Die Rettung vor der Gefühlsduselei
Wiens Café Europa nimmt dich immer so auf, wie du bist, zu jeder Zeit, sagen seine Gäste. So sollte Europa doch auch sein. Oder? Serie «Café Europa», Folge 1.
Von Solmaz Khorsand (Text und Bilder), 14.05.2019
Für ein paar Sekunden kann jedes Kind die Welt anhalten. In Wien braucht es dafür nur ein Wort: Leo. Es ist nicht der Name eines Jungen. Es ist ein Ausruf, den man beim Fangenspielen seinem Verfolger entgegenquietscht. Ganz laut, am liebsten zwei- oder dreimal. Dann hält man sich an einer Person, einem Stuhl oder einem Baum fest, und schon ist man in Sicherheit. So schnell kann Asyl gehen. Selbstbestimmt, unkompliziert und effizient.
Ist dort, wo Europa draufsteht, auch Europa drin? Die Reporterinnen Solmaz Khorsand und Michael Kuratli haben Lokale aufgesucht, Cafés, Restaurants, Imbisse und Kinos, die «Europa» heissen – wie der Kontinent. Sie zeigen ihn in seiner Vielfalt. Und gelegentlich in seiner Einfalt. Willkommen in den Cafés Europa dieses Kontinents. Entscheiden Sie selbst, ob Sie weiterziehen oder verweilen wollen.
Im Alter wird das schwieriger. Man kann noch so laut «Leo» brüllen, sich noch so fest an einen Gegenstand oder eine Person klammern, eine Atempause kriegt man deswegen noch lange nicht. Die Welt dreht sich genauso schnell weiter.
Ausser an einem Ort. In der Zollergasse 8, im siebten Wiener Gemeindebezirk. Hier, in einer Seitengasse der Einkaufsmeile Mariahilferstrasse, mitten im gentrifiziertesten Bezirk der Stadt, liegt zwischen Holzspielzeuggeschäften und Baumwollponchoboutiquen das Café Europa, das Leo der Erwachsenen. Man muss nicht einmal danach brüllen. Es gilt automatisch, sobald man die Türschwelle überschreitet, jeden Tag bis fünf Uhr morgens, sieben Tage die Woche.
Seit 1983 trifft sich Wiens Boheme im «Europa». Filmschaffende, Musikerinnen, Künstler, Aktivistinnen und alles, was der Tag und vor allem die Nacht hineinspült.
Zugezogene aus der Provinz wagen in diesen Räumen ihre ersten Schritte in der urbanen Mondänität. Untertags sitzen sie bemüht gelassen allein in einer Ecke am Eingang, im Nichtraucherbereich, mit einem Buch als Schutzschild, wie sie es sich aus Filmen über emanzipierte Frauen und melancholische Künstler abgeschaut haben. Nur mehr gelegentlich verrät der musternde Blick, den sie jedem Eintretenden im Lokal zuwerfen, ihre ländliche Herkunft.
Denn gestarrt wird hier nicht. Nicht auf die blonde Schauspielerin aus der Vorabendserie, die es sich mit einem Kollegen an einem der Stammtische im hinteren Teil des Lokals gemütlich gemacht hat, die Muslimin im weissen Kopftuch, die sich hinter der Glasscheibe im Rauchsalon eine Zigarette gönnt, oder den Herrn am Tresen, der so entspannt mitten im hippsten aller hippen Bezirke an der Bar sitzt, dass es ihm vollkommen egal ist, dass sein Hüftgold aus der Hose rutscht, und der lieber seit Stunden sein Spiegelbild hinter der Bar fixiert, anstatt seiner Umgebung die geringste Beachtung zu schenken.
Das Leo der Welt
Im «Europa» hat jeder seine Ruhe. Im «Europa» ist jeder so normal oder komisch, wie der nächste neben ihm. «Das ‹Europa› nimmt dich immer so auf, wie du bist, zu jeder Zeit, so sollte Europa doch auch sein?», sagt ein junger Mann, bevor er sich wieder seiner Zigarette und seiner Gesprächspartnerin widmet.
Tut es das? Nimmt dich Europa so, wie du bist? Ist Europa das Leo der Welt?
Theresa Bergthaler rümpft die Nase. Hätte, sagt sie. 2015 hätte es so sein können, damals, als die Flüchtlinge kamen. «Die EU hat massiv versagt. Sie hätte Zusammenhalt beweisen müssen, aber einige Länder haben sich quergestellt», sagt sie. Gemeinsam mit ihrer Studienkollegin, Isabella Andreev, hat es sich die 20-Jährige im hinteren Teil des Cafés bequem gemacht. Mit Laptop, Wasserflaschen und Aschenbecher büffeln sie im Schlabberpulli und mit Dutt für ihre anstehenden Prüfungen. Am Vormittag ist das «Europa» ein idealer Ort dafür. Besser als jede Bibliothek. «Noch ein Verlängerter, bitte», ruft Bergthaler dem Kellner zu, bevor sie sich weiter über dieses gespaltene Europa aufregen kann.
