Gemeindebau als Kunstwerk: «Beat House Donaustadt» von Anna Witt. Elodie Grethen

Der Herzschlag der Peripherie

Die Kunstwelt ist eine abgeschirmte Blase. Um sie zu öffnen, verlegten die Wiener Festwochen ihren Start heuer in den 22. Gemeinde­bezirk Donaustadt mit seiner jungen und schnell wachsenden Bevölkerung. Ein Experiment mit gemischtem Erfolg.

Von Karin Cerny, 15.05.2019

Kagran lautet der Name der U-Bahn-Station, in der es laut Plan auszusteigen gilt. Zuvor hat man die Donau­insel überquert, das grosse Naherholungs­gebiet, das von den Wienerinnen und Wienern im Sommer ausgiebig zum Baden genutzt wird, und ist an dem imposanten Gebäude der Uno-City vorbeigefahren – man hat die Stadt also von ihrer ländlich-idyllischen, aber auch ihrer urban-architektonischen Seite leuchten sehen. In Kagran folgt die Ernüchterung: Auf der einen Seite des Ausgangs steht ein typisches Einkaufs­zentrum und auf der anderen eine riesige Eishockey­arena. Die Attraktionen halten sich in Grenzen. Wahrscheinlich sind viele der Angereisten, die gerade etwas ratlos ihren Weg zum Alfred-Klinkan-Hof suchen, zum ersten Mal hier gelandet, obwohl sie schon ewig in Wien leben.

Die Wiener Festwochen – eines der grössten und finanziell am besten ausgestatteten Theater­festivals Europas – starteten ihr Programm am vergangenen Samstag nicht an traditionsreichen und zentral gelegenen Spiel­orten wie dem Museums­quartier, dem Theater an der Wien oder dem Volks­theater. Sie gingen in die Peripherie, um den Herz­schlag ihrer Bewohner erfahrbar zu machen.

Klangkulisse Wohnblock

Die bildende Künstlerin Anna Witt, 1981 in Bayern geboren, schon länger in Wien ansässig, liess bei ihrem Projekt «Beat House Donaustadt» einen ganzen Wohn­block wummern: Mittels eines mobilen Ultraschall­geräts wurden Herz­schläge aufgezeichnet. Um 16 Uhr sollten sich die Fenster der Wohnungen öffnen, wer wollte, konnte seine individuellen Herztöne in die Welt senden. Was sonst verboten ist, war diesmal erwünscht: Die Stereo­anlage wurde auf volle Lautstärke gedreht für dieses Heartbeat-Konzert. Sobald der erste Ton erschallte, flüchteten die Tauben. Der grüne Innenhof, in dem sich die Festwochen-Besucher versammelt hatten, wurde zur beeindruckenden Klang­kulisse. Es hörte sich eher wie ein Schrammen oder ein Scheppern an, wie einfahrende Züge. Das Herz ist ein irritierendes Instrument, das weniger harmonisch tönt, als man vermuten würde.

Die hippen Festwochenbesucher bleiben lieber draussen: Heartbeat-Konzert im Hof des Gemeindebaus.Elodie Grethen

Keine Frage, Witt hat sich ein starkes, poetisches Bild ausgedacht. In der Praxis aber blieb das Projekt zwiespältig: Man sah auf den ersten Blick, wer hier wohnte und wer nur zu Gast war. Die sozialen Szenen durchmischten sich nicht. Die hippen Festwochen­gäste filmten mit ihren Handys die Wohn­anlage, die eher zurückhaltenden Bewohner filmten aus ihren Fenstern zurück. Manche versteckten sich demonstrativ hinter den Vorhängen. Und man versteht auch, warum: Wie reagierte man selbst, wenn das eigene Wohnhaus plötzlich zum Kunstwerk erklärt würde? Wenn man angestarrt würde von Menschen, die sich sonst nie hierherverirren?

Die Situation war ein wenig wie im Zoo. Zwei fremde Welten beobachteten einander wie hinter Glas, ohne miteinander zu interagieren. Die Kunst­welt blieb in ihrer Blase, die Gemeindebau-Bewohner verliessen ihre Wohnungen nicht. Einer beschallte als Protest den Hof kurz mit einem Song, der fast zu perfekt passte: Falcos «Vienna Calling» unterbrach die Herztöne. Nach zwanzig Minuten zog die Kunstmeute wieder ab, im Gemeinde­bau kehrte der Alltag ein – ganz ohne neugierig gaffende Hipster und Bobos.

Exkurs I: Der Gemeindebau als Wiener Unikat

Dabei ist der Gemeinde­bau ohnehin nicht sonderlich exotisch. Er ist so wienerisch wie der Heurige, das Schnitzel und die Donau. Die Stadt besitzt und verwaltet mehr als 2300 Gemeinde­bauten mit über 500’000 Bewohnern. Das ist Rekord im kommunal geförderten Wohnbau – und ein Unikat. Nirgendwo sonst verfügt eine Stadt über so viele Wohnungen, Wien ist der grösste Immobilien­besitzer Europas. Rund 31 Prozent der Mieterinnen und Mieter leben in einem Gemeinde­bau, weitere 26 Prozent in geförderten Genossenschaftswohnungen.

