Wird Bolivien das nächste Venezuela?
Präsident Evo Morales hat einen guten Ruf – im Ausland. Längst ist er dabei, Bolivien zur Autokratie umzubauen.
Von Michael Ebmeyer und Rery Maldonado, 11.05.2019
Evo ist überall. An den Mauern, die hier flächendeckend bemalt und beschriftet sind, an beleuchteten Plakatmasten im ganzen Land und als Namenspatron der Kunstrasenfussballplätze, mit denen er so gut wie jedes Dorf Boliviens beglückt hat. «Evo, sí!» – «Gracias, Evo!» – «Wer, wenn nicht Evo?»
Evo hebt ab, Tag für Tag. Seine Freude am Herumfliegen ist so bekannt wie die Rechtfertigung, nur auf dem Luftweg könne er die Brüder und Schwestern im gesamten Staatsgebiet, vom Altiplano bis zum Amazonas, mit seinen Visiten beehren. Im Jahr vierzehn seiner Präsidentschaft pendelt Evo Morales mit dem Helikopter auch gerne zwischen seiner Residenz und dem wenige Flugminuten entfernten Regierungssitz an der Plaza Murillo in La Paz hin und her: drei- bis sechsmal an einem normalen Arbeitstag, wie die Zeitung «Los Tiempos» ermittelt hat.
Und er will immer weiter fliegen. Am 20. Oktober stehen Wahlen in Bolivien an, Morales wünscht sich ein viertes Mandat. Er ist schliesslich nicht mehr wegzudenken, findet er zumindest selbst.
Auch wir in Europa sollten genauer beobachten, was im nach wie vor ärmsten Land Südamerikas gerade passiert. Denn die Warnungen aus der Opposition, Bolivien könnte ein zweites Venezuela werden, sind leider nicht aus der Luft gegriffen.
Zurück in den Schlagzeilen
Dass Lateinamerika in letzter Zeit so vehement zurück in unsere Nachrichten drängt, zeigt vor allem, wie gründlich es daraus verschwunden war. Wie es über Jahre bloss ab und zu ein Schlaglicht abbekam – wenn nach einem Grubenunglück die Eingeschlossenen aus 700 Metern Tiefe gerettet wurden; wenn ein Drogenkrieg oder eine Wirtschaftskrise eskalierte; wenn sich die Fifa in Brasilien abfeierte; wenn Hugo Chávez bei einem Gipfel auf den Putz haute; oder wenn Fidel Castro starb. Seit der seltsam unpolitischen Kuba-Schwärmerei nach dem Film «Buena Vista Social Club» schien Lateinamerika diesseits des Atlantiks nur noch Rucksacktouristinnen näher zu interessieren.
Nun ist es zurück in den Schlagzeilen. Wegen der zähen Katastrophe in Venezuela. Und weil in Brasilien ein Rechtsextremist regiert – nicht wie früher nach einem Militärputsch, sondern demokratisch gewählt. Wenn Jair Bolsonaro sich mit Donald Trump verbrüdert, schaut die halbe Welt zu, fasziniert oder fassungslos. Beim venezolanischen Machtkampf will der ganze Globus mitmischen.
Geld, Gold, Geopolitik – wer hat welche Interessen in Venezuela?
Ob es einen friedlichen Regierungswechsel in Venezuela gibt, hängt nicht nur von den dortigen Politikern ab. Sechs Staaten mischen im aktuellen Machtkampf kräftig mit. Eine Übersicht.
Und jäh wird uns klar, was für ein potenziell brandgefährliches Panorama sich auf dem Subkontinent entfaltet hat: eine ganze Reihe von Staatschefs mit autokratischen Anwandlungen; neoliberale Dogmen im Wettstreit mit angeblichen Sozialismen des 21. Jahrhunderts; dazu der laute Interventionismus der USA und der leisere Interventionismus Chinas; die ungeregelte Gier der Konzerne; rasende Naturzerstörung im Namen eines «Rechts auf Fortschritt» (eine Lieblingsfloskel von Bolsonaro wie von Morales).
