Abgehoben: Evo Morales auf den Schultern seiner Anhänger, vor seiner Wahl zu Boliviens Präsident im Dezember 2005. Kathryn Cook/Agence VU/Keystone

Wird Bolivien das nächste Venezuela?

Präsident Evo Morales hat einen guten Ruf – im Ausland. Längst ist er dabei, Bolivien zur Autokratie umzubauen.

Von Michael Ebmeyer und Rery Maldonado, 11.05.2019

Evo ist überall. An den Mauern, die hier flächen­deckend bemalt und beschriftet sind, an beleuchteten Plakat­masten im ganzen Land und als Namens­patron der Kunst­rasen­fussball­plätze, mit denen er so gut wie jedes Dorf Boliviens beglückt hat. «Evo, sí!» – «Gracias, Evo!» – «Wer, wenn nicht Evo?»

Evo hebt ab, Tag für Tag. Seine Freude am Herumfliegen ist so bekannt wie die Recht­fertigung, nur auf dem Luftweg könne er die Brüder und Schwestern im gesamten Staats­gebiet, vom Altiplano bis zum Amazonas, mit seinen Visiten beehren. Im Jahr vierzehn seiner Präsidentschaft pendelt Evo Morales mit dem Helikopter auch gerne zwischen seiner Residenz und dem wenige Flug­minuten entfernten Regierungs­sitz an der Plaza Murillo in La Paz hin und her: drei- bis sechsmal an einem normalen Arbeitstag, wie die Zeitung «Los Tiempos» ermittelt hat.

Und er will immer weiter fliegen. Am 20. Oktober stehen Wahlen in Bolivien an, Morales wünscht sich ein viertes Mandat. Er ist schliesslich nicht mehr wegzudenken, findet er zumindest selbst.

Auch wir in Europa sollten genauer beobachten, was im nach wie vor ärmsten Land Südamerikas gerade passiert. Denn die Warnungen aus der Opposition, Bolivien könnte ein zweites Venezuela werden, sind leider nicht aus der Luft gegriffen.

Zurück in den Schlagzeilen

Dass Lateinamerika in letzter Zeit so vehement zurück in unsere Nachrichten drängt, zeigt vor allem, wie gründlich es daraus verschwunden war. Wie es über Jahre bloss ab und zu ein Schlag­licht abbekam – wenn nach einem Gruben­unglück die Eingeschlossenen aus 700 Metern Tiefe gerettet wurden; wenn ein Drogen­krieg oder eine Wirtschafts­krise eskalierte; wenn sich die Fifa in Brasilien abfeierte; wenn Hugo Chávez bei einem Gipfel auf den Putz haute; oder wenn Fidel Castro starb. Seit der seltsam unpolitischen Kuba-Schwärmerei nach dem Film «Buena Vista Social Club» schien Latein­amerika diesseits des Atlantiks nur noch Rucksack­touristinnen näher zu interessieren.

Nun ist es zurück in den Schlag­zeilen. Wegen der zähen Katastrophe in Venezuela. Und weil in Brasilien ein Rechts­extremist regiert – nicht wie früher nach einem Militär­putsch, sondern demokratisch gewählt. Wenn Jair Bolsonaro sich mit Donald Trump verbrüdert, schaut die halbe Welt zu, fasziniert oder fassungslos. Beim venezolanischen Macht­kampf will der ganze Globus mitmischen.

Geld, Gold, Geopolitik – wer hat welche Interessen in Venezuela?

Ob es einen friedlichen Regierungswechsel in Venezuela gibt, hängt nicht nur von den dortigen Politikern ab. Sechs Staaten mischen im aktuellen Machtkampf kräftig mit. Eine Übersicht.

Und jäh wird uns klar, was für ein potenziell brand­gefährliches Panorama sich auf dem Subkontinent entfaltet hat: eine ganze Reihe von Staats­chefs mit autokratischen Anwandlungen; neoliberale Dogmen im Wettstreit mit angeblichen Sozialismen des 21. Jahrhunderts; dazu der laute Interventionismus der USA und der leisere Interventionismus Chinas; die ungeregelte Gier der Konzerne; rasende Natur­zerstörung im Namen eines «Rechts auf Fort­schritt» (eine Lieblings­floskel von Bolsonaro wie von Morales).

