Auf lange Sicht

Die europäischen Parteien im Zeitraffer

Wie haben sich Europas Parteien und ihre Einstellung zur Europäischen Union über die letzten fünfzehn Jahre entwickelt? Eine Analyse vor den anstehenden Wahlen.

Von Mark Dittli (Text) und Thomas Preusse (Grafik), 13.05.2019

Die EU-Wahlen stehen bevor. Erstmals seit langem zeichnet sich dabei eine gesamteuropäische Debatte über die Zukunft der Union ab: Rechtsaussen­parteien wie Italiens Lega, Ungarns Fidesz oder die FPÖ in Österreich suchen Formen eines christlich-nationalen Schulter­schlusses, während Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Notwendig­keit einer «europäischen Renaissance» im Geist der Aufklärung verkündet.

In den europäischen Parlaments­wahlen steckt also so viel Zündstoff wie schon lange nicht mehr. Doch wie kam es zu dieser Konstellation?

Im Rückblick auf die letzten fünfzehn Jahre lässt sich der Clash der Parteien und politischen Strömungen als Reaktion auf die grossen Krisen deuten, die Europa in dieser Zeit geprägt haben: die Finanzkrise (2008), die Eurokrise (2012/13) und die Flüchtlings­krise (2015). Sie haben die Parteien­landschaft entscheidend geprägt, wie eine Daten­analyse der vergangenen zwei Jahrzehnte aufzeigt.

Kaleidoskop der Veränderungen

Unsere Datenbasis stammt von der University of North Carolina. Es handelt sich um die Langzeit­studie des Chapel Hill's Center for European Studies. Ungefähr alle vier Jahre publiziert das Institut eine Umfrage, die Chapel Hill Expert Survey, für die mehrere hundert europäische Politik­wissenschaftler über die ideologische Ausrichtung der rund 250 politischen Parteien in den EU-Mitglieds­ländern sowie in einigen weiteren europäischen Staaten wie der Schweiz befragt werden.

Aus der Kombination der Survey-Berichte aus den Jahren 2002, 2006, 2010, 2014 und 2017 ergibt sich ein Kaleidoskop der Veränderungen in der Parteien­landschaft und der Positionierung der Parteien in Bezug auf die EU.

Diese Positionierung haben wir anhand zweier Achsen dargestellt:

  • Die horizontale Achse zeigt die ideologische Positionierung der Partei, von «extrem links» (0) bis «extrem rechts» (10).

  • Die vertikale Achse zeigt die Position der Partei gegenüber der Europäischen Union, von «stark anti-EU» (1) bis «stark pro-EU» (7).

Eine Partei im oberen linken Quadranten der folgenden Grafik ist also eine Linkspartei mit einer Pro-EU-Position. Eine Partei im rechten unteren Quadranten ist eine Anti-EU-Rechtspartei.

Die Farbe der Kreise steht für die Familien­zugehörigkeit der Partei, und die Grösse des Kreises schliesslich bildet die Anzahl Stimmen ab, die die Partei in den jeweils letzten nationalen Wahlen in ihrem Land gewonnen hat.

Berühren Sie die Kreise, um die Parteinamen anzuzeigen:

Ausblick

Die Grafik macht sichtbar, wie sich die Positionierung und Stärke der Parteien bei nationalen Wahlen in den letzten fünfzehn Jahren verändert hat. Lässt man die gesamte Zeit noch einmal Revue passieren, so drängen sich drei Feststellungen auf:

  1. Die grossen, gemässigten Zentrums­parteien links und rechts der Mitte haben in zahlreichen Ländern signifikant an Bedeutung verloren respektive haben sich von der Mitte wegbewegt.

  2. Nahmen anfangs nur kleine Randparteien an den extremen Polen des politischen Spektrums eine gegenüber der EU ablehnende Haltung ein, so ist dieser Anteil über die Zeit kontinuierlich gewachsen. 2014, im Nachgang der Eurokrise, positionierten sich deutlich mehr und vor allem auch grössere Parteien mit einem Anti-EU-Programm.

  3. Im Vergleich zu 2002 präsentiert sich die Parteien­landschaft deutlich heterogener. Die Anzahl Parteien hat zugenommen, das ideologische Spektrum zwischen Links und Rechts hat sich verbreitert, zwischen pro- und anti-EU sind alle Schattierungen vertreten.

Die Ausgangslage vor den kommenden EU-Wahlen ist damit so spannend wie selten zuvor in der Geschichte der Europäischen Union. In den Umfragen dazu deutet sich an, dass die nationalen Trends auch auf der europäischen Ebene anhalten werden: Die grosse Koalition der Mitte dürfte geschwächt, das Rechtsaussen­lager gestärkt aus dem Urnengang hervorgehen.

Ob die Euroskepsis damit ihren Höhepunkt erreicht hat oder ob die Zersplitterung der Parteien in den nächsten vier Jahren nochmals zunimmt, bleibt abzuwarten. Für die gewählten Parlamentarier dürfte es jedenfalls nicht leichter werden, gemeinsam Euro-Politik zu machen.

Die Daten

Sie stammen von der Chapel Hill Expert Survey (politische Positionen) und von ParlGov (Wahlresultate und Basisdaten wie Namen und politische Familie). In der Grafik sind folgende Länder für den ganzen Zeitraum ab 2002 enthalten: Belgien, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Spanien, Frankreich, Irland, Italien, die Niederlande, Grossbritannien, Portugal, Österreich, Finnland, Schweden, Bulgarien, die Tschechische Republik, Ungarn, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien. Für die Schweiz liegen ab 2010 Daten vor. Estland, Norwegen, Kroatien und die Türkei wurden für die Grafik weggelassen. Die Daten von 2017 basieren auf einem Mix aus der Flash Survey von 2017 und der regulären Umfrage von 2014.

Die zwei Datensets wurden teilweise mittels «Party Facts» verbunden. Die Farben der politischen Familien basieren auf «Swiss Party Colors» von SRF Data.

Was verändert sich auf die lange Sicht?

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