Um aber zu verstehen, wohin Evo entschwebt und weshalb mit Bolivien abermals ein Land auf der Kippe zur Diktatur steht, dessen Präsident sein Amt als linke Lichtgestalt antrat, ist der beste Ausgangspunkt ein winziges Hochlanddorf.
Das Evo-Museum
Im Osten des Altiplano, in 3800 Metern Höhe, etwa auf halbem Weg zwischen den Städten Oruro und Uyuni, liegt an einem Hang die Ortschaft Orinoca. Die Landschaft ist von herber Schönheit. Teils wellt sie sich zu Sanddünen, mit zähen Grasbüscheln übersät, teils tauchen die Quinoafelder sie im südlichen Herbst in warme Gelb- und Rottöne. Rötlich färbt die Erde auch die Wasserlöcher, an denen sich Schafe und Alpakas tummeln.
Am Rand des Dorfes, in einer Hütte aus Lehmziegeln, wurde Evo Morales geboren. Deshalb befindet sich unweit der Hütte heute eine Gedenktafel auf gemauerter Stele, und deshalb steht am höchsten Punkt Orinocas seit 2017 das «Museum der demokratischen und kulturellen Revolution». Als Hommage an die Symboltiere der traditionellen Sippengemeinschaften dieser Gegend ist der Bau in die Sektionen Puma, Lama und Gürteltier unterteilt. Er gilt als das grösste und modernste Museum Boliviens.
Theoretisch erfüllt es eine höchst wichtige Funktion: Das Museum erzählt die Geschichte des Landes aus der Perspektive seiner indigenen Bevölkerung. Hier geben nicht die Nachfahren der spanischen Eroberer den Ton an, sondern die mehr als zwei Drittel der Bevölkerung, die Aymara oder Quechua sind oder einer anderen der 36 offiziell anerkannten Ethnien im Staat angehören. Die Ausstellung ist auf Spanisch und Aymara betextet.
Zwei grosse Haken hat das Museum allerdings.
Der erste: Fast niemand kommt. Die Institution am Geburtsort des Präsidenten anzusiedeln, mag als ehrenwerte Massnahme zur Belebung des ländlichen Raums erscheinen. Doch um den Tourismus wirklich zu fördern, fehlt elementare Infrastruktur. Zwar wurde auch Orinoca mit einem Kunstrasenbolzplatz beschenkt, aber bis heute hat das Dorf keine einzige gepflasterte Strasse. Zum Museum führt eine steile Kraterpiste, bei Regen kaum befahrbar.
Die Besucher sind am ehesten Studentengruppen. Sie erhalten, weil es im Ort weder Hotels noch Restaurants gibt, vorab eine Liste von Privatleuten, die Unterkunft und Essen anbieten. Meist bleiben die fast 11’000 Quadratmeter Ausstellungsfläche menschenleer. Auf die Aussichtsplattform vor dem Bau zieht sich die Dorfjugend zurück, wenn sie ungestört sein will. Zwei Jahre nach der Eröffnung lösen sich die Klebelettern der Raumtexte ab. Von den Videoinstallationen in der Gürteltier-Sektion läuft keine einzige mehr.
Der andere Haken wird am Ende des ersten Ausstellungsblocks – Puma – offenkundig. Bis zu diesem Punkt bietet das Museum eine solide und anregend präsentierte Einführung in die Vorgeschichte und Geschichte Boliviens. Deren Abschluss bildet das Kapitel «Von Tupac Katari bis Evo Morales». Eine Zeitleiste, einsetzend mit dem «grossen Indio-Aufstand» von 1781, läuft auf Morales’ Wahl zum Präsidenten hinaus: der Amtsinhaber als Fluchtpunkt und Krönung des indigenen Kampfs um Selbstbestimmung und Gleichberechtigung.