Um aber zu verstehen, wohin Evo entschwebt und weshalb mit Bolivien abermals ein Land auf der Kippe zur Diktatur steht, dessen Präsident sein Amt als linke Lichtgestalt antrat, ist der beste Ausgangs­punkt ein winziges Hochlanddorf.

Das Evo-Museum

Im Osten des Altiplano, in 3800 Metern Höhe, etwa auf halbem Weg zwischen den Städten Oruro und Uyuni, liegt an einem Hang die Ortschaft Orinoca. Die Land­schaft ist von herber Schönheit. Teils wellt sie sich zu Sanddünen, mit zähen Gras­büscheln übersät, teils tauchen die Quinoa­felder sie im südlichen Herbst in warme Gelb- und Rottöne. Rötlich färbt die Erde auch die Wasser­löcher, an denen sich Schafe und Alpakas tummeln.

Am Rand des Dorfes, in einer Hütte aus Lehm­ziegeln, wurde Evo Morales geboren. Deshalb befindet sich unweit der Hütte heute eine Gedenk­tafel auf gemauerter Stele, und deshalb steht am höchsten Punkt Orinocas seit 2017 das «Museum der demokratischen und kulturellen Revolution». Als Hommage an die Symbol­tiere der traditionellen Sippen­gemeinschaften dieser Gegend ist der Bau in die Sektionen Puma, Lama und Gürteltier unterteilt. Er gilt als das grösste und modernste Museum Boliviens.

Personenkult: Eine Statue des Präsidenten im «Museum der demokratischen und kulturellen Revolution» in Orinoca, Evo Morales’ Geburtsort. Marcelo Perez Del Carpio/Anadolu Agency/Getty Images

Theoretisch erfüllt es eine höchst wichtige Funktion: Das Museum erzählt die Geschichte des Landes aus der Perspektive seiner indigenen Bevölkerung. Hier geben nicht die Nachfahren der spanischen Eroberer den Ton an, sondern die mehr als zwei Drittel der Bevölkerung, die Aymara oder Quechua sind oder einer anderen der 36 offiziell anerkannten Ethnien im Staat angehören. Die Ausstellung ist auf Spanisch und Aymara betextet.

Zwei grosse Haken hat das Museum allerdings.

Der erste: Fast niemand kommt. Die Institution am Geburtsort des Präsidenten anzusiedeln, mag als ehrenwerte Massnahme zur Belebung des ländlichen Raums erscheinen. Doch um den Tourismus wirklich zu fördern, fehlt elementare Infra­struktur. Zwar wurde auch Orinoca mit einem Kunstrasen­bolzplatz beschenkt, aber bis heute hat das Dorf keine einzige gepflasterte Strasse. Zum Museum führt eine steile Kraterpiste, bei Regen kaum befahrbar.

Die Besucher sind am ehesten Studenten­gruppen. Sie erhalten, weil es im Ort weder Hotels noch Restaurants gibt, vorab eine Liste von Privat­leuten, die Unterkunft und Essen anbieten. Meist bleiben die fast 11’000 Quadrat­meter Ausstellungs­fläche menschenleer. Auf die Aussichts­plattform vor dem Bau zieht sich die Dorf­jugend zurück, wenn sie ungestört sein will. Zwei Jahre nach der Eröffnung lösen sich die Klebe­lettern der Raumtexte ab. Von den Video­installationen in der Gürteltier-Sektion läuft keine einzige mehr.

Der andere Haken wird am Ende des ersten Ausstellungs­blocks – Puma – offenkundig. Bis zu diesem Punkt bietet das Museum eine solide und anregend präsentierte Einführung in die Vorgeschichte und Geschichte Boliviens. Deren Abschluss bildet das Kapitel «Von Tupac Katari bis Evo Morales». Eine Zeitleiste, einsetzend mit dem «grossen Indio-Aufstand» von 1781, läuft auf Morales’ Wahl zum Präsidenten hinaus: der Amts­inhaber als Fluchtpunkt und Krönung des indigenen Kampfs um Selbst­bestimmung und Gleichberechtigung.

