B-A-L-K-A-N.

«Das ist der richtige Name des Kinos», murrt Ranko Bon. Jeden Tag kommt der «Professor», wie ihn die Mitarbeiter des Kinos nennen, in das Café im Vorraum zu den zwei Kinosälen. Mit den weissen, akkurat geschnittenen Haaren sieht der 72-Jährige aus wie der Grossvater eines James-Bond-Bösewichts. Jeden Tag sinkt Ranko Bon zwischen bärtigen Jungvätern, die ihre Neugeborenen wie Accessoires an die Brust geschnallt haben, und rüstigen Frauen, die gemeinsam ein paar Espressi kippen, in einen der tiefen, bandscheiben­unfreundlichen Fauteuils, bestellt ein Bier und verschanzt sich hinter seinem Laptop.

«Kroatien ist Teil des Balkans, aber die Kroaten hören das nicht gerne»: Ranko Bon.

«Der richtige Name lautet Kino Balkan», wiederholt er. Zum Beweis klappt er seinen Laptop auf, scrollt durch eine Seite und zeigt nach ein paar Sekunden auf einen Beitrag. Vier Millionen Worte hat er bereits in diese Seite getippt, ein paar Dutzend zum Kino Europa. Bis 1991, dem Jahr, als Kroatien seine Unabhängigkeit erklärte, hiess es noch Kino Balkan. Mit der Loslösung aus der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien folgte auch für das Kino der Blick gen Westen. Es war Teil des nationalen Wiedergeburts­mythos unter dem neuen Präsidenten Franjo Tudjman. Alles, was an Jugoslawien erinnerte, sollte aus Strassen­schildern, Geschäften und so aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt werden. Jugoslawien, der Balkan, das waren die anderen, so die Propaganda. Sie wirkte. Bis heute. «Kroatien ist Teil des Balkans, aber die Kroaten hören das nicht gerne», sagt Bon.

Warum die und nicht wir?

Ranko Bon ist ein Kind dieses Balkans. Geboren 1946 in Zagreb, aufgewachsen in Belgrad. Sein Vater war der Architekt Branko Bon, Josip Titos Lieblings­architekt, berühmt unter anderem für seinen Palace Albanija in Zentrum von Belgrad, den ersten Wolken­kratzer Jugoslawiens. Mit 24 Jahren verliess sein Sohn Ranko Belgrad. Er zog zuerst nach England, später in die USA, wo er an den Elite­universitäten Harvard und MIT Ökonomie unterrichtete. Während der Jugoslawien­kriege war er im Ausland. Seit ein paar Jahren lebt Bon wieder in Zagreb, der Liebe willen. Während seine Freundin arbeitet, schlägt er im «Europa» die Zeit tot. «Die Kroaten sind wütend darauf, was im Balkan passiert ist, und würden sich jetzt lieber als Europäer sehen», erklärt er.

Seit Juli 2013 ist Kroatien Mitglied in der Europäischen Union, das jüngste der Gemeinschaft. Gekränkt hat es viele Kroaten, dass sie nicht schon 2004 der EU beitreten konnten wie etwa die Tschechen, Polen, Slowaken und vor allem die Slowenen, die Muster­schüler Ex-Jugoslawiens; oder zumindest 2007 mit Bulgarien und Rumänien, den Armen­häusern des Kontinents. Mit Transparenz und Unbestechlichkeit nahm es Kroatien allemal so genau wie diese beiden Länder.

Eine Kolonie der EU

Milch und Honig würden fliessen, hätten die Politiker versprochen, erzählen Nina und Mejra. Zugang zu den Milliarden der EU-Fonds würde man kriegen, habe es damals geheissen, Investoren würden ins Land kommen, habe es geheissen, man wäre endlich im Club angekommen, im Westen, habe es geheissen. Die zwei Mittvierzigerinnen lachen, wenn sie an die Versprechungen vor Kroatiens EU-Beitritt denken. Sie sitzen draussen auf der Terrasse des Kinos und rauchen. Es ist ihr Stammcafé. Mejra, blond gefärbte Mähne und blutroter Lippenstift, Nina, Mama-Bob und Tschibo-Schal, sind Künstlerinnen.

Auf dem Papier mögen all die Versprechungen stimmen. In der Realität sieht es anders aus. Personen­freiheit gilt für die Kroaten begrenzt. Nur mit einem Bein sind sie in der EU, an der Grenze zu Slowenien müssen sie immer noch ihren Pass vorzeigen. Und wie sieht es mit der viel beschworenen Transparenz und der Stärkung der Institutionen aus? Am Ende, finden die beiden Frauen, würden dann doch nur die Freunde von Freunden bei der Vergabe von Aufträgen begünstigt werden. Oder eben die Ausländer.