Den angrenzenden Raum füllen Jugendfotos von Evo, dazu Gemälde und Skulpturen, die ihn und seine Eltern darstellen, und in der Mitte eine Rundvitrine mit seinen Kinderschuhen, seinem ersten Fussball, seiner Trompete. Ein weiterer Saal zeigt auf Wandbreite seine Inthronisierung als Inka. Im zweiten Teilgebäude – Lama – sind Geschenke ausgestellt, die der Präsident im Amt erhalten hat, darunter eine Sammlung seiner Fussballtrikots.
Wer dort angekommen ist, wird sich vor lauter Evo-Kult an die Exponate zur bolivianischen Geschichte in der ersten Sektion kaum noch erinnern. Entsprechend ungehalten reagieren weite Teile der bolivianischen Öffentlichkeit auf den Bau. «Viel von dem, was in den letzten dreizehn Jahren getan wurde, geht ins Groteske. Dazu zählt dieses lächerliche Museum», sagt Ana Rebeca Prada, Literaturprofessorin in La Paz.
Prada betont, sie sehe sich nicht als politische Aktivistin, doch sie zählt in der Debatte um Morales zu den vernehmlichsten Intellektuellen im Land. Das Museum in Orinoca sieht sie als Symbol für den Verlauf seiner Präsidentschaft. «Heute hängt die bolivianische Demokratie an einem Seidenfaden», warnt Prada. Aber auch sie bekennt: «2005 habe ich Evo gewählt.»
Der Antipolitiker als Autokrat?
Wie viel Hoffnung hatte damals sein Wahlsieg geweckt. Endlich ein indígena als Präsident, ein ehemaliger Cocabauer, der statt Anzug lieber den traditionellen Strickpulli und einen Poncho trug. Die Welt schloss diesen Antipolitiker, der so rührend weise von der «Mutter Erde» reden konnte, spontan ins Herz. Manchen Europäerinnen fiel bei seinem Anblick sogar ein, dass sie doch einmal echtes Interesse an Lateinamerika gehabt hatten.
Vor allem in ihrer ersten Amtszeit krempelte die Regierung Morales das Land um. Höhepunkt war eine Verfassungsänderung, mit der die Republik zum Estado Plurinacional de Bolivia wurde, zum Plurinationalen Staat Bolivien, in Würdigung der ethnischen Vielfalt.
Movimiento al Socialismo (MAS) heisst Evos Partei: «Bewegung zum Sozialismus». Ihre frühen Kampagnen zur Alphabetisierung, zur Armutsbekämpfung und zur Emanzipation der indígenas schienen eine solche Bewegung zum Sozialismus tatsächlich einzuläuten; desgleichen die Verstaatlichung der Erdöl- und der Gasindustrie, die den Einfluss der weissen Oligarchie zurückstutzte. Und auch kleinere visionäre Projekte wie der Bau des teleférico, eines Seilbahn-Liniennetzes, um den öffentlichen Nahverkehr im zerklüfteten La Paz zu entlasten, zeugten von einem Land auf einem eigenwilligen und vielversprechenden Weg in die Zukunft.
Hätte sich Evo Morales mit den verfassungsgemäss erlaubten zwei Amtszeiten als Präsident begnügt, wäre er heute ein Nationalheld. Ein «Plurinationalheld» sogar. Und Bolivien könnte ein Modell für die Nachbarstaaten sein. Aber Evo begnügte sich nicht.
Seine Kandidatur für eine dritte Amtszeit rechtfertigte er damit, dass es erst die zweite unter der neuen Verfassung sei. Die Opposition tobte, wiedergewählt wurde er dennoch. Zu Tränen gerührt wohnte er der Eröffnung seines Museums bei. Es häuften sich die Anzeichen, dass der Präsident mittlerweile in eigenen Sphären schwebte. So liess er sich mit Mitte fünfzig allen Ernstes von einem Erstligafussballverein unter Vertrag nehmen – Rückennummer 10, Ehrensache.