Den angrenzenden Raum füllen Jugend­fotos von Evo, dazu Gemälde und Skulpturen, die ihn und seine Eltern darstellen, und in der Mitte eine Rund­vitrine mit seinen Kinder­schuhen, seinem ersten Fussball, seiner Trompete. Ein weiterer Saal zeigt auf Wandbreite seine Inthronisierung als Inka. Im zweiten Teilgebäude – Lama – sind Geschenke ausgestellt, die der Präsident im Amt erhalten hat, darunter eine Sammlung seiner Fussballtrikots.

Wer dort angekommen ist, wird sich vor lauter Evo-Kult an die Exponate zur bolivianischen Geschichte in der ersten Sektion kaum noch erinnern. Entsprechend ungehalten reagieren weite Teile der bolivianischen Öffentlichkeit auf den Bau. «Viel von dem, was in den letzten dreizehn Jahren getan wurde, geht ins Groteske. Dazu zählt dieses lächerliche Museum», sagt Ana Rebeca Prada, Literatur­professorin in La Paz.

Prada betont, sie sehe sich nicht als politische Aktivistin, doch sie zählt in der Debatte um Morales zu den vernehmlichsten Intellektuellen im Land. Das Museum in Orinoca sieht sie als Symbol für den Verlauf seiner Präsidentschaft. «Heute hängt die bolivianische Demokratie an einem Seiden­faden», warnt Prada. Aber auch sie bekennt: «2005 habe ich Evo gewählt.»

Der Antipolitiker als Autokrat?

Wie viel Hoffnung hatte damals sein Wahlsieg geweckt. Endlich ein indígena als Präsident, ein ehemaliger Coca­bauer, der statt Anzug lieber den traditionellen Strick­pulli und einen Poncho trug. Die Welt schloss diesen Antipolitiker, der so rührend weise von der «Mutter Erde» reden konnte, spontan ins Herz. Manchen Europäerinnen fiel bei seinem Anblick sogar ein, dass sie doch einmal echtes Interesse an Latein­amerika gehabt hatten.

Vor allem in ihrer ersten Amtszeit krempelte die Regierung Morales das Land um. Höhepunkt war eine Verfassungs­änderung, mit der die Republik zum Estado Plurinacional de Bolivia wurde, zum Plurinationalen Staat Bolivien, in Würdigung der ethnischen Vielfalt.

Protest auf dem höchsten Berg Boliviens: Evo Morales am schneebedeckten Sajama (Gipfel: 6542 Meter über Meer). Der Fussballweltverband Fifa verbietet offizielle Spiele auf mehr als 3000 Metern Höhe, was Bolivien als Wettbewerbsnachteil empfindet. Dado Galdieri/AP/Keystone

Movimiento al Socialismo (MAS) heisst Evos Partei: «Bewegung zum Sozialismus». Ihre frühen Kampagnen zur Alphabetisierung, zur Armuts­bekämpfung und zur Emanzipation der indígenas schienen eine solche Bewegung zum Sozialismus tatsächlich einzuläuten; desgleichen die Verstaatlichung der Erdöl- und der Gasindustrie, die den Einfluss der weissen Oligarchie zurückstutzte. Und auch kleinere visionäre Projekte wie der Bau des teleférico, eines Seilbahn-Linien­netzes, um den öffentlichen Nahverkehr im zerklüfteten La Paz zu entlasten, zeugten von einem Land auf einem eigenwilligen und vielversprechenden Weg in die Zukunft.

Hätte sich Evo Morales mit den verfassungs­gemäss erlaubten zwei Amtszeiten als Präsident begnügt, wäre er heute ein National­held. Ein «Pluri­nationalheld» sogar. Und Bolivien könnte ein Modell für die Nachbar­staaten sein. Aber Evo begnügte sich nicht.

Seine Kandidatur für eine dritte Amtszeit rechtfertigte er damit, dass es erst die zweite unter der neuen Verfassung sei. Die Opposition tobte, wiedergewählt wurde er dennoch. Zu Tränen gerührt wohnte er der Eröffnung seines Museums bei. Es häuften sich die Anzeichen, dass der Präsident mittlerweile in eigenen Sphären schwebte. So liess er sich mit Mitte fünfzig allen Ernstes von einem Erstliga­fussball­verein unter Vertrag nehmen – Rücken­nummer 10, Ehrensache.