«Wir sind eine Kolonie der EU», sagt Mejra. An der Küste, in Istrien, wo sie ein Haus hat, spürt sie das besonders. Seit ein paar Jahren lassen sich dort im Sommer Engländer, Franzosen und immer mehr Skandinavier nieder. «Zuerst haben wir uns gefreut über die Ausländer. Aber sie behandeln uns von oben herab, als wären wir ihre Arbeiter», sagt Mejra.

Wo sind denn all die Leute?

Auf Milch und Honig warten sie immer noch. Die Privatisierungs­welle nach der Unabhängigkeit, in der zahlreiche Staats­betriebe veräussert wurden, hat viele Kroaten und Kroatinnen den Job gekostet. Die Auswirkungen spüren sie bis heute. Mit der Finanzkrise von 2008 wurde das Land noch einmal stark gebeutelt. Und klar hätten sich die Dinge seit dem EU-Beitritt geändert, finden Nina und Mejra. Die Arbeits­losigkeit ist gesunken. Sie liegt nicht länger bei knapp 17 Prozent, wie beim Beitritt, sondern irgendwo bei 7 Prozent. Aber das nur, weil viele weggehen. Weil sie es jetzt können.

Fast eine halbe Million leben im EU-Ausland, die meisten in Irland, Deutschland und Österreich. Von einem Exodus sprechen die Politiker. 450’000 Auswanderer machen schon etwas her in einem Land mit 4 Millionen Einwohnern. «Wenn 2 Millionen Polen das Weite suchen, spürt das keiner. Die haben auch 40 Millionen. Hier ist es wie ausgestorben, wenn ein paar tausend plötzlich weg sind», meint ein Gast vom Nebentisch.

Verübeln tut es den Auswanderern niemand. Denn wer will schon, wenn er das Glück hat, einen Job zu finden, im besten Fall von 700 Euro im Monat leben, wenn er in Irland oder Deutschland locker das Doppelte bis Dreifache für die gleiche Arbeit haben kann?

Ein Outing zu Ostern

Mima Simić ist nur zufällig in Zagreb. Die meiste Zeit lebt sie in Berlin. Heute trifft sie sich im Café des Kinos mit zwei Freundinnen. Simić ist Film­kritikerin, Übersetzerin und Aktivistin. Und sie kandidiert bei der diesjährigen EU-Wahl. Als Teil eines Dreier­bündnisses aus Grünen, Linken und Aktivisten steht sie auf einem Ticket der Možemo!, der «We can»-Bewegung, die derjenigen der spanischen Bürger­bewegung Podemos gleicht.

«Für die kroatische LGBT-Bewegung hat der EU-Beitritt einiges gebracht»: Mima Simić.

Mit einem Einzug ins EU-Parlament rechnet sie nicht. Brüssel ist zu weit weg, zu abstrakt. Die Leute hier machen sich keine Gedanken zu Europa, zu sehr sind sie in ihrer eigenen Geschichte gefangen. Die EU-Wahl soll nur ein Testlauf werden für die Wahlen in Kroatien 2020. Mal sehen, was überhaupt geht in einem Land, das von der nationalkonservativen HDZ regiert wird, die in den vergangenen Jahren ihre Schwer­punkte ganz klar definiert hat: Familie, Kirche und Vaterland.

Seit 2016 steht Andrej Plenković der Regierung vor, ein moderater Konservativer und Brüssel-Freund, der vorsichtig zwischen den nationalistischen Flügeln seiner Partei navigiert. «Die Leute haben genug von Berufs­politikern. Sie beginnen uns Aktivisten zu vertrauen, weil sie sehen, dass wir seit Jahren unsere Arbeit machen, und das ohne Lohn», sagt Mima Simić.

Breitbeinig sitzt die 43-Jährige mit den kurzen schwarzen Haaren auf dem Couch­sessel. Sie spricht schnell und gestikuliert viel. Weder die Gäste noch das Personal schenken ihr besondere Beachtung. Dabei ist Simić eine Berühmtheit. «Ich bin die bekannteste Lesbe Kroatiens», sagt sie und lacht. Vor sieben Jahren hat sich die Tochter einer Psychiaterin und eines Physikprofessors im Fernsehen geoutet. Und das ausgerechnet am heiligsten Feiertag ihrer katholischen Lands­leute, zu Ostern. In der Show «Wer wird Millionär?» hat sie nebenbei erwähnt, dass sie mit ihrer Freundin zusammenlebt. Mehr wollte sie nicht sagen. Ganz normal, in einem Nebensatz, kein tränenreicher Seelen­striptease, wie es die Klatsch­blätter erwartet hätten. Ein paar Jahre später heiratete sie ihre Partnerin in Las Vegas. Die Fotos kamen aufs Cover des grössten kroatischen Frauenmagazins «Gloria».

«Für die kroatische LGBT-Bewegung hat der EU-Beitritt einiges gebracht. Selbst die homophobsten Politiker können ihre Homophobie nicht mehr so offen zeigen, weil das nicht goutiert wird», sagt sie. «Jetzt sind wir ja Teil der EU. Jetzt sind wir zivilisiert.»