Nun hofft er also auf ein viertes Mandat. Um abermals antreten zu können, wollte er den Verfassungsartikel, der das Regieren auf zwei Legislaturen beschränkt, per Referendum streichen lassen. Diesmal spielten die Wählerinnen nicht mehr mit, Evo verlor die Volksabstimmung. Da ihm das nicht passte, rief er den obersten Gerichtshof an, und der befand – inzwischen mehrheitlich mit MAS-nahen Richterinnen besetzt – sowohl das Referendum als auch alle in der Verfassung festgelegten Amtszeitbegrenzungen für ungültig.
Vom Reformer zum Bewahrer
Ein entzauberter Evo Morales stellt sich im Herbst zur Wiederwahl. Längst ist der Reformeifer seiner Regierung dahin. Dem Kabinett gehört nur noch ein einziger indigener Minister an. Proteste der kleinen «Nationen» werden immer wieder mit Polizeigewalt aufgelöst – zuletzt in diesem Frühjahr, als die Regierung, einmal mehr im Verstoss gegen ihre eigenen Umweltgesetze, Ölbohrungen im Naturschutzgebiet von Tariquía an der argentinischen Grenze durchsetzte.
Beteuerungen, Bolivien bleibe frei von genmanipuliertem Saatgut, sind ebenso Makulatur wie die Zusicherung, einheimische Firmen würden das begehrte Lithium heben. Stattdessen verscherbelte die Regierung die Förderrechte im Salzsee von Uyuni Ende 2018 an das deutsche Unternehmen ACISA. Unlängst sickerte durch, dass ACISA dem Staat Bolivien für siebzig Jahre Schürflizenz nicht einmal eine Million Dollar zahlt. Und die letzten Jaguare werden für die «traditionelle chinesische Medizin» erlegt.
«Von Morales’ progressiver Agenda ist nichts mehr übrig», resümiert der Politologe Diego Ayo, berühmt für die Hartnäckigkeit, mit der er Mauscheleien der MAS-Regierung aufdeckt. Und Ana Rebeca Prada sagt: «Was als Sozialismus proklamiert wurde, schwenkte bald auf einen autoritären Populismus um, der die Gewaltenteilung und die Justiz aushöhlt.»
Der urige Evo als Autokrat? In Europa mögen wir ob dieses Perspektivenwechsels die Augen reiben, in Bolivien ist er schon lange vollzogen. Ayo greift zum Bild einer zehnstufigen Treppe – oben die «vollständige Demokratie», unten ein totalitäres System: «Bis 2013 standen wir etwa auf Stufe acht. 2014 tritt Evo verfassungswidrig wieder zur Wahl an, und wir steigen auf die sieben ab. Mit dem Referendum, das ein schlechter Witz ist, landen wir auf der sechs, mit der Manipulation des obersten Gerichts auf der fünf, mit der Manipulation des Wahltribunals auf der vier.»
Besonders wütend darüber sind jene, die einst die grössten Hoffnungen in Morales setzten: die indígenas. Vor allem die «Nationen» der tierras bajas (des Amazonasbeckens, des Chaco und der Andentäler) fühlen sich verraten und verkauft, seit ihre Lebensräume durch gigantische – vor allem den Kokainschmuggel begünstigende – Strassenbauprojekte zerschnitten oder mit der Parole «Mutter Erde bietet uns ihre Ressourcen dar» (O-Ton Morales, März 2019) den Konzernen zum Plündern überlassen werden.
Wir sprechen mit Humberto Quino, den manches mit Evo Morales eint. Auch Quino ist Aymara, auch er stammt aus armen Verhältnissen und hat Grosses erreicht; allerdings nicht als Politiker, sondern als einer der angesehensten Dichter Boliviens. Aus seinem kleinen Bungalow im Stadtteil Llojeta in La Paz hat er eine sagenumwobene Privatbibliothek gemacht. Kein Stück Wand im Haus, an dem sich nicht die antiquarischen Schätze reihen. Doch weil die Politik in Bolivien dieser Tage nie fern ist, bricht es mitten im Gespräch über Bücher aus dem Lyriker heraus: «Ich müsste für Evo sein. Ich ähnele ihm sogar, wunderbar. Aber der Mann regiert das Land, als würde er immer noch eine Gewerkschaft leiten. Bolzplatz hier, Bolzplatz da, er ist ein Hohlkopf.»