Nun hofft er also auf ein viertes Mandat. Um abermals antreten zu können, wollte er den Verfassungs­artikel, der das Regieren auf zwei Legislaturen beschränkt, per Referendum streichen lassen. Diesmal spielten die Wählerinnen nicht mehr mit, Evo verlor die Volks­abstimmung. Da ihm das nicht passte, rief er den obersten Gerichtshof an, und der befand – inzwischen mehrheitlich mit MAS-nahen Richterinnen besetzt – sowohl das Referendum als auch alle in der Verfassung festgelegten Amtszeit­begrenzungen für ungültig.

Vom Reformer zum Bewahrer

Ein entzauberter Evo Morales stellt sich im Herbst zur Wiederwahl. Längst ist der Reform­eifer seiner Regierung dahin. Dem Kabinett gehört nur noch ein einziger indigener Minister an. Proteste der kleinen «Nationen» werden immer wieder mit Polizei­gewalt aufgelöst – zuletzt in diesem Frühjahr, als die Regierung, einmal mehr im Verstoss gegen ihre eigenen Umwelt­gesetze, Ölbohrungen im Natur­schutzgebiet von Tariquía an der argentinischen Grenze durchsetzte.

Beteuerungen, Bolivien bleibe frei von genmanipuliertem Saatgut, sind ebenso Makulatur wie die Zusicherung, einheimische Firmen würden das begehrte Lithium heben. Stattdessen verscherbelte die Regierung die Förder­rechte im Salzsee von Uyuni Ende 2018 an das deutsche Unternehmen ACISA. Unlängst sickerte durch, dass ACISA dem Staat Bolivien für siebzig Jahre Schürf­lizenz nicht einmal eine Million Dollar zahlt. Und die letzten Jaguare werden für die «traditionelle chinesische Medizin» erlegt.

«Von Morales’ progressiver Agenda ist nichts mehr übrig», resümiert der Politologe Diego Ayo, berühmt für die Hartnäckigkeit, mit der er Mauscheleien der MAS-Regierung aufdeckt. Und Ana Rebeca Prada sagt: «Was als Sozialismus proklamiert wurde, schwenkte bald auf einen autoritären Populismus um, der die Gewalten­teilung und die Justiz aushöhlt.»

Der urige Evo als Autokrat? In Europa mögen wir ob dieses Perspektiven­wechsels die Augen reiben, in Bolivien ist er schon lange vollzogen. Ayo greift zum Bild einer zehnstufigen Treppe – oben die «vollständige Demokratie», unten ein totalitäres System: «Bis 2013 standen wir etwa auf Stufe acht. 2014 tritt Evo verfassungs­widrig wieder zur Wahl an, und wir steigen auf die sieben ab. Mit dem Referendum, das ein schlechter Witz ist, landen wir auf der sechs, mit der Manipulation des obersten Gerichts auf der fünf, mit der Manipulation des Wahl­tribunals auf der vier.»

Besonders wütend darüber sind jene, die einst die grössten Hoffnungen in Morales setzten: die indígenas. Vor allem die «Nationen» der tierras bajas (des Amazonas­beckens, des Chaco und der Anden­täler) fühlen sich verraten und verkauft, seit ihre Lebens­räume durch gigantische – vor allem den Kokain­schmuggel begünstigende – Strassen­bau­projekte zerschnitten oder mit der Parole «Mutter Erde bietet uns ihre Ressourcen dar» (O-Ton Morales, März 2019) den Konzernen zum Plündern überlassen werden.

Die indigenen Völker wehren sich zunehmend gegen Grossprojekte, hier gegen einen Autobahnbau (Oktober 2011). Dolores Ochoa/AP/Keystone

Wir sprechen mit Humberto Quino, den manches mit Evo Morales eint. Auch Quino ist Aymara, auch er stammt aus armen Verhältnissen und hat Grosses erreicht; allerdings nicht als Politiker, sondern als einer der angesehensten Dichter Boliviens. Aus seinem kleinen Bungalow im Stadtteil Llojeta in La Paz hat er eine sagenumwobene Privat­bibliothek gemacht. Kein Stück Wand im Haus, an dem sich nicht die antiquarischen Schätze reihen. Doch weil die Politik in Bolivien dieser Tage nie fern ist, bricht es mitten im Gespräch über Bücher aus dem Lyriker heraus: «Ich müsste für Evo sein. Ich ähnele ihm sogar, wunderbar. Aber der Mann regiert das Land, als würde er immer noch eine Gewerkschaft leiten. Bolzplatz hier, Bolzplatz da, er ist ein Hohlkopf.»