Das Gesetz der Pistole, des Messers und der Lüge

Zivilisiert, das sind sie, die Kroaten. Davon ist Joža überzeugt. Die Verrückten, die Wilden, die sind alle auf dem Balkan. Aber der beginnt erst südlich von Zagreb, südlich des Flusses Save. Dort herrsche nur ein Gesetz: das der Pistole, des Messers und der Lüge. Joža lacht. Es ist ein tiefes Lachen. Gerne kokettiert er mit Klischees. Er darf das. Er komme ja schliesslich von da, meint er. Seit vierzig Jahren arbeitet Josip, den seine jungen Kollegen nur bei seinem Spitz­namen Joža nennen, im Kino Europa. 70 Jahre alt ist er, er hat Probleme mit dem Rücken, balanciert seinen runden Körper ganz vorsichtig zur Arbeit, ein Bein vor das andere. Jeden Abend steht Joža hier im Kino parat und kontrolliert die Tickets.

«Die Wilden leben auf dem Balkan, südlich von Zagreb»: Joža kokettiert gerne mit Klischees.

Manchmal schnauzt er auch den einen oder anderen Gast an, gerne die frajle, die Fräuleins, die Tussen mit ihren durchgedrückten Rücken und den spitzen Schuhen, wenn sie vor ihm stehen und auch einen Sitz für ihre Taschen reklamieren, egal wie voll es im Kino ist.

Traumata begegnet man im Slalom

Derzeit läuft das russische Film­festival. Die russische Botschaft hat es organisiert und verteilt Freikarten. Viel Kitsch, viel Action, viel Patriotisches wird gezeigt. Der Andrang ist gross. Sobald die Kasse um 15 Uhr öffnet, stehen die Ersten Schlange.

Joža hat sich «Anna Karenina» angeschaut. Hunderte Filme hat er im Kino Europa schon gesehen. Den ersten mit 12 Jahren, den Zeichentrickfilm «Schneewittchen» von Walt Disney. Damals sah das Kino ganz anders aus.

Er zeigt auf den kleinen Müller-Saal, benannt nach den Brüdern Alfred und Leo Müller, Film­liebhaber aus der jüdischen Industriellen­familie Müller, die den Bau des Kinos finanziert haben. 1941 wurden die Brüder im Konzentrations­lager Jasenovac, 95 Kilometer von Zagreb entfernt, ermordet. Nichts deutet im Kino auf ihre Geschichte hin. Man hält sich an das ungeschriebene Gesetz im Land: bloss keine alten Wunden aufreissen. Traumata begegnet man im Slalom, alles andere wäre nur masochistisch.

Seidenkrawatte und Plastiksack

Da, wo heute der Müller-Saal ist mit den 41 bunt zusammen­gewürfelten Stühlen, die den Saal aussehen lassen, als handle es sich um einen Versuchs­raum für Scientology-Experimente, stand ein Brunnen mit einer Aphrodite-Statue. Hier haben die Besucher gewartet. Die Filme wurden dann im Haupt­saal gezeigt, imperial sieht er aus mit dem Stuck an der Decke und den tausend roten Samt­sitzen, deren Zahl inzwischen auf die Hälfte reduziert wurde.

Herausgeputzt waren die Damen und Herren damals. Noch heute erweisen viele ältere Besucher dieser Zeit ihre Reverenz. Sie kommen in Seiden­krawatten, Kostümen und Anzügen zu jeder Vorstellung, so wie damals, als es noch etwas Besonderes war, mit den Eltern ins Kino zu gehen. Sie fallen nicht auf, genauso wenig wie die Gross­familien, die im Saal­eingang entspannt ihre mitgebrachten Doritos mampfen.

Oder wie die älteren Herren mit den fahlen Wangen und den Plastik­säcken der Supermarkt­kette Konzum in der Hand. Sie gehen an die Bar des Cafés, holen sich still ein Glas Wasser und setzen sich hin, wo gerade Platz ist. Gelegentlich schummelt sie Joža auch in den Kino­saal, für ein paar Stunden können sie sich dort ausruhen, sich wärmen. Keiner scheucht sie weg. Keiner mustert sie von oben bis unten. Keiner schaut argwöhnisch, wie sie mit den schmutzigen Fingern den Code der Toilette eingeben. 2566#.

Auch sie sind Gäste in diesem E-U-R-O-P-A.

Trotz aller Ordnung.
Trotz aller Professionalität.
Trotz aller Regeln.

Zum Kino

Das Kino Europa ist im Besitz der Stadt Zagreb und wird seit 2008 vom Zagreb Film Festival betrieben. Im Juni läuft die zehnjährige Konzession des Managements für das Kino aus. Die Stadt plant, einen neuen Betreiber einzusetzen, was Anfang April zu Protesten geführt hat.

Café Europa

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