Wer, wenn nicht Evo?
Ob Hohlkopf oder nicht, Morales und seine MAS haben ihre Amtsjahre genutzt, um sich so breit wie möglich zu machen. Das hat Tradition. «Die Oligarchie in Bolivien ist wie eine Kapsel», sagt der Politologe Ayo: «Es gab Versuche, sie zu zerschlagen, die aber jedes Mal darauf hinausliefen, dass die Revolutionäre dann selbst mit in der Kapsel sassen.»
Und so sitzen dort heute auch die organisierten Cocabauern und Minenarbeiter, die Evo an die Macht brachten – während die MAS, wiederum in Ayos Worten, «zu einer konservativen Partei geworden ist, die den Status quo festschreiben will».
Wie weit wird sie dabei gehen? Morales’ Hoffnung, sich durch einen Coup bei den Wählern zu rehabilitieren, hat sich zerschlagen. Per Klage vor dem Internationalen Gerichtshof wollte er den Zugang zum Pazifik zurückerlangen, den Bolivien 1883 im Krieg gegen Chile eingebüsst hatte. Dass sich das offizielle Bolivien mit diesem Verlust bis heute nicht abfinden will, jedes Jahr mit viel Zinnober den «Tag des Meeres» begeht und auch als Binnenstaat weiterhin eine Marine unterhält, hielt die Richter in Den Haag nicht davon ab zu bestätigen, dass keinerlei Anspruch auf eine Rückgabe des Küstenstreifens besteht.
Bei einem demokratischen Urnengang im Oktober ist dem MAS ein Sieg alles andere als sicher. Die Umfragen sagen eine Stichwahl zwischen Morales und seinem Herausforderer Carlos Mesa voraus, die Mesa, einer haarsträubenden Rufmordkampagne der Regierung zum Trotz, klar gewinnen würde.
«Auf keinen Fall wird die MAS verlieren», glaubt jedoch Ana Rebeca Prada. «Sie wird alle Strategien auffahren, bis hin zum dreisten Wahlbetrug. Dass Morales zum vierten Mal antritt, markiert den Beginn einer Diktatur.»
Wird Bolivien also wirklich das nächste Venezuela?
Auch abgesehen davon, dass Evo Morales unermüdlich seine Bündnistreue zum «Bruder» Nicolás Maduro in Caracas bekräftigt, sind die Parallelen unübersehbar: ein Populist im Präsidentenamt; eine nur noch von der Rhetorik her linke Regierung, die das unabhängige Rechtssystem im Staat weitgehend ausser Kraft gesetzt hat; eine Partei, die Armee und Polizei durch allerhand Vergünstigungen an sich bindet.
Hinzu kommt – darauf weist uns der venezolanische Journalist Héctor Torres hin, der als Mitinitiator des Reportageportals «La vida de nos» seit Jahren die Agonie seines Landes dokumentiert – eine zweite Entwicklungslinie, die den «Fall Venezuela» ausmacht: ein offizieller Diskurs des Antiimperialismus, der sich aber nur gegen das eine Imperium, die USA, richtet. Während sich die Regierung dem anderen, dem leiseren Imperium, hemmungslos andient.
Tatsächlich scheint auch in Bolivien die «Partnerschaft» mit China grenzenlos zu sein. Bauprojekte, Exportverträge, weitere Abkommen zur Lithiumförderung: kaum ein staatliches Grossvorhaben ohne chinesische Beteiligung. Noch besteht nicht dieselbe Abhängigkeit wie in Venezuela, das seine Erdölreserven an China verpfändet. Allerdings stiegen die bolivianischen Auslandsschulden laut Wirtschaftsministerium zuletzt auf über 10 Milliarden Dollar an. Das ist weniger als ein Sechzehntel der Schulden der Schweiz und weniger als ein Fünfzigstel von denen Deutschlands. Doch bei sinkenden Rohstoffpreisen wären schon 10 Milliarden für Bolivien nicht mehr handhabbar. Zudem häufen sich die Warnungen vor einem immer maroderen Zustand der Stromnetze und der Wasserversorgung. Bereits jetzt liegen immer wieder ganze Distrikte von La Paz stundenlang im Dunkeln oder sitzen auf dem Trockenen.