Wer, wenn nicht Evo?

Ob Hohlkopf oder nicht, Morales und seine MAS haben ihre Amtsjahre genutzt, um sich so breit wie möglich zu machen. Das hat Tradition. «Die Oligarchie in Bolivien ist wie eine Kapsel», sagt der Politologe Ayo: «Es gab Versuche, sie zu zerschlagen, die aber jedes Mal darauf hinausliefen, dass die Revolutionäre dann selbst mit in der Kapsel sassen.»

Und so sitzen dort heute auch die organisierten Coca­bauern und Minen­arbeiter, die Evo an die Macht brachten – während die MAS, wiederum in Ayos Worten, «zu einer konservativen Partei geworden ist, die den Status quo festschreiben will».

Wie weit wird sie dabei gehen? Morales’ Hoffnung, sich durch einen Coup bei den Wählern zu rehabilitieren, hat sich zerschlagen. Per Klage vor dem Internationalen Gerichtshof wollte er den Zugang zum Pazifik zurückerlangen, den Bolivien 1883 im Krieg gegen Chile eingebüsst hatte. Dass sich das offizielle Bolivien mit diesem Verlust bis heute nicht abfinden will, jedes Jahr mit viel Zinnober den «Tag des Meeres» begeht und auch als Binnen­staat weiterhin eine Marine unterhält, hielt die Richter in Den Haag nicht davon ab zu bestätigen, dass keinerlei Anspruch auf eine Rückgabe des Küsten­streifens besteht.

Bei einem demokratischen Urnen­gang im Oktober ist dem MAS ein Sieg alles andere als sicher. Die Umfragen sagen eine Stichwahl zwischen Morales und seinem Herausforderer Carlos Mesa voraus, die Mesa, einer haarsträubenden Rufmord­kampagne der Regierung zum Trotz, klar gewinnen würde.

«Auf keinen Fall wird die MAS verlieren», glaubt jedoch Ana Rebeca Prada. «Sie wird alle Strategien auffahren, bis hin zum dreisten Wahl­betrug. Dass Morales zum vierten Mal antritt, markiert den Beginn einer Diktatur.»

Wird Bolivien also wirklich das nächste Venezuela?

Auch abgesehen davon, dass Evo Morales unermüdlich seine Bündnis­treue zum «Bruder» Nicolás Maduro in Caracas bekräftigt, sind die Parallelen unübersehbar: ein Populist im Präsidenten­amt; eine nur noch von der Rhetorik her linke Regierung, die das unabhängige Rechts­system im Staat weitgehend ausser Kraft gesetzt hat; eine Partei, die Armee und Polizei durch allerhand Vergünstigungen an sich bindet.

Hinzu kommt – darauf weist uns der venezolanische Journalist Héctor Torres hin, der als Mitinitiator des Reportage­portals «La vida de nos» seit Jahren die Agonie seines Landes dokumentiert – eine zweite Entwicklungs­linie, die den «Fall Venezuela» ausmacht: ein offizieller Diskurs des Anti­imperialismus, der sich aber nur gegen das eine Imperium, die USA, richtet. Während sich die Regierung dem anderen, dem leiseren Imperium, hemmungslos andient.

Verscherbelt ans Ausland: Die Förderung von Lithium (wie hier im Salar de Uyuni im Südwesten des Landes) sollte der bolivianischen Wirtschaft zugutekommen, doch mittlerweile profitiert vor allem China stark von entsprechenden Abkommen. Javier Arcenillas/LUZ/Keystone

Tatsächlich scheint auch in Bolivien die «Partnerschaft» mit China grenzenlos zu sein. Bauprojekte, Export­verträge, weitere Abkommen zur Lithium­förderung: kaum ein staatliches Gross­vorhaben ohne chinesische Beteiligung. Noch besteht nicht dieselbe Abhängigkeit wie in Venezuela, das seine Erdöl­reserven an China verpfändet. Allerdings stiegen die bolivianischen Auslands­schulden laut Wirtschafts­ministerium zuletzt auf über 10 Milliarden Dollar an. Das ist weniger als ein Sechzehntel der Schulden der Schweiz und weniger als ein Fünfzigstel von denen Deutschlands. Doch bei sinkenden Rohstoff­preisen wären schon 10 Milliarden für Bolivien nicht mehr handhabbar. Zudem häufen sich die Warnungen vor einem immer maroderen Zustand der Strom­netze und der Wasser­versorgung. Bereits jetzt liegen immer wieder ganze Distrikte von La Paz stundenlang im Dunkeln oder sitzen auf dem Trockenen.