Als die Flüchtlinge vor vier Jahren kamen – die Studentinnen korrigieren sich, sobald sie Worte wie «Ansturm» oder «Krise» in diesem Zusammenhang verwenden –, haben sie geholfen, Deutsch unterrichtet und so ihren Beitrag als angehende Sozialarbeiterinnen geleistet.
Und die EU? Die hat dichtgemacht.
Dabei war Europa, die EU, für Isabella Andreev nie dieses kalte Wirtschaftsprojekt, bei dem es um Handel, ökonomische Interessen und eine gemeinsame Währung ging, sondern eine Wertegemeinschaft. Und entgegen der Analyse von Historikern und Politikerinnen über ihre Generation ist die Europäische Union für sie als 19-Jährige immer noch vor allem eines: ein Friedensprojekt. «Aber es entwickelt sich mehr in eine rechte Richtung. Österreich ist ja das Paradebeispiel. Was sich hier abspielt, spielt sich in ganz Europa ab», sagt Andreev. «Das macht mir Angst.»
Seit Dezember 2018 regiert in Österreich der rechtskonservative Politiker Sebastian Kurz von der Österreichischen Volkspartei, ÖVP, gemeinsam mit den Rechtspopulisten der Freiheitlichen, der FPÖ.
Im ersten Regierungsjahr ist viel passiert: eine Razzia im österreichischen Verfassungsschutz, angeführt von einer Polizeieinheit unter der Leitung eines FPÖ-Politikers, wobei auch Datensätze der Abteilungsleiterin für (Rechts)Extremismusbekämpfung beschlagnahmt wurden; die Reform der Mindestsicherung, womit soziale Leistungen an das Deutsch-Niveau der Antragsteller gekoppelt sind; und ein sehr lautes Nachdenken über die Abschaffung der Rundfunkgebühren. Lieber würde die Regierung die öffentlich-rechtlichen Sender aus dem Staatsbudget finanzieren.
In der Bevölkerung sorgt das kaum für Unmut. Die Umfragen bescheinigen dem Bundeskanzler und seiner Partei Traumwerte. Würde heute gewählt, würden Kurz und die ÖVP noch mehr Stimmen holen als bei der vergangenen Nationalratswahl.
Andreev und Bergthaler hingegen wissen gar nicht, wogegen sie zuerst protestieren sollen. Kollektiv tun sie es, jeden Donnerstag auf der Strasse. Dann marschieren sie mit Gleichgesinnten durch Wien, um gegen die Regierung zu demonstrieren. «Kurz ist auf dem Spielfeld und schiesst schon die Tore, und alle anderen Parteien sind noch nicht einmal im Stadion. So fühlt es sich gerade an», zitiert Andreev einen Politologen. Es frustriert sie.
Zusammenraufen solle sich die Opposition, einen Kompromiss finden, damit die anderen nicht einfach so weitermachen können, damit die anderen nicht noch mehr kaputt machen.
Weder in Österreich noch in Europa.
Überblick bewahren
Europa ist viel zu gross für Winfrid Klein. Zu gross, um Rückschlüsse zu ziehen auf sein kleines Wien. «Österreich überblicke ich noch in seiner Dummheit, aber Europa?», sagt der 75-Jährige. Er seufzt. Jeden Tag kommt Winfrid Klein ins Café Europa, stellt sich an die Bar am Eingang, bestellt ein Bier und eine Suppe. Morgens frühstücken hier die Jungfamilien, zu Mittag die Laptop-Zombies aus dem Quartier, die Grafiker und Architektinnen, am Abend die Erstsemester, die ihre frisch gewonnene Nonchalance ausführen und des Nachts die Stammgäste, die aus allen Bezirken der Stadt antanzen, weil sie wissen, hier bekommen sie selbst um 4 Uhr morgens noch Knödel mit Ei und eine Frittatensuppe.
Früher kam Klein abends, nun immer mittags. Gewohnheiten ändern sich. Am Vormittag war er schon im anderen «Europa», dem am Stephansplatz, unmittelbar beim Dom, mit den vielen Touristen und den Kaiser-Franz-Joseph-Bildern an der Wand, «fürchterlich», aber gut, für einen Kaffee hat es ihm gereicht. Für seine Suppe spaziert er dann doch lieber weiter, dort, wo seinesgleichen, die Künstler, zu Hause sind. In der engen schwarzen Lederhose, dem dunkelgrauen Jackett und dem weissen Bart, den er seit 40 Jahren nicht mehr geschnitten hat, sieht er aus wie Gandalf aus Tolkiens «Herr der Ringe», der seinen Zauberstab an den Nagel gehängt hat, um ihn gegen eine E-Gitarre zu tauschen.
Als Klein anfing, das Café Europa zu besuchen, hat niemand auf den Namen des Cafés geachtet. Keiner sprach über dieses Europa, was es kann, was es soll, in welche Richtung dieser Kontinent geht, wer darin das Sagen hat und ob er sich gegen die Amerikaner, Russen und Chinesen wird behaupten können. Österreich war noch nicht einmal Mitglied der EU, das kam erst 1995.
Heute ist Europa Thema. Winfrid Klein braucht nur auf den Stapel Zeitungen zu schauen, die vor ihm liegen: Brexit, Orbán und wieder Brexit.
«Ich begreife meine Existenz nicht global. Ich versuche, den Überblick hier zu bewahren», wiederholt er. Aber er hat schon bemerkt, dass es en vogue geworden ist, sich voller Inbrunst als Europäer zu definieren. Für ihn gibt es zwei Arten, sich Europa zu nähern, rational und emotional. Rational ist es viel zu komplex. Emotional ist es einfacher: «Emotional ist es die Rettung von diesem Heimatbegriff. Man kann sich verorten, ohne in diese Gefühlsduselei des eigenen Schrebergartens zu kommen.»
Das Europa der Rechtsextremen
Europa als Heimat. Das war lange Zeit angesagt unter jenen, die ihre Existenz breiter, grösser und globaler definieren wollten, als es der Reisepass vorsah. Ihr Europa war ein offenes, ein tolerantes, ein solidarisches. Doch längst haben auch andere Europa für sich entdeckt. Ihr Europa ist ein genetisch, kulturell, religiös und sprachlich klar definiertes, eines der homogenen Gesellschaften, in denen die Söhne und Töchter von Araberinnen, Chinesen oder Nigerianern nichts verloren haben. Es ist das Europa der Rechtsextremen.
«Die Nationalismen werden an eine andere Grenze geschoben. Jetzt ist es halt die Europa-Aussengrenze», sagt Aaron Friesz. «Es ist absurd.»
Friesz, 30, blonde Locken, stechend blaue Augen, ist Schauspieler. Derzeit dreht er in Prag an einer neuen Netflix-Serie über Sigmund Freud. Einen Nazi spielt er darin. Ausgerechnet er, der linke Schauspieler mit dem Vornamen Aaron. Er lächelt matt. An diesem Sonntagabend sitzt er im Raucherteil auf der olivengrünen Sitzecke, dort, wo immer zwei Tische reserviert sind für die Stammgäste – und die Familie. Aaron Friesz betreibt das «Europa», gemeinsam mit seinem Vater, Andreas, einem ehemaligen Fernsehregisseur. Vor 36 Jahren hat dieser das Café in der Zollergasse eröffnet.
Hier ist sein Sohn aufgewachsen, hat zwischen den Tischen gespielt und bis spätnachts die rauchenden Gäste beobachtet. Am liebsten war ihm der Zauberer, der jedes Wochenende kam und Karten an die Decke des Lokals fliegen liess. 15 Jahre lang hingen sie dann dort, bis das Lokal renoviert wurde.
Früher hat sich alles im «Europa» getroffen. Die Kunst, die Kultur, die Politik, die Prostitution und die Kriminalität, erzählt Friesz.
Alle haben sich hier wohlgefühlt. Alle links der Mitte. Heute fühlen sich noch viele mehr wohl im Café Europa. Zum Unbehagen seines Patrons. Erst jüngst hat Friesz auf der Facebook-Seite des Lokals ein Foto gelöscht, auf dem ein paar Gäste – unbemerkt vom Personal – den Arm zum Hitlergruss gehoben haben, während sie ihre Burger verdrückten. Friesz hat kein Interesse an dieser Klientel. Trotzdem: «Es kommt hier alles zusammen. Auch die schweigende Mehrheit, von der uns nicht klar ist, dass sie auch hier ist», sagt er. «Aber auch das ist Europa. Wir sind schon alle da.»
Italiens Probleme sind meine Probleme
Friesz hat eine klare Vorstellung von Europa. Ein zentralistisches Europa will er, nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten, eines, in dem Premierminister und Präsidenten nicht mehr zu sagen haben als heute Lokalpolitiker und Bürgermeister. «Sich als Europäer zu verstehen, soll bedeuten, in einem Vielvölkerstaat zu leben. Das soll heissen, dass die Grenzprobleme der Italiener, die Arbeitslosenrate in Spanien oder die Kriminalisierung von Obdachlosen in Ungarn auch meine Probleme sind», sagt er.
Europäer zu sein, bedeutet für ihn Verantwortung. 2015 fuhr Friesz mit einem Laster des Lokals und ein paar Freunden an die Grenze zwischen Slowenien und Kroatien. Vier Tage bandagierte er dort gestrandete Flüchtlinge, die das letzte Mal in der Türkei einen Arzt gesehen hatten. In diesen vier Tagen hat er zum ersten Mal an diesem Europa gezweifelt, an dieser Idee einer Wertegemeinschaft, die alles anpacken kann, wenn sie nur will.
Damals, auf diesem Grenzstreifen, wollte sie nicht.
Egal, wie laut jemand «Leo» geschrien hat.