Diktatur als Pointe?
Die hoch politisierte Bevölkerung behilft sich einstweilen mit bitterem Humor, vor allem in Gestalt von Memes im Internet. Auf eins davon wollen wir hier noch kurz eingehen. Im Februar 2019 verteilte die staatliche Flughafenbetreibergesellschaft Aasana zur Präsentation eines Jahresberichts Mappen mit dem allgegenwärtigen Konterfei Evo Morales’. Erst Wochen später fiel auf, dass das Logo nicht, wie sonst, mit «Präsident», sondern mit «Diktator des plurinationalen Staates Bolivien» beschriftet war. Nun drohen dem Grafiker bis zu drei Jahre Haft, der Direktor der Aasana musste zurücktreten – und es stellte sich heraus, dass dasselbe «Diktator»-Logo als Wasserzeichen auch ein Briefpapier der MAS-Jugendorganisation ziert. Das Netz lacht sich kaputt, lässt das Logo in unzähligen Variationen kreisen. Und vielleicht ist es für die Rettung der Demokratie nicht das schlechteste Zeichen, wenn die Möchtegern-Autokraten sich selbst zum Gespött machen.
Fürs Erste aber spitzt sich die Lage zu. Die kommenden Monate werden zeigen, ob die bolivianische Opposition – und vor allem die plurinationale Zivilgesellschaft – den abgehobenen Evo und seine MAS auf dem Weg in die Autokratie noch stoppen kann.
Der Venezolaner Héctor Torres zumindest sieht die Zukunft Boliviens etwas weniger pessimistisch als unsere bolivianischen Gesprächspartner. Seine Hoffnung ist allerdings eng an das weitere Schicksal seines eigenen Landes geknüpft: «Ich glaube, sobald Maduro in Venezuela stürzt, wird Morales isoliert dastehen, ohne die Möglichkeit, seinen autokratischen Traum zu verwirklichen. Dann muss er sich den demokratischen Kräften seines Landes beugen.»
Und was, wenn diese Allianz der Ex-Linken im Oktober immer noch hält? So oder so – wir sollten Lateinamerika nicht wieder aus dem Blick verlieren.
Rery Maldonado, geboren 1976 in Tarija, Bolivien, lebt als freie Autorin und Übersetzerin in La Paz. Von 2014 bis 2018 war sie Redaktorin (editora regional für Bolivien und Paraguay) bei der Zeitschrift «América Economía». Zwischen 2009 und 2013 leitete sie zusammen mit Nikola Richter «Los Superdemokraticos», ein Pilotprojekt zum intellektuellen Fair Trade zwischen Lateinamerika und Deutschland.
Michael Ebmeyer, Jahrgang 1973, lebt als freier Autor und Übersetzer in Berlin. Er schrieb unter anderem die Romane «Der Neuling» (verfilmt als «Ausgerechnet Sibirien») und «Landungen» (über deutsche Argentinien-Auswanderer) sowie das Sachbuch «Gebrauchsanweisung für Katalonien». Als Journalist befasst er sich schwerpunktmässig mit Lateinamerika, Katalonien und mit den Propagandastrategien der Neuen Rechten.
In einer bolivianischen Pressemeldung hiess es Mitte März, die Vicepresidencia, also ein Organ der Regierung Morales, habe Michael Ebmeyers Bolivienaufenthalt gesponsert. Das ist falsch. Zu Ebmeyers Veranstaltungen in La Paz zählte ein Vortrag über «neurechte» Strömungen in Europa, den er am 12. März auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung hielt und für den die Vicepresidencia den Rahmen ihrer Vortragsreihe «Seminario internacional» zur Verfügung stellte. Ebmeyer erhielt aber von der Vicepresidencia weder ein Honorar noch eine sonstige Förderung seiner Reise.