Den Anfang nahm dieses einzigartige soziale Wohn­projekt in den 1920er-Jahren im sogenannten Roten Wien, als die Sozialdemokratische Arbeiter­partei Österreichs (SPÖ) von 1918 bis 1934 die absolute Mehrheit erreichte und eine umfassende Sozial- und Gesundheits­politik startete, auch den Wohnbau betreffend. Ziel war es, die verheerende Lage der Arbeiter zu verbessern. Jetzt feiert das Rote Wien sein 100-Jahr-Jubiläum – im Wien Museum gibt es eine umfangreiche Ausstellung dazu, die auch an den Widerstands­geist erinnert, der von den Gemeinde­bauten einst ausging. Der Karl-Marx-Hof im 19. Bezirk, auch für Touristen ein beliebtes Ziel, war im Austro­faschismus heiss umkämpft, man stellte sich der Diktatur­regierung von Engelbert Dollfuss mit Waffen entgegen.

Der Gemeindebau ist ein Stück sozialpolitisches Wien, das mittlerweile erneut im Fokus der politischen Parteien steht. Waren Gemeindebau-Wähler früher automatisch eher links, verzeichnete die rechte FPÖ in den vergangenen Jahren einen Gewinn in diesen Biotopen: 2010 holte die SPÖ in ihren historischen Bastionen noch 60 Prozent der Stimmen, 2015 verlor sie die Mehrheit an die Freiheitlichen. Laut einer Befragung wählten vor drei Jahren 42 Prozent rot und 47 Prozent blau.

Gemeinnützige Wohnprojekte im Roten Wien: die Baugruppe für Gas-, Wasser- und Elektroanlagen vor dem Karl-Marx-Hof, ca. 1929. Wien Museum

Wie ein Mikro­kosmos illustriert der Gemeinde­bau die Gesellschaft in ihrer Breite: das Auseinander­driften in politische Lager, die Ressentiments gegen Ausländer, den Rechts­ruck. Insofern macht es durchaus Sinn für ein Kunst­festival, an diesen symbolisch aufgeladenen Ort zu gehen. Zumal gerade im Bezirk Donau­stadt, den die Fest­wochen gewählt haben, neue Stadt­areale wie Pilze aus dem Boden schiessen. Wo vor einigen Jahren noch Wiesen und Brachland waren, entstehen gerade moderne Wohn­viertel. Die Donaustadt-Bewohner sind deutlich jünger als der Durchschnitt Wiens.

Exkurs II: Die Festwochen als Brückenbauer

Die Versorgung der Aussen­bezirke mit Kunst und Kultur ist gerade für die SPÖ eine zentrale Frage. Die Sozialisten glauben an die kritische, aber auch brücken­schlagende Kraft der Kunst. Österreich inszeniert sich gerne als Kultur­nation – auch, um geschickt reale Probleme zu überdecken. Das zeigt sich zum Beispiel anhand der Geschichte der Fest­wochen, die mittlerweile jedes Jahr zwischen Mitte Mai und Mitte Juni stattfinden.

Seit 1927 wurde das Festival in losen Abständen abgehalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollten die Fest­wochen ein politisches Signal in die Welt senden: Österreich präsentierte sich nach den Verheerungen des National­sozialismus erneut als friedliebende Kultur­nation. Von Aufarbeitung des National­sozialismus keine Rede. Man knüpfte nahtlos an die Zeit vor dem NS-Staat an, so, als sei nichts passiert: Kunst und Kultur sollten helfen, den angeschlagenen Ruf des Landes zu rehabilitieren.

Auch nach innen ging es darum, alle in ein gemeinsames Boot zu holen. In den 1950er-Jahren wurde das schönste Schau­fenster der Stadt im Rahmen der Fest­wochen prämiert – sie wollten ein Fest für die Gesamtheit der Wienerinnen und Wiener sein. Ein seltsamer Wurm­fortsatz davon ist bis heute das offizielle Eröffnungs­fest am Rathaus­platz mit Gratis­konzerten: ein Freiluft­auftakt, bevor es mit dem eigentlichen – künstlerischen – Programm losgeht. Tausende Menschen strömen herbei, die vom Rest des durchaus elitären Festivals wenig mitbekommen. Mit diesem schwierigen Spagat muss jeder neue Intendant, jede Intendantin ringen: alle Bewohner einzubinden und gleichzeitig Kunst auf höchstem Niveau darzubieten.