Diktatur als Pointe?

Die hoch politisierte Bevölkerung behilft sich einstweilen mit bitterem Humor, vor allem in Gestalt von Memes im Internet. Auf eins davon wollen wir hier noch kurz eingehen. Im Februar 2019 verteilte die staatliche Flughafen­betreiber­gesellschaft Aasana zur Präsentation eines Jahres­berichts Mappen mit dem allgegenwärtigen Konterfei Evo Morales’. Erst Wochen später fiel auf, dass das Logo nicht, wie sonst, mit «Präsident», sondern mit «Diktator des pluri­nationalen Staates Bolivien» beschriftet war. Nun drohen dem Grafiker bis zu drei Jahre Haft, der Direktor der Aasana musste zurücktreten – und es stellte sich heraus, dass dasselbe «Diktator»-Logo als Wasser­zeichen auch ein Briefpapier der MAS-Jugend­organisation ziert. Das Netz lacht sich kaputt, lässt das Logo in unzähligen Variationen kreisen. Und vielleicht ist es für die Rettung der Demokratie nicht das schlechteste Zeichen, wenn die Möchtegern-Autokraten sich selbst zum Gespött machen.

Fürs Erste aber spitzt sich die Lage zu. Die kommenden Monate werden zeigen, ob die bolivianische Opposition – und vor allem die pluri­nationale Zivil­gesellschaft – den abgehobenen Evo und seine MAS auf dem Weg in die Autokratie noch stoppen kann.

Der Venezolaner Héctor Torres zumindest sieht die Zukunft Boliviens etwas weniger pessimistisch als unsere bolivianischen Gesprächs­partner. Seine Hoffnung ist allerdings eng an das weitere Schicksal seines eigenen Landes geknüpft: «Ich glaube, sobald Maduro in Venezuela stürzt, wird Morales isoliert dastehen, ohne die Möglichkeit, seinen autokratischen Traum zu verwirklichen. Dann muss er sich den demokratischen Kräften seines Landes beugen.»

Und was, wenn diese Allianz der Ex-Linken im Oktober immer noch hält? So oder so – wir sollten Latein­amerika nicht wieder aus dem Blick verlieren.

Zu den Autoren

Rery Maldonado, geboren 1976 in Tarija, Bolivien, lebt als freie Autorin und Übersetzerin in La Paz. Von 2014 bis 2018 war sie Redaktorin (editora regional für Bolivien und Paraguay) bei der Zeitschrift «América Economía». Zwischen 2009 und 2013 leitete sie zusammen mit Nikola Richter «Los Super­demokraticos», ein Pilotprojekt zum intellektuellen Fair Trade zwischen Latein­amerika und Deutschland.

Michael Ebmeyer, Jahrgang 1973, lebt als freier Autor und Übersetzer in Berlin. Er schrieb unter anderem die Romane «Der Neuling» (verfilmt als «Ausgerechnet Sibirien») und «Landungen» (über deutsche Argentinien-Auswanderer) sowie das Sachbuch «Gebrauchs­anweisung für Katalonien». Als Journalist befasst er sich schwer­punkt­mässig mit Latein­amerika, Katalonien und mit den Propaganda­strategien der Neuen Rechten.

Zur Transparenz

In einer bolivianischen Presse­meldung hiess es Mitte März, die Vice­presidencia, also ein Organ der Regierung Morales, habe Michael Ebmeyers Bolivien­aufenthalt gesponsert. Das ist falsch. Zu Ebmeyers Veranstaltungen in La Paz zählte ein Vortrag über «neurechte» Strömungen in Europa, den er am 12. März auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung hielt und für den die Vice­presidencia den Rahmen ihrer Vortrags­reihe «Seminario internacional» zur Verfügung stellte. Ebmeyer erhielt aber von der Vice­presidencia weder ein Honorar noch eine sonstige Förderung seiner Reise.