Der Belgier Christophe Slagmuylder, der heuer sein erstes Festwochen-Programm vorlegt, hat ein schwieriges Erbe zu verwalten. Sein Vorgänger Tomas Zierhofer-Kin war nach medialer Kritik und katastrophalen Verkaufs­zahlen im Vorjahr wohl nicht ganz freiwillig zurückgetreten. Das Vertrauen der älteren Festival­stammgäste ist erschüttert, der Auftrag, ein neues, junges Publikum anzusprechen, steht im Raum. Slagmuylder, der zuvor das renommierte Kunsten­festivaldesarts in Brüssel geleitet hat, gilt als Experte für sparten­übergreifende Kunst, die auch im öffentlichen Raum stattfindet.

Beginn einer wunderbaren Freundschaft?

Umso mehr verwundert, wie lieblos die Eröffnung in der Donau­stadt ablief. Nach dem Gemeindebau-Konzert ging es in die riesige Sport­arena, wo der Eislauf­platz gratis zur Verfügung stand – eine schöne Idee, aber von den Anrainern wurde sie kaum genutzt. Die fünfstündige argentinische Performance «Diamante» von Mariano Pensotti erwies sich als typische Festival­produktion, die mit viel Aufwand ein gesamtes Dschungel-Dorf mit einzelnen Stationen nachgebaut hatte, aber weder schauspielerisch noch mit ihren pseudo­poetischen Texten überzeugte. In einem Projekt der belgischen Künstlerin Ula Sickle wurde ebenfalls fünf Stunden lang eine schwarze Fahne geschwenkt – eine Arbeit, in die man politisch jede Menge hinein­interpretieren konnte, die real aber schnell langweilte. Und in einem alten Ritual, das in Marokko üblich ist, beschallte ein Chor aus schreienden Frauen, die ihre Köpfe wild vor- und zurückwarfen, den öffentlichen Platz – ohne Kontext wirkte das als Ethnokitsch.

Fünf Stunden Fahnen schwenken: «Relay» von Ula Sickle. Elodie Grethen
Schreiende Frauen als Chor: «Undercurrents» von Sarah Vanhee. Inés Bacher

Das grundsätzliche Problem: Gezeigt wurde Kunst aus aller Welt, die bis auf den Herzschlag-Event wenig bis gar nichts mit der Donau­stadt zu tun hatte. Von den Bewohnern im Bezirk verirrte sich kaum einer in die hehre Kunst­veranstaltung. Zur Halbzeit ging das warme Essen aus, die anschliessende Party blieb trotz tollen feministischen DJ-Kollektiven – wohl auch aufgrund des Regens – eher spärlich besucht. Leute, die erst später zum Feiern kamen, berichteten, sie hätten den Weg in der Dunkelheit nur schwer gefunden: Die Location wurde ungenügend ausgeschildert. Nach dem Wochen­ende war der Spuk ohnehin vorbei. Für die Menschen im 22. Bezirk werden die Fest­wochen weitgehend ohne Folgen bleiben.

Das ganze Dilemma, aber auch das Potenzial der Kunst­vermittlung in Rand­bezirken zeigte sich bereits bei den Eröffnungs­reden. Ernst Nevrivy, der sympathisch hemdsärmelige Bezirks­vorsteher der Donaustadt, wirkte wie eine Figur der beliebten TV-Serie «Kaisermühlen­blues» aus den 90er-Jahren, die pointiert das Leben im Gemeinde­bau schilderte. Ein Politiker mit Schmäh, wie es ihn wahrscheinlich nur in Wien gibt: Auf der Website der Stadt präsentiert er sich im Anzug mit roter Krawatte und roten Socken lässig in einer Hänge­matte, während er telefoniert. Ein Mann, mit dem man gern beim Heurigen versumpert, wie man in Österreich sagt.

Vom Beginn einer wunderbaren Freundschaft mit den Fest­wochen war die Rede. Der schmächtige Festwochen-Intendant, in einen teuren Margiela-Designer­anzug gekleidet, versuchte den Namen Nevrivy richtig auszusprechen. Nevrivy mühte sich mit Slagmuylder ab. Die Lacher waren auf ihrer Seite. Kein schlechter Start. Es wird sich in den kommenden Jahren weisen, ob und wie es weitergeht mit der Kunst jenseits des Zentrums. Sie darf auf jeden Fall ein wenig nachhaltiger sein als in diesem Jahr.

Zum Festival

Die Wiener Festwochen dauern vom 10. Mai bis zum 16. Juni. Alle Informationen finden Sie hier.

Zur Autorin

Karin Cerny lebt in Wien. Sie schreibt regelmässig über Theater, Literatur und Kultur­politik im Wochen­magazin «Profil» sowie Reise- und Modegeschichten für «Rondo», die Beilage der Tages­zeitung «Der Standard». Für die Republik schrieb sie über eine Ausstellung von Wes Anderson und Juman Malouf, das Wiener Burgtheater als komplizierte Institution, die Wiener Ausstellungen «Stadt der Frauen» und «